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1 Die Hoffnung des gegenwärtigen Chaos

Im August 1799 besuchte Novalis in Gesellschaft der Schlegels und Schellings zwei Tage lang Dresden. Dort sah er Raphaels La Madonna di San Sisto (Die sixtinische Madonna). Das Werk wurde von Vasari, Winckelmann und Goethe gefeiert und sollte künftig auch eine bleibende Wirkung auf andere Besucher haben, darunter Wagner, Nietzsche und Dostojewski.Footnote 1 Für Novalis war Raphaels Werk ein Vertreter der idealen Einheit eines vergangenen christlichen Zeitalters und stand in scharfem Gegensatz zu den historischen Ereignissen, die in Frankreich stattfanden und Europa am Ende des Jahrhunderts prägten. Im selben Jahr, als Novalis Dresden besuchte, setzte Napoleon das Direktorium in Paris ab. Seine Truppen hatten bereits Rom erobert und den Papst mit der längsten Amtszeit, Pius VI., ins Exil gezwungen, wo er starb, weshalb die römische Kirche kein direktes Mittel hatte, um einen Nachfolger zu wählen. Für Novalis war Europa von einer vereinigten Christenheit abgefallen, um in dem Chaos zu landen, in dem es sich nun befand. Aus diesem Chaos sollte jedoch eine neue Einheit hervorgehen, deren Möglichkeit durch die Veröffentlichung von Schleiermachers Über die Religion angezeigt wurde. Novalis’ Besuch, um La Madonna di San Sisto zu sehen, die revolutionären politischen Ereignisse des Tages und Schleiermachers Veröffentlichung; all dies veranlasste ihn Christenheit oder Europa (1799) zu schreiben mit dem Ziel, eine Sicht der neuen Einheit zu präsentieren, die seiner Überzeugung nach aus dem gegenwärtigen Chaos hervorgehen sollte.

Im Unterschied zu Schleiermachers Text, der vom Kreis der Romantiker freundlich empfangen wurde, rief Novalis’ Aufsatz eine negative Reaktion hervor, wobei Schelling es sogar für richtig hielt, eine Parodie dazu zu schreiben.Footnote 2 In dem Werk begegnet man einem prächtigen mittelalterlichen Idyll, dessen Niedergang in der Moderne und einer tausendjährigen Vision der künftigen christlichen Erneuerung Europas. Als solcher kann der Aufsatz als Werk eines naiven ultramontanen Katholiken erscheinen, dessen reaktionäre Ansichten die Errungenschaften der Aufklärung und des revolutionären Zeitalters gerne umkehren wollten, wobei die Macht an niemand anderen als die gehassten Jesuiten übertragen werden sollte, die die katholische Kirche selbst im Jahr 1773 unterdrückt hatte.Footnote 3 Die Anfangszeilen des Aufsatzes lauten: „Es waren schöne glänzende Zeiten, wo Europa ein christliches Land war, wo Eine Christenheit diesen menschlich gestalteten Welttheil bewohnte; Ein großes gemeinschaftliches Interesse verband die entlegensten Provinzen dieses weiten geistlichen Reichs.“Footnote 4 Anschließend bietet das Werk eine Beschreibung der Einheit der mittelalterlichen Christenheit, einer Welt der Transzendenz und Methexis, in der das Göttliche alle Aspekte des immanenten Lebens durchdrang; der Heiligenkult mit seinen Schreinen und Reliquien lieferte eine physische Verbindung zu den nicht-physischen wirklichen Ideen, die jenseits existierten und dem Leben auf der Erde Struktur gaben. In dieser Welt wurden die Güte und Allmacht Gottes in der Kunst, im Weihrauch und heiliger Musik offenbart, anstatt durch philosophische Abstraktion.Footnote 5 Novalis zufolge verlieh das der Kirche und ihrem Oberhaupt die Macht, „frechen Ausbildungen menschlicher Anlagen auf Kosten des heiligen Sinns, und unzeitigen gefährlichen Entdeckungen, im Gebiete des Wissens“ sich zu widersetzen.Footnote 6 Für Novalis war das eine wohltätige, Schutz gewährende Kirche, die verstand, dass diese Einheit nur allzu leicht in ein transzendentes und ein immanentes Reich geteilt werden konