Schlüsselwörter

1 Einleitung

Wichtige Themen, die im bekannten Positivismusstreit der 1960er-Jahre verhandelt worden sind, bewegen die deutschsprachige Sozialwissenschaft und Philosophie schon seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts. Das gilt besonders für die Werturteilsproblematik, aber auch für die dann erst gegen Ende der 1920er-Jahre voll entbrannte Debatte über die Wissenssoziologie (Dahms 2018). Darüber hinaus blicken die im Positivismusstreit der 1960er-Jahre aufeinander treffenden Positionen schon auf eine umfangreiche (und wenig bekannte) Vorgeschichte in den 1930er-Jahren zurück, den man als ersten Positivismusstreit bezeichnen könnte, nämlich Diskussionen zwischen Max Horkheimer und Otto Neurath als Wortführer der exilierten Frankfurter Schule einerseits und des emigrierten Wiener Kreises des logischen Positivismus andererseits. Zu diesem ersten Positivismusstreit gibt es nun wiederum einen wichtige Vorgeschichte: Lenins Positivismus-Kritik von 1908, die schon einige Stilmittel der späteren Kontroversen enthält, erschien (erst) 1927 in deutscher Übersetzung und wurde dann auch in der akademischen Linken in Deutschland und Österreich diskutiert.

Die Vorgeschichte des Positivismusstreits der 1960er-Jahre wird im ersten Abschnitt behandelt. Es handelt sich einerseits um die Stellungnahmen von Max Horkheimer, Otto Neurath und (erstaunlicherweise auch und zwar durchaus positiv) von Karl Popper zu Lenins Buch sowie andererseits um eine Zusammenfassung der Argumente, die zwischen Frankfurter Schule und Wiener Kreis in der zweiten Hälfte der 1930er-Jahre des 20. Jahrhunderts ausgetauscht worden sind.

Wenn man diese mit aggressiver Polemik gespickten Kapitel der Vorgeschichte des Positivismusstreits mit den Diskussionen der 1960er-Jahre vergleicht, fällt auf, dass es sich bei letzteren anfangs weder von den Themen und deren Behandlung her noch von den Austragungsmodalitäten her um einen Streit gehandelt hat: Zwischen dem ehemaligen Wiener (und nunmehr an der LSE in London lehrenden) Karl Popper und dem aus dem US-amerikanischen Exil zurückgekehrten Frankfurter Theodor W. Adorno überwogen vielmehr bei weitem die Übereinstimmungen, vor allem hinsichtlich der Ablehnung des Positivismus, aber auch der Mannheimschen Wissenssoziologie, zum Teil sogar hinsichtlich der Werturteilsproblematik. Wie es angesichts dieser Ausgangslage dann dazu kommen konnte, dass Adorno später die Kontroverse – mit gehörigem Zeitverzug – unter dem provokativen Titel „Positivismusstreit“ herausbrachte und in seiner umfangreichen Einleitung zum Band auf die Motive der 1930er-Jahre zurückgriff, ist erklärungsbedürftig. Das kann hier, wo es hauptsächlich um Karl Poppers Beteiligung am Positivismusstreit geht, aber nur skizzenhaft im vierten Abschnitt beschrieben werden. Popper ist der einzige der Beteiligten gewesen, der verschiedentlich auf den Sammelband zurückgekommen ist: Er fühlte sich und seine philosophische Position darin völlig falsch verstanden und nahm sowohl den Titel als auch die lange, parteiische Einleitung Adornos zum Sammelband als Provokation auf. Der Beitrag schließt im fünften Abschnitt mit einem Blick auf die Folgen, die der Positivismusstreit für das intellektuelle und auch das politische Leben der Bundesrepublik gehabt hat.

Der Artikel basiert hauptsächlich auf früheren Arbeiten des Verfassers (Dahms 1994, 1997, 2012). Einen Überblick auf die inzwischen erschienene Sekundärliteratur wie insbesondere Schmid (1993) und Ritsert (2010) enthält Mobius (2018). Seit der Jahrtausendwende sind zwei Autobiografien (Dahrendorf 2002; Albert 2007) sowie Biografien von Habermas (Müller-Doohm 2014) und Dahrendorf (Meifort 2017), den überlebenden Teilnehmern bzw. dem Organisator des Positivismusstreits, erschienen. Auch der Briefwechsel zwischen Albert und Popper (2005) enthält wichtige Hinweise. Sobald auch der bisher nur sehr rudimentär überlieferte Briefwechsel Adorno/Popper erschlossen sein wird, dürften die wichtigsten Quellen zugänglich sein, um ein einigermaßen vollständiges Bild des Positivismusstreits zeichnen zu können.

2 Die Vorgeschichte des Positivismusstreits

2.1 Lenins Positivismuskritik und ihre Aufnahme in der deutschsprachigen akademischen Linken während der 1920er-Jahre

Eine Darstellung der Kontroversen über den Positivismus im 20. Jahrhundert muss mit der Leninschen Positivismus-Kritik beginnen. Denn der russische Revolutionär hat Muster für den Inhalt und Ton jener politisierten Debatten geliefert, die dann von der Frankfurter Schule von seiner Polemik gegen den Machschen Neopositivismus auf den logischen Positivismus des Wiener Kreises übertragen wurde. Lenins philosophisches Hauptwerk Materialismus und Empiriokritizismus war 1908 in seinem Züricher Exil als ein theoretischer Beitrag zum ideologischen Kampf innerhalb der russischen Sozialdemokratie entstanden, und zwar sowohl zwischen dem menschewistischen und dem bolschewistischen Flügel als auch innerhalb des bolschewistischen Flügels. Lenins Hauptidee dabei war, dass die Ideen und Theorien des von ihm so genannten „idealistischen“ Empiriokritizismus Ernst Machs und Richard Avenarius’ geeignet seien, die materialistische Theorie von Marx und Engels zu unterminieren und damit den Kampf der Arbeiterklasse zu schwächen. Dieses Werk Lenins hat wegen der Sprachschwierigkeiten bei der Lektüre außerhalb Russlands (bzw. später: der Sowjetunion) zunächst kein großes Aufsehen erregt. Das änderte sich aber, als es – mit knapp 20-jähriger Verspätung (und sogar erst nach Lenins Tod im Jahre 1924, so dass dieser nicht mehr auf seine Rezeption reagieren konnte) – 1927 dann doch noch in deutscher Übersetzung erschien. In der akademischen Welt blieb das Werk weitgehend ignoriert, wurde aber in den Kreisen politisch interessierter und engagierter Wissenschaftler und Philosophen doch gelesen und diskutiert und vor allem auch ernst genommen. Zu diesen Kreisen gehörten u. a. die sozialdemokratisch gesinnten Philosophen Ernst Driesch (Leipzig) und Paul Linke (Jena).

Was aber in unserem Zusammenhang wichtiger ist: Dazu gehörten, wie man aus damals jeweils nicht publizierten Texten ersehen kann, auch Max Horkheimer (1928/29) und Otto Neurath (1930, 1931), die Protagonisten des ersten Positivismusstreits, dem der dreißiger Jahre. Wenn man Horkheimers und Neuraths Auseinandersetzung mit Lenin vergleicht, sieht man, dass beide in dieselbe Richtung gehen: nämlich Lenins Kritik an den Mach-Anhängern in Russland und im deutschsprachigen Raum recht zu geben, dagegen aber Mach selbst gegen Lenin zu verteidigen (Dahms 2012, S. 20–24).

Erstaunlicherweise gibt es nun auch eine – ebenfalls bislang weitgehend unbekannte – Stellungnahme eines Teilnehmers des zweiten Positivismusstreits, dem der 1960er-Jahre, zu Lenins Buch. Ich meine Karl Popper. Die Stellungnahme stammt aus einem Interview aus dem Jahre 1990. Es ging dort zunächst um Poppers Aufenthalt in einer „Kommunistenbaracke“ unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg im Wiener Bezirk Grinzing und dann um Lenins Buch:

„D: Das scheint ein Sammelbecken von den gescheiterten Versuchen von Räterepubliken, einerseits aus Ungarn, andererseits aus München, gewesen zu sein. Haben Sie mit den entsprechenden Leuten über diese Versuche und ihr Scheitern ...

P: Natürlich, selbstverständlich, ja, natürlich habe ich Kontakt mit den Leuten gehabt ...

Unter anderem hab’ ich mit einem ungarischen Kommunisten zusammen gesessen, also ich hab’ ihm geholfen. Er hat Lenins Empiriokritizismus ins Deutsche übersetzt, ich konnte nicht Russisch, aber ich konnte besser Deutsch als er und hab’ ihm bei der deutschen Version geholfen .... Jedenfalls hab ich’s damals kennen gelernt und war erstaunt, wie gut das Buch ist, ein gutes Buch. ... Ich hab’ dieselbe oder ähnliche Meinungen über Mach gehabt.“ (Dahms und Stadler 1997, S. 525–526).

Dieser ungarische Kommunist war Lászlo Rudas (Wittich 2001, S. 161). Er konnte allerdings auch kein Russisch, sondern war – wie offenbar auch Popper – als Überarbeiter an der von Lena Grabenko, einer russischen Malerin und der ersten Ehefrau des ungarischen Kommunisten Georg Lukács, angefertigten Übersetzung beteiligt. Diese Geschichte – der vehemente Vertreter der offenen Gesellschaft als Mithelfer bei der Übersetzung Lenins! – wird indirekt auch dadurch bestätigt, dass Popper selbst zwar nicht seine Hilfe bei der Lenin-Übersetzung, aber sein positives Urteil über Lenin andernorts später wiederholt hat (Popper 1971/2016, S. 158).

2.2 Der Positivismusstreit der 1930er-Jahre zwischen der Frankfurter Schule und dem Wiener Kreis

Im Organ der Frankfurter Schule, der „Zeitschrift für Sozialforschung“, erschien im Frühjahrsheft von 1937 ein polemischer Artikel von Max Horkheimer gegen den logischen Positivismus, die neueste Version des Positivismus nach dem Machschen Neopositivismus. Sie unterscheidet sich vor allem dadurch vom Neopositivismus, dass Logik und Mathematik, weil sie analytische Sätze produzieren, von der Forderung ausgenommen sind, durch Sinnesdaten bzw. Beobachtungen und Experimente verifiziert werden zu müssen, wenn sie nicht als „Metaphysik“ gebrandmarkt werden wollen. Horkheimers Aufsatz erschien unter dem Titel „Der neueste Angriff auf die Metaphysik“ (Horkheimer 1937). Darin wird die Philosophie des Wiener Kreises in politischer Hinsicht mit „neuromantischer Metaphysik“ (offenbar eine Umschreibung der Philosophie Heideggers) gleichgesetzt: Beide bringen die Kapitulation des Bürgertums vor dem Faschismus zum Ausdruck. Im selben Heft findet sich nun aber auch ein Beitrag von Otto Neurath, dem organisatorischen Motor und auch Ideenlieferanten des Wiener Kreises! Die Korrespondenz Horkheimers macht deutlich, dass es bis 1937 eine beginnende Kooperation zwischen beiden Lagern gegeben hat (Dahms 1994, S. 61–81), die dann nach dem „Neuesten Angriff“ in Gegnerschaft zwischen ihren Exponenten Horkheimer und Neurath umschlug, zumal sich Horkheimer weigerte, Neuraths umfangreiche Replik in der „Zeitschrift“ zu publizieren (Dahms 1994, S. 166–173).

Nun ist schon die erwähnte Gleichsetzung von Heidegger und den Positivisten eine leichtfertige Fehlinterpretation, wenn man die Resultate der erst massiv seit 1987 einsetzenden Heidegger-Forschung einerseits (er war ja nationalsozialistischer Aktivist) und das Engagement eines Großteils des Wiener Kreises in der Partei des Austromarxismus, der SDAPÖ, andererseits berücksichtigt (Stadler 1979). Während aber Horkheimer auf Heideggers Metaphysik im Artikel nicht weiter eingegangen ist – und sich auch die gesamte Frankfurter Schule in der Nazi-Zeit erstaunlich bedeckt gehalten hat mit Heidegger-Kritik–, hat sich die Polemik im Artikel auf den Positivismus konzentriert.

Der Idee nach sollen dort beide Komponenten des logischen Positivismus – also sowohl die neue Logik als auch der positivistische Erfahrungsbegriff – auf ihre jeweils eigenen Widersprüche zurückgeführt werden und es soll sodann gezeigt werden, dass auch diese beiden Komponenten miteinander unvereinbar sind. Diese Ideen hatte Theodor Adorno beigesteuert. Die Kritik an der neuen Logik übergehe ich hier, weil der Gegenentwurf der Frankfurter Schule, nämlich eine sozusagen nicht-stalinistische Version der Dialektik, in ihren Anfängen stecken geblieben ist und auch später nie zu etwas Greifbarem geführt hat. Wie dagegen steht es mit der Kritik am positivistischen Erfahrungsbegriff? Horkheimer hat mit eigenen Beispielen die Unfähigkeit des logischen Positivismus zu belegen versucht, den Unterschied von Wesen und Erscheinung aufzufassen und dadurch hinter die Fassade von Ungerechtigkeit und Grausamkeit zu blicken. Es geht etwa um die historische Hexenverfolgung oder den zeitgenössischen Antisemitismus. Aber es ist nicht zu sehen, warum der logische Positivismus sich an diesen Beispielen nicht bewähren sollte (Dahms 1994, S. 134–138).

Wie erklärt sich nun der Übergang von beginnender Kooperation zur Konfrontation im Verhältnis der Frankfurter Schule zum Positivismus?

Zunächst einmal muss man sich bewusst machen, dass es eine Traditionslinie gab, die von der 1931 begonnenen Polemik der links der SPD angesiedelten Kulturszene in Deutschland gegen die – als Ausdruck der Sozialdemokratie aufgefasste – „Neue Sachlichkeit“ über Ernst Blochs „Erbschaft dieser Zeit“ mit ihren positivismus-kritischen Passagen bis zu Adornos Idee reicht, diese Polemik nun eben auch gegen den logischen Positivismus des Wiener Kreises zu wenden (Dahms 1997, S. 24–25). Man könnte auch daran denken, dass die gemeinsame Lage des Emigrantenschicksals gerade nicht zu einer Verstärkung der Kooperation geführt hat, sondern dazu, kollegiale Rücksichtnahmen nun gänzlich fahren zu lassen und im Gegenteil Konkurrenzgesichtspunkte in den Vordergrund zu stellen. Schließlich kommen die Auftritte Neuraths im exilierten Frankfurter Institut selbst in Frage. Er dürfte dort die Diskussionspartner mit seinem „index verborum prohibitorum“ (wozu u. a. Wahrheit und Wert gehören) gehörig enerviert und auch wieder seinen Sozialbehaviorismus als physikalistische Version einer antimetaphysischen Sozialwissenschaft propagiert haben. Diese Position, die stets ganz im Programmatischen stecken geblieben ist, eignet sich kaum als methodologische Grundlage der Sozialwissenschaften. Natürlich hat die Weigerung Horkheimers, die ausführliche Erwiderung Neuraths auf seine Polemik ebenfalls in der „Zeitschrift für Sozialforschung“ abzudrucken (Dahms 1994, S. 174–190), die Freundschaft auch nicht gerade vertieft.

3 Der Positivismusstreit der 1960er-Jahre

3.1 Ausgangspunkte des Streites

Der Beginn einer erneuten Kontroverse um den „Positivismus“ ergab sich im Laufe der 1950er-Jahre durch verschiedene Streitigkeiten und Fraktionsbildungen innerhalb der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS) (Brief von Albert an Popper vom 06.05.1961, in: Albert und Popper 2005, S. 45–47; Dahrendorf 2002; Meifort 2017, S. 67–71; Dahms 1994, S. 289–322). Es standen sich einerseits aus dem Exil zurückgekehrte Sozialwissenschaftler wie eben die Angehörigen der Frankfurter Schule (aber auch Wissenschaftler wie Helmuth Plessner oder René König) und in der NS-Zeit dagebliebene wie Helmuth Schelsky und dessen Anhang gegenüber. Außerdem kündigte sich bereits eine Generationenablösung an. Statt diese entgegengesetzten Positionen direkt auszudiskutieren, entstand die Idee, einer Klärung der Situation indirekt durch eine Diskussion über die methodischen Grundlagen der Sozialwissenschaften näher zu kommen. Diese Idee stammte von Ralf Dahrendorf, der gerade auf einen neu eingerichteten Soziologie-Lehrstuhl in Tübingen berufen und zum Vorsitzenden der DGS gewählt worden war (Dahrendorf 2002; Meifort 2017, S. 100). Er hatte nach seinem Studium der Philosophie in Hamburg die folgenden Jahre in London an der LSE zugebracht und sich dabei von der intellektuellen Statur Karl Poppers überzeugt. Von ihm sagte er später, dass er „meinen geistigen Werdegang mehr als irgendein anderer prägte“ (Dahrendorf 2002, S. 163). Das galt insbesondere für den Unterschied zwischen der Eimer-Theorie des menschlichen Geistes, der zufolge man dieses Gefäß mit Beobachtungen fülle, um von da per Induktion zu Verallgemeinerungen aufzusteigen, und dem von Popper später mit einem Scheinwerfer verglichenen Verfahren, demzufolge man in das Gewimmel der Einzeltatsachen gezielt hineinleuchten müsse. Für letzteres Verständnis des Verhältnisses von Theorie und Empirie hatte sich die Bezeichnung hypothetico-deduktives Modell eingebürgert, das auch Popper verfocht. Hätte Popper nicht in politischen Fragen „zuweilen abstruse Ideen“ an den Mann zu bringen versucht, hätte Dahrendorf bei seiner Beurteilung: „Popper war ein bedeutender Mann, vielleicht der bedeutendste, den ich gekannt habe“ das Wort „vielleicht“ (Dahrendorf 2002, S. 165) wohl weggelassen.

Popper war zwar niemals ein Sozialwissenschaftler gewesen. Aber ihm traute Dahrendorf als einzigem zu, eine starke Position gegen den damals führenden Repräsentanten der immer mehr an Einfluss gewinnenden Frankfurter Schule aufzubauen, nämlich Theodor Adorno. Diesen und das aus dem Exil in den USA zurückgekehrte Frankfurter Institut für Sozialforschung hatte Dahrendorf nach seiner Rückkehr aus London ebenfalls kennengelernt. Er war sogar dort als wissenschaftlicher Mitarbeiter eingestellt worden, kündigte aber bereits nach einem Monat, als er den diktatorischen Führungsstil Horkheimers und dessen Tendenz, nicht mehr von sozialen Klassen und Konflikten sprechen zu wollen, kennengelernt hatte (Dahrendorf 2002; Meifort 2017, S. 58–63). Mit Adorno verband Dahrendorf dagegen auch danach noch ein ausgedehnter Briefwechsel.

In den ca. 25 Jahren seit dem ersten Positivismusstreit der 1930er-Jahre hatte sich die Situation natürlich drastisch geändert: 1936 handelte es sich um halbprivate Diskussionen im Institutskreise der exilierten Frankfurter in New York, von denen außer den Teilnehmern selbst niemand etwas mitbekommen hat, und daran anschließende – nur unvollständig publizierte – Auseinandersetzungen; 1961 ging es um den wesentlich größeren Rahmen einer (internen) Tagung der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS). Ferner waren 1936 Horkheimer und Neurath die Hauptbeteiligten; dagegen gab es 1961 – nach dem Tod Neuraths im Dezember 1945 und der Emeritierung Horkheimers 1959 – nur noch einen einzigen Teilnehmer der Diskussion, der überhaupt von der Vorläuferdebatte wussten, nämlich Adorno. Schließlich war Neurath in der Tat mit seiner Idee einer physikalistischen Einheitswissenschaft und der Konsequenz, die Soziologie als Sozialbehaviorismus aufzuziehen, ein ziemlich extremer logischer Positivist gewesen. Adornos Gegenspieler in Tübingen, Karl Popper, kam zwar ursprünglich ebenfalls aus Wien; er kannte zudem viele Mitglieder des Wiener Kreises gut. Aber er war nie von Moritz Schlick zur Teilnahme an seinem Kreis eingeladen worden. Inhaltlich hat er immer ein Gegenprogramm zum Positivismus verfolgt, ein Umstand, der durch das Erscheinen seiner „Logik der Forschung“ (Popper 1935) in den „Schriften zur wissenschaftlichen Weltauffassung“ von Schlick und Philipp Frank etwas verdunkelt wurde. Seit 1976, der ersten Publikation seiner Schrift „Die beiden Grundprobleme der Erkenntnistheorie“ (Popper 2010), aus der durch Kürzung und Überarbeitung die „Logik der Forschung“ hervorgegangen war, kann man nachverfolgen, wie sich seine ursprüngliche Position verändert hatte (Hansen 2010).

Dass Adorno die Einladung annahm, kann angesichts seiner Stellung in der deutschen Soziologie nicht überraschen. Bei Popper war dies anders: weder war er Soziologe noch hatte er Kenntnis der Forschungslandschaft und der Diskussionslage in der Soziologie der Bundesrepublik. Vor allem kannte er sich mit der Lagerbildung unter den deutschen Soziologen nicht aus. Normalerweise hätte er sich Informationen von seinem alten Freund Julius Kraft erbeten, der aus dem Exil 1957 an seine frühere Universität Frankfurt zurückgekehrt war, die er wie die Angehörigen des Instituts für Sozialforschung 1933 aus „rassischen“ Gründen hatte verlassen müssen. Aber Kraft war 1960 gestorben. In dieser Lage half der junge Volkswirtschaftler und Wissenschaftsphilosoph Hans Albert aus, den Popper 1958 im österreichischen Alpbach kennengelernt hatte. Er schickte Popper einen langen Bericht über die Situation der deutschen Soziologie und ihre führenden Repräsentanten. Er gab ihm auch einen Hinweis auf die gegenüber Adorno einzuschlagende Diskussionstaktik: Dieser werde sehr gegen ihn argumentieren, „falls er glaubt, Dich als Positivisten ansehen zu müssen. Vermutlich wird er den Unterschied zwischen Deiner und der typisch positivistischen Auffassung nur erkennen, wenn Du ihn sehr deutlich herausstellst.“ (Brief von Albert an Popper vom 06.05.1961, in: Albert und Popper 2005, S. 49).

Später machte Albert auch noch Bemerkungen zum Typoskript von Poppers Referat, das ihm vor der Tübinger Tagung zugeschickt worden war. Dabei überwog die Zustimmung zur „Darstellung in Thesenform“ und die Dankbarkeit darüber, dass Popper ihn ja „von gewissen positivistischen Vorurteilen“ befreit habe (Brief von Albert an Popper vom 19.09.1961, in: Albert und Popper 2005, S. 53). Bei der Frage, ob man nicht auch in den Sozialwissenschaften universale Aussagen suchen sollte (was Popper bezweifelte), und in der Frage der Werturteilsfreiheit meldete Albert vorsichtige Kritik an.

3.2 Popper und Adorno auf der Tübinger Tagung

Dahrendorfs Vorschlag folgend, legte Popper in Tübingen im Oktober in 27 Thesen seine Vorstellungen zur Logik der Sozialwissenschaften dar (Popper 1961/1969).

Es gab dabei erstaunliche Übereinstimmungen mit seinem Korreferenten Adorno (1961/1969), die hier der Reihe nach durchgegangen werden sollen.

Solchen Konsens gab es:

  • hinsichtlich der gemeinsamen Ablehnung des Positivismus,

  • in der Ablehnung der Wissenssoziologie Karl Mannheims, und schließlich auch zum Teil

  • in der Stellungnahme gegenüber der Werturteilsproblematik.

Das beginnt schon in der theoretischen Philosophie, der sich Popper im ersten Teil seiner Thesen widmete. In ihnen kritisierte er die von ihm nun „methodologischer Naturalismus oder Szientismus“ (Popper 1961/1969, S. 107) genannte – in seinen frühen Schriften aber meist als „strenger Positivismus“ (Popper 2010, S. 684) apostrophierte – wissenschaftstheoretische Lehre, wissenschaftliche Theoriebildung ginge von der Sinneserfahrung aus und schreite von dort per Induktion zu Verallgemeinerungen und zur Theoriebildung voran. Das sei ein aus einem falschen Verständnis der Naturwissenschaften erwachsenes (deswegen von ihm hier auch als „Naturalismus“ bezeichnetes) methodologisches Vorurteil. Diese Vorstellung, der er übrigens noch während seiner Studentenzeit selbst angehangen hatte (Hansen 2006a, S. 76–78) bezeichnete er als „missverständlich“ bzw. sogar „grundfalsch“. Stattdessen propagierte er ein hypothetico-deduktives Modell der Wissenschaft, demzufolge jede wissenschaftliche Theorie zunächst einmal ein Versuch zur Lösung eines Problems sein müsse, mit dem im Rücken man empirische Forschung beginnen sollte. Dabei käme es nicht darauf an, dass solche Probleme rein theoretische zu sein hätten:

„Ernste praktische Probleme wie das Problem der Armut, des Analphabetentums, der politischen Unterdrückung und der Rechtsunsicherheit, waren wichtige Ausgangspunkte der gesellschaftswissenschaftlichen Forschung“ (Popper 1961/1969, S. 105).

Worauf es stattdessen ankomme: Theorien müssten durch aus ihnen abgeleitete Prognosen einen riskanten Vorgriff auf zukünftige Erfahrungen gestatten, die dann durch Experiment und/oder Beobachtung zu überprüfen seien.

Dieser Ansicht konnte Adorno ohne Weiteres zustimmen, weil sie den Primat der Theorie gegenüber der Erfahrung betonte und die ungefilterte Erfahrung in die Schranken wies. Popper habe „gegenüber der primitiven und erkenntnisfremden Lehre vom Primat der Beobachtung ein Entscheidendes getroffen“ (Adorno 1961/1969, S. 132). Lediglich beim Begriff des Problems mahnte er Diskussionsbedarf an, wenn er als falsche Meinung referierte, bei Popper sei damit vielleicht lediglich etwas nur Erkenntnistheoretisches gemeint, bei ihm dagegen „zugleich etwas Praktisches, am Ende gar ein problematischer Zustand der Welt“ (Adorno 1961/1969, 129). Die Berechtigung dieser Unterscheidung von erkenntnistheoretischen und praktischen Problemen stellte er in Abrede. Genau das hatte im Übrigen auch schon vor ihm Popper getan, als er den praktischen Ursprung vieler soziologischer Theorien hervorgehoben hatte. Etwas so Umfassendes wie „einen problematischen Zustand der Welt“ im Ganzen hätte Popper allerdings wohl kaum als Ausgangspunkt sozialwissenschaftlicher Untersuchungen akzeptiert.

Mit der Mannheimschen Wissenssoziologie befasste sich Popper in der These 13. Dort formulierte er:

„Die sogenannte Wissenssoziologie, die die Objektivität im Verhalten der verschiedenen einzelnen Wissenschaftler sieht und die die Nichtobjektivität aus dem sozialen Standort der Wissenschaftler erklärt, hat diesen entscheidenden Punkt – ich meine die Tatsache, daß die Objektivität einzig und allein in der Kritik fundiert ist – völlig verfehlt. Was die Soziologie des Wissens übersehen hat, ist nichts anderes als eben die Soziologie des Wissens – die Theorie der wissenschaftlichen Objektivität“ (Popper 1961/1969, S. 112–113).

Damit setzte Popper jene argumentative Linie fort, die sein Freund Julius Kraft nach der Publikation von Mannheims „Ideologie und Utopie“ und vor seiner Entlassung und anschließenden Emigration aus Frankfurt gegen den Mannheimschen „Soziologismus“ vorgetragen hatte (Kraft 1929). Dabei gab Popper sich nun zusätzlich der Hoffnung hin, dass

„solche Kleinigkeiten wie zum Beispiel der soziale oder ideologische Standort des Forschers ... sich auf diese Weise mit der Zeit von selber aus-(schalten), obwohl sie natürlich kurzfristig immer ihre Rolle spielen“ (Popper 1961/1969, S. 113).

Damit setzte Popper auf den Wettbewerb verschiedener Schulen, Traditionen und wissenschaftlicher Institutionen wie konkurrierende Journale oder Verleger und nicht zuletzt auf die Staatsmacht, „nämlich die politische Toleranz der freien Diskussion“. Damit scheint er sowohl die Intention der Mannheimschen Wissenssoziologie, die eben nicht primär auf die Psyche des einzelnen Forschers (wie Popper es kritisierte), sondern auf soziale Klassen und politische Lager zielte, verfehlt und das Problem staatlicher Eingriffe in den Wissenschaftsbetrieb auch in der Demokratie erheblich unterschätzt zu haben.

Adorno reagierte auf diese These mit der Bemerkung:

„Popper durchschaut den latenten Subjektivismus jener wertfreien Wissenssoziologie, die auf ihre szientifische Vorurteilslosigkeit besonders viel zugute sich tut. Folgerecht attackiert er dabei den soziologischen Psychologismus. Auch darin teile ich seine Ansicht ...“ (Adorno 1961/1969, S. 140).

Das Beispiel der Wissenssoziologie ist vielleicht derjenige Punkt, an dem die Referenten der Tübinger Tagung zwar die größte Einigkeit zeigten, aber – sozusagen diskussionstaktisch – am deutlichsten aneinander vorbeigeredet haben. Während nämlich Popper bei der Vorbereitung seines Referats wohl vermutet hatte, mit seiner Kritik an der Wissenssoziologie die Frankfurter Schule treffen zu können, war genau das Gegenteil der Fall: Diese hatte sich sofort nach der Publikation von Karl Mannheims „Ideologie und Utopie“ im Jahre 1929 in einer Reihe von Artikeln gegen die Wissenssoziologie gewandt (Meja und Stehr 1982; Dahms 2018, S. 102–108). Ein in die gleiche Richtung zielender, 1937 entstandener Text Adornos war zwar nicht in der Zeitschrift des Instituts abgedruckt worden, weil man weiteren Misshelligkeiten wie dem seinerzeitigen Konflikt mit den logischen Positivisten ausweichen wollte (Dahms 1994, S. 347); Adorno hatte es aber für erforderlich gehalten, die Polemik gegen Karl Mannheim auch nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und nach dem Tod Mannheims im Jahre 1947 fortzusetzen. Seinen letzten Text zu diesem Thema hatte er Popper sogar einen Monat vor der Tübinger Tagung zugesandt (Adorno an Popper, 1961, nach Auskunft des Frankfurter Adorno-Archivs). Weil Popper da aber schon unterwegs auf dem europäischen Kontinent war, hat er dieses Papier wohl nicht mehr rechtzeitig zu Gesichte bekommen. Wegen dieser Verwicklungen musste es Adorno nun so vorkommen, als wollte Popper ihm in seinem Referat bei der Kritik an der Wissenssoziologie weit entgegenkommen, während dieser den Eindruck gewann, Adorno weiche einer Auseinandersetzung aus. Trotzdem bleibt das Resultat bestehen: sowohl Popper als auch Adorno waren schon lange Kritiker und Gegner der Mannheimschen Wissenssoziologie gewesen.

Weitgehende Übereinstimmung gab es auch in der Werturteilsproblematik, der sich Popper in den Thesen 13 und besonders 14 zuwandte. Er begann dort seine Diskussion mit der Unterscheidung von außerwissenschaftlichen und innerwissenschaftlichen Werten. Zur ersten Kategorie zählte er die „menschliche Wohlfahrt“, das „ganz anders geartete Problem der nationalen Verteidigung oder einer nationalen Angriffspolitik“, die „industrielle Entwicklung“ und schließlich auch die „persönliche Bereicherung“ (Popper 1961/1969, S. 113–114). Der zweiten Kategorie subsummierte er die „Wahrheit als leitender wissenschaftlicher Wert“, aber auch weitere wissenschaftsimmanente Werte wie Relevanz, Interesse und Bedeutung einer Behauptung relativ zu einer wissenschaftlichen Problemlage. Schließlich gehörten dahin auch Werte wie Fruchtbarkeit, erklärende Kraft, Einfachheit und Genauigkeit von wissenschaftlichen Theorien. In der Wissenschaftspraxis ließen sich nach Popper beide Wertarten nicht immer strikt voneinander trennen. Von kardinaler Wichtigkeit sei es aber, Vermischungen der Wertsphären dort auseinanderzuhalten, wo es um Wahrheitsfragen gehe. Es sei aber hoffnungslos, dieses Problem dadurch lösen zu wollen, dass man dem Forscher die Abstinenz von Werturteilen verordnen wolle. Das würde dessen Kreativität als Wissenschaftler und sogar seine gesamte Persönlichkeit als Mensch ebenso zerstören, wie wenn man ihm seine Parteilichkeit rauben wollte.

Man kann wohl davon ausgehen, dass Popper das Problem der Werturteilsfreiheit, statt es durch seines Erachtens nach utopische Vorschriften für forschende Individuen wie eben eine asketische Wertabstinenz der einzelnen Wissenschaftler zu lösen, genauso als ein soziales angehen wollte wie die von Karl Mannheim so genannte „Seinsgebundenheit“ des Wissens in der Wissenssoziologie. Darin zeigt sich wohl der Hauptunterschied zu Max Webers Behandlung der Werturteilsfrage. Und deswegen ist es auch schon deshalb irreführend, den Positivismusstreit als zweiten Werturteilsstreit zu bezeichnen, wie das gelegentlich geschieht (Keuth 1989), von dem Umstand einmal abgesehen, dass beim Positivismusstreit eine Reihe von Themen behandelt wurde, die bei jenem nicht berührt worden waren. Zum Schluss krönte Popper seine Ausführungen zur Werturteilsfrage mit der Bemerkung, die Forderung nach unbedingter Werturteilsfreiheit sei paradox, und zwar schon deshalb, weil Werturteilsfreiheit ja selbst ein Wert sei (Popper 1961/1969, S. 114–115).

Es ist nun interessant zu sehen, wie Poppers Korreferent auf diese Thesen eingegangen ist. Adorno, immer begierig, einen Widerspruch in der materiellen Welt oder auch der Wissenschaft aufzudecken, zeigte sich zunächst einmal sehr angetan von Poppers Idee, die Forderung nach Werturteilsfreiheit sei ja selbst ein Wert und deswegen als Forderung paradox (Adorno 1961/1969, S. 138). Des Weiteren fügte er den Popperschen Bemerkungen die schon von vielen Kritikern der Werturteilsfreiheit vorgebrachte Idee hinzu, man könne nicht so strikt zwischen Tatsachenbehauptungen und Werturteilen unterscheiden, wie es das Werturteilsfreiheits-Postulat fordere (Adorno 1961/1969, S. 139). Auffällig an Adornos Statement ist fernerhin, dass er – anders als Popper ja ein praktizierender empirischer Sozialforscher – es in der Diskussion vermied, einmal die Dringlichkeit seiner Thesen auch an lebensnahen Beispielen zu demonstrieren.

Nach dem überraschend friedfertigen Verlauf der Tübinger Diskussion wundert es nicht, dass Adorno danach am 24. Oktober 1961 einen freundlichen Brief an Popper schrieb, in dem er sich für die Tagungsatmosphäre bedankte und die Übereinstimmungen hervorhob. Weil dieser Brief die oben gegebene Interpretation der ersten Runde des Positivismusstreites der 1960er-Jahre bestätigt und weil er anscheinend der einzige vollständig erhaltene Brief in der offenbar etwas ausführlicheren, schon vor der Tübinger Tagung einsetzenden Korrespondenz gewesen ist (Adorno 1961/1969, S. 141), wird er hier vollständig zitiert:

„Sehr verehrter Herr Popper,

sehr habe ich es bedauert, daß wir in Tübingen nicht dazu kamen, voneinander Abschied zu nehmen, nachdem der Verlauf der Referate so sehr erfreulich war, von dem persönlichen Rencontre ganz zu schweigen.

Heute sende ich Ihnen ... das Manuskript einer kleinen Arbeit, die im vorigen Jahr entstanden ist. Ohne daß ich den bescheidenen Text belasten würde, könnte ich mir doch denken, daß er für Sie ein gewisses Interesse hat, weil er eine Reihe von Dingen enthält, die auch in meinem Korreferat vorkamen, und die zu einer Zeit formuliert und öffentlich gesprochen waren, zu der ich von Ihren Thesen keine Ahnung haben konnte. Das ist vielleicht nicht ganz gleichgültig angesichts der von Herrn Francis geäußerten Meinung, ich hätte nichts getan als Ihre Thesen in hegelianischer Sprache paraphrasiert; eine Meinung übrigens, die nur jemand haben kann, der weder Ihre Thesen noch meine Reflexionen verstanden hat. Aber es gibt ja Leute, die es für das Zeichen von wissenschaftlichem Ethos halten, wenn sie etwas nicht verstehen. Es sind wohl die gleichen, die tief darüber enttäuscht waren, daß Sie und ich nicht wie die Wilden übereinander herfielen, sondern in so wesentlichen Momenten übereinstimmten. Was sie an uns beiden gleichermaßen irritierte, ist dasselbe, nämlich ganz einfach das Denken. Die Art Szientivismus, die Sie wie ich angegriffen haben, wächst sich tatsächlich zu einer Heteronomie aus.

Ich hoffe, daß wir uns bald wiedersehen, und verbleibe bis dahin mit den freundlichsten Empfehlungen, auch an Ihre Frau Gemahlin,

Ihr ergebener

Th. W. Adorno“

(Brief Adorno an Popper vom 24.10.1961, in: Karl Popper-Sammlung, Universitätsbibliothek Klagenfurt, Box 266, Folder 23).

Welcher Text dem Schreiben beilag, ist bisher nicht bekannt. Ob Popper darauf geantwortet hat, ebenfalls nicht.

Wie Ralf Dahrendorf in seinem Nachwort zu der von ihm organisierten Tagung bemerkt hat, war er selbst und waren auch einige weitere Teilnehmer der Diskussion deutlich unzufriedener. Das betraf besonders die Diskussion der Werturteilsthematik:

„Die Referenten bezogen sich in ihren Schlussbemerkungen kaum auf diese Forderung (das Wertproblem erneut zu überdenken, Verf.). Man konnte den Eindruck gewinnen, daß das Werturteilsproblem weder Popper noch Adorno so dringlich erschien wie einigen Diskussionsrednern.

Insofern dies der Fall war, verfehlten beide Referenten eine für die übrigen Tagungsteilnehmer offenkundig sehr dringliche Frage“ (Dahrendorf 1961/1969, S. 150).

Andere Teilnehmer gingen mit ihrer Kritik an der unverhofften Friedfertigkeit der Referenten noch weiter, man denke etwa an die Meinung, Adorno hätte Poppers Thesen nur sozusagen ins Hegelsche übersetzt.

Adorno hat es auf die Dauer bei diesem Anschein einer Übereinkunft aber nicht bewenden lassen, als er sich an die Niederschrift seiner langen Einleitung zum „Positivismusstreit“ machte. Nun passierte, was Hans Albert schon vor der Tübinger Tagung geahnt hatte: Adorno bezeichnete und behandelte Popper nunmehr als Positivisten. Insbesondere hat er die in Tübingen nach Dahrendorfs Eindruck ja zu kurz gekommene Werturteilsproblematik erneut aufgegriffen. Zur Illustration hat er nun auch ein Beispiel genannt und die Meinung vertreten, dass die Kunstsoziologie (er schrieb damals gerade an seiner „Ästhetischen Theorie“) ohne Wertungen nicht auskommen könne. Sonst könnte nicht „zwischen dem Rang eines integren und bedeutenden Werkes und dem eines nach Wirkungszusammenhängen kalkulierten Kitschproduktes“ (Adorno 1969, S. 72) unterschieden werden. Er hat allerdings in seiner „Einleitung“ unfreiwillig an anderer Stelle vorgeführt, wohin so rigorose Wertungen, wie er sie im Sinne hatte, führen können. In einem Abschnitt, der sich nicht mit der Wertfreiheit, sondern mit dem positivistischen Begriff der Erfahrung und insbesondere der Verifikation durch Erfahrung befasst, hat er sein aus den 1930er-Jahren stammendes Thema des „Jazzsubjekts“ hervorgeholt und seine eigene Theorie dazu so referiert:

„Jazz sei durchweg ein symbolischer Vollzug, in dem dies Jazzsubjekt vor kollektiven, vom Grundrhythmus repräsentierten Anforderungen versagt, stolpert, „herausfällt“, als herausfallendes jedoch in einem Ritual als allen anderen Ohnmächtigen Gleiches sich enthüllt und, um den Preis seiner Selbstdurchstreichung, dem Kollektiv integriert wird“ (Adorno 1969, S. 59).

Die seltsame Theorie des Jazzsubjekts, das u. a. die Verwendung der Synkope im Jazz erklären soll, geht bei Adorno durchweg mit einer völligen Abwertung dieser Art von Musik einher, die nur durch großbürgerliche Vorurteile erklärt werden kann (Steinert 1992; Dahms 1994, S. 245–249).

4 Vom Positivismusstreit zum „Positivismusstreit“

Die Wendung von freundlicher Übereinstimmung zur Konfrontation zwischen 1961 und 1969 ist ebenso erklärungsbedürftig wie die von der Kooperation zur Konfrontation im ersten Positivismusstreit der 1930er-Jahre. Was hat im zweiten Positivismusstreit, dem der 1960er-Jahre, dazu geführt?

Zunächst einmal ist festzustellen, dass weder Popper noch Adorno die Diskussion in der Zwischenzeit noch einmal aufgenommen haben. Vielmehr ging die Initiative jetzt auf eine jüngere Generation über und zwar mit Jürgen Habermas und Hans Albert auf zwei ihrer Vertreter, die die Zeit vor 1945 nicht als Exilanten im Ausland verbracht hatten, sondern in Deutschland geblieben waren. Dabei allerdings hatte der etwas ältere Albert die Kriegszeit als Offizier in der Wehrmacht zugebracht (Albert 2007, S. 31–56); Habermas dagegen war kurz vor Kriegsende als 15-jähriger noch zum Volkssturm eingezogen worden (Müller-Doohm 2014, S. 37 und 44). Beide hatten nach Kriegsende erhebliche geistige Suchbewegungen auszuführen, bevor der eine von ihnen zum Anhänger Poppers wurde und der andere sich der Frankfurter Schule anschließen konnte.

Hans Albert, der sich gegen Anfang der 1950er-Jahre noch in den Bahnen Martin Heideggers und Hugo Dinglers bewegt und sich danach erst mit dem Positivismus des Wiener Kreises vertraut gemacht hatte, lernte 1958 im tirolischen Bergdorf Alpach bei den Österreichischen Hochschulwochen Karl Popper kennen und wurde schnell sein Anhänger. Habermas hatte in Bonn bei dem inzwischen als zeitweisem NS-Philosophen bekannt gewordenen Ernst Rothacker studiert und war nach der Publikation einer milden Heidegger-Kritik Adorno aufgefallen. Zum Zeitpunkt des Positivismusstreits war er – nach einer Habilitation in Marburg bei Wolfgang Abendroth – Extraordinarius in Heidelberg. Habermas beschäftigte sich in dieser Zeit ausweislich des Vorlesungsverzeichnisses regelmäßig mit „Probleme(n) der Wissenschaftstheorie“ (Müller-Doohm 2014, S. 692–693). In diese Phase fiel nun die Publikation seines Beitrags zur Adorno-Festschrift, seiner ersten Stellungnahme im Positivismusstreit, die programmatisch von einem Adorno-Zitat zum Begriff der Totalität eingeleitet wurde (Habermas 1963/1969). Auch im weiteren Verlauf des Artikels schien Habermas sich wieder von der Wissenschaftstheorie abzuwenden und auf die Dialektik zuzusteuern. Außerdem benutzte er die Gelegenheit, mehr und mehr Skizzen seiner ganz außerhalb der Tradition der Frankfurter Schule stehenden Theorie der erkenntnisleitenden Interessen einfließen zu lassen, die verschiedenen Wissenschaftsgruppen als Voraussetzungen zu Grunde liegen sollen. Konkret handelt es sich um eine Dreiheit von durch das technische Interesse dominierten Naturwissenschaften, den vom praktischen Interesse geleiteten Geisteswissenschaften und schließlich der vom emanzipatorischen Erkenntnisinteresse geprägten Ideologiekritik (Habermas 1968).

Dies Schwanken ließ Hans Albert nicht ruhen, der sich sowohl schriftlich als später auch mündlich mit Habermas in Heidelberg austauschte (Albert 2007, S. 104). Er verfasste eine zugespitzte polemische Kritik, an der ihm schon deshalb gelegen war, weil Habermas Popper erstmals in der gesamten Debatte als „Positivisten“ bezeichnet hatte und Albert selbst sich vor Jahren von diesem Vorurteil über die Einordnung des kritischen Rationalismus hatte befreien müssen.

Es ist hier, wo es hauptsächlich um Poppers Beitrag zum Positivismusstreit geht, weder möglich noch erforderlich, die einzelnen Stadien dieser Debatte nachzuverfolgen. Habermas nahm mit seinem dictum von der „positivistisch halbierten Vernunft“ ein Motiv von Horkheimers „Kritik der instrumentellen Vernunft“ auf. Der Positivismus sei nur auf die Rationaliät technischer Mittel bei gegebenen Zwecken aus, würde aber die Frage nach obersten Zwecken unbeantwortet lassen oder sogar als sinnlos verwerfen. Damit sei der Positivismus ungeeignet, auch dem Handeln Impulse zu geben. Diese Kritik kann man gegen den logischen Positivismus des Wiener Kreises zu Recht erheben. Gegen den kritischen Rationalismus Poppers und insbesondere dessen politische Philosophie ist sie dagegen fehl am Platze. Horkheimer hatte sich stets darauf beschränkt, eine ungeteilte Vernunft lediglich zu postulieren. Habermas ist das Verdienst zuzubilligen, nach dem Positivismusstreit einen groß angelegten Versuch unternommen zu haben, die Hypothek durch seine Diskursethik abzutragen (Habermas 1983, 1991).

Adorno, der 1965 das Angebot vom Luchterhand Verlag bekommen hatte, die Beiträge zum Positivismusstreit herauszugeben, hat zwar schnell zugesagt, war aber zu sehr mit der Arbeit an der „Ästhetischen Theorie“ beschäftigt, als dass er den Band bald hätte abliefern können. Schließlich unternahm er doch eine Anstrengung, sich einmal näher mit dem Positivismus im Allgemeinen wie auch mit der Position Poppers im Speziellen zu befassen. Zu diesem Zweck hielt er im Sommersemester 1967 ein Privatissimum zur Wissenschaftstheorie ab, an dem sich auch der gut über die aktuelle Lage in der analytischen Philosophie informierte damalige Habermas-Assistent Albrecht Wellmer beteiligte. Der hielt ein Referat über das empiristische Sinnkriterium, zu dem sich Adorno umfangreich schriftlich äußerte (Adorno-Archiv Berlin, TS 48769). Die in diesen Diskussionen angesammelten Erkenntnisse führte er mit Elementen der Positivismuskritik der 1930er-Jahre und einer Lektüre verschiedener positivistischer Autoren zu einer unverhältnismäßig langen – und für einen Sammelband ungewöhnlich parteiischen – Einleitung zusammen (Adorno 1969). Offenbar immer noch nicht überzeugt, dass die Position der Frankfurter Schule gegenüber dem „Positivismus“ obsiegen würde, fügte er dem Band eine eigene ältere Arbeit sowie einen Beitrag eines Anhängers der Frankfurter Schule hinzu, die beide mit dem eigentlichen Positivismusstreit nichts zu tun gehabt hatten. Hans Albert blieb nichts anderes übrig, als sein demonstrativ knapp gehaltenes Nachwort zum Sammelband (Albert 1969) nicht nur als „klein“, sondern auch als „verwundert“ zu überschreiben.

5 Nach der Buchpublikation des „Positivismusstreits“

Als Popper im Herbst 1969 das Buch zugeschickt bekam (Adorno et al. 1969), konnte er Adorno nicht mehr antworten: Es war die letzte Publikation gewesen, die noch zu dessen Lebzeiten erschienen ist.

Popper war jedenfalls offenbar „not amused“: Einerseits schon wegen des Titels, der seinen (und Alberts) kritischen Rationalismus dem Positivismus subsummierte, gegen den er sich nicht nur in seinem übrigen wissenschaftstheoretischen Werk, sondern insbesondere auch in seinen Tübinger Thesen gewandt hatte, andererseits wegen der ungerechten Proportionen des Bandes sowie der viel zu langen und im übrigen ganz parteiischen Einleitung Adornos.

Zunächst ergriff Popper im März 1970 in einer Zuschrift an den Herausgeber des „Times Literary Supplement“ eine Gelegenheit, den Hergang der Tübinger Tagung aus seiner Sicht sowie die Zusammensetzung des Sammelbandes darzustellen, als an gleicher Stelle eine Rezension des Bandes erschienen war. Nur wer seine Schriften lediglich aus zweiter Hand kenne, könne ihn als Positivisten bezeichnen. Zudem sei die Gegenseite in Tübingen einem „fight“ aus dem Weg gegangen. Nun habe Adorno die Gelegenheit der Herausgabe benutzt, die Diskussion über sein „short paper and the original issue of the debate, in an ocean of words“ zu ertränken (Popper 1970a, S. 338). Später reagierte er mit einer Retourkutsche auf die Disproportion des deutschen Sammelbandes bei der englischen Ausgabe (Adorno et al. 1976), indem er einen zusätzlichen Text von sich aufnahm (Popper 1970b). Nun schien es ihm, es wäre das Beste gewesen, wenn er die Gegenseite mit Argumenten zu politischen Implikationen ihrer Wissenschaftsphilosophie angegriffen hätte, auch wenn er dann den Rahmen eines Beitrags zur Logik der Sozialwissenschaften hätte überschreiten müssen (Popper 1970b, S. 289). Dann wäre sicherlich eine interessante Konstellation entstanden und zwar nicht nur, weil sich Adorno und die „Frankfurter“ dann einmal expliziter hätten politisch exponieren müssen, sondern auch, weil Popper selbst gerade dabei war, seine eigene Haltung zwischen Sozialismus und Liberalismus zu überdenken (Shearmur 1996, S. 30–36). Dazu hatte ihn damals auch ein Brief des ehemaligen Wiener-Kreis-Mitglieds Rudolf Carnap aufgefordert. Am Ende seiner Stellungnahme zur Publikation des „Positivismusstreits“, die in die englische Ausgabe aufgenommen wurde, parodierte Popper das Habermas-Zitat mit der plakativen Adorno-Stelle zum Begriff der Totalität, mit der Habermas seinen ersten Beitrag zum Positivismusstreit eingeleitet hatte, durch eine Übersetzung vom ‚Hegelschen‘ ins Englische (Popper 1970b, S. 297).

Auch sonst publizierte er empörte Stellungnahmen und nannte dabei den ganzen Positivismusstreit „nur ein(en) Eiertanz und von einer geradezu grotesken Unwichtigkeit“ (kursive Hervorhebung in Popper 2016, S. 169) und ignorierte ihn – sozusagen zur Strafe – in seiner Intellectual Autobiography (Popper 1974) gänzlich.

Soweit ich sehe, sind die jüngeren Teilnehmer des Positivismusstreits der 1960er-Jahre wie Jürgen Habermas und Hans Albert dagegen kaum auf die Angelegenheit zurückgekommen. Habermas hat in der zweiten Auflage seiner „Logik der Sozialwissenschaften“ (Habermas 1982, S. 9) davon geschrieben, dass sich ihm die Notwendigkeit einer Behandlung der Dialektik nicht ergeben habe (obwohl er seinen ersten Beitrag zum Positivismusstreit ja mit der Fanfare des Adorno-Zitats zum Begriff der Totalität begonnen hatte). Sein Biograf Stephan Müller-Doohm behandelt die Sache in seinem umfangreichen Buch nur recht kurz. Er beschreibt die Beiträge von Habermas zum Positivismusstreit als „wissenschaftstheoretische Versuchsballons“ und bewertet sie „als „Produkte“ auf einem Weg ..., der für ihn zur Sackgasse werden wird“ (Müller-Doohm 2014, S. 156). Albert behandelt den Positivismusstreit in seiner Autobiografie ebenfalls auffällig beiläufig (Albert 2007, S. 104–108; aber auch Albert 2001), um sich dann umso ausführlicher der Schilderung der langen Reihe von Kontroversen zu widmen, in die er sich „verstrickt“ habe.

6 Resümée und Ausblick

War der ganze Positivismusstreit denn nun ein „Eiertanz“ und dazu „von einer grotesken Unwichtigkeit“, wie Popper meinte? Oder kann man aus der Befassung damit auch heute noch etwas lernen?

Ich meine ja, jedoch weniger inhaltlich-systematisch als vielmehr wissenschaftsgeschichtlich bzw. wissenschaftssoziologisch: Es handelte sich um eine Auseinandersetzung zweier philosophischer Optionen (also der Frankfurter Schule einerseits und dem logischen Positivismus in den 1930er-Jahren bzw. dem kritischen Rationalismus in den 1960er-Jahren andererseits). Die Vertreter der Gründergeneration waren in der Nazizeit jeweils ins Exil getrieben worden. In den 1960er-Jahren begannen ihre Hauptvertreter Popper und Adorno, ohne es zunächst recht zu ahnen, einen Kampf um die Vorherrschaft in der intellektuellen Szene der Bundesrepublik. Dieses geistige Ringen ging weiter, als die Debatte auf eine jüngere Generation überging, die sich nach 1945 erst einmal philosophisch orientieren musste und seit dem Ende der 1950er-Jahre anfing, auf eigenen Füssen zu stehen.

Hier bewirkte der Streit zunächst einmal einen deutlichen Prestigegewinn der beiden jüngeren Teilnehmer: Hans Albert wurde seitdem zum unangefochtenen Wortführer des kritischen Rationalismus in Deutschland. Er festigte diese Position durch seinen „Traktat über kritische Vernunft“ (Albert 1968) und später etwa durch „Kritische Vernunft und menschliche Praxis“ (Albert 1977). Einen über den deutschen Sprachraum hinausgehenden Einfluss hat er dagegen anscheinend nicht angestrebt, da er schon die Einladung zur Teilnahme an der später berühmt gewordenen Diskussion über die Theorie der Wissenschaftsentwicklung von Thomas Kuhn 1965 in London ausschlug und dann auch die Möglichkeit der Teilnahme am Karl Popper gewidmeten Band der „Library of Living Philosophers“ nicht wahrnahm (Albert und Popper 2005, Briefe Nr. 64, 84, 86). Jürgen Habermas ist sicher der prominenteste Vertreter einer erneuerten kritischen Theorie geworden. Dazu hat maßgeblich beigetragen, dass er sich einerseits immer weiter von der Orthodoxie der älteren Frankfurter Schule entfernt und andererseits gegenüber der Philosophie der US geöffnet hat und dort auch umfangreich rezipiert worden ist. Zusätzlich hat er – anders als Hans Albert – in verschiedenen wichtigen Debatten der Bundesrepublik wie etwa dem „Historikerstreit“ die Rolle eines führenden public intellectual gespielt.

Aber die Wirkungen des Positivismusstreits blieben nicht auf seine Protagonisten beschränkt. Eric Hilgendorf hat mit Recht geschrieben, dass der Positivismusstreit „die geistige Verfassung der Bundesrepublik im Ganzen“ verändert habe und schließlich mitgeholfen hätte, den deutschen Sonderweg in der Sphäre des Geistes und der Wissenschaft zu beenden und sich der Gedankenwelt des Westens zu öffnen (Hilgendorf 1997, S. 33). Das ist beim kritischen Rationalismus Poppers und Alberts mit Händen zu greifen, trifft aber auch auf die Entwicklung Habermas’ und seines Umkreises zu (z. B. Habermas 1981).

Schließlich hat der Streit zeitweise – bis etwa bis zum Ende der 1970er-Jahre – sogar unmittelbare gesellschaftliche und politische Konsequenzen gehabt. Das lässt sich schön aus einem Brief Hans Alberts an Karl Popper vom 5. April 1975 entnehmen:

„Der deutsche Bundeskanzler, Helmut Schmidt, der gerade eine Einleitung für das Buch ‚Kritischer Rationalismus und Sozialdemokratie‘ geschrieben hat, ist vorgestern im Fernsehen interviewt worden über sein Verhältnis als Politiker zur Philosophie und hat dabei ausdrücklich seine Sympathie für Deine Philosophie bezeugt. Vorher waren Bilder von Platon, Kant, Marx und Dir gezeigt worden ... Interessanterweise hat nun aber der Rivale von Schmidt, Helmut Kohl, der vermutliche Kanzlerkandidat der CDU, ebenfalls eine Neigung zum kritischen Rationalismus, denn die jungen Leute in seiner Staatskanzlei in Mainz sind ebenfalls Anhänger Deiner Philosophie. So werden wir also demnächst eine Konkurrenz um die Regierungsmacht haben, bei der sich beide Kandidaten auf Deine sozialphilosophischen Auffassungen berufen. Es sind in beiden Fällen Vertreter des gemäßigten Flügels – Schmidt gegen den Marxismus, Kohl gegen die rechten CDU-Leute ... Der leider zu früh verstorbene Generalsekretär unserer dritten Partei, der FDP, Hermann Flach, hatte in seiner Programmatik ebenfalls starke Anleihen bei Dir gemacht. Wie sich die Dinge hier 30 Jahre nach dem Krieg entwickelt haben!“ (Brief von Albert an Popper vom 05.04.1975, in: Albert und Popper 2005, S. 198).

Diese Diagnose ist damals nicht falsch gewesen. Ob sie für die Aufgeklärtheit oder die Eintönigkeit der damaligen politischen Szene spricht, sei einmal dahingestellt.

Wenn man der neuesten Sekundärliteratur folgt, haben sich die Positionen des kritischen Rationalismus und der Philosophie Habermas’ in neuerer Zeit in wichtigen Punkten angenähert (Stokes 2016). Das hätte man vielleicht schon 50 Jahre früher haben können, wenn sich die Kontrahenten des Positivismusstreits genauer mit den Positionen der Gegenseite befasst und einige schon damals unhaltbare Positionen beizeiten aufgegeben hätten. Die Aufgeregtheiten der damals für aktuell gehaltenen Alternative „Reform oder Revolution“ in den intellektuellen Debatten der BRD in den späten 1960er-Jahren wären dann vielleicht auch schon früher überwunden worden.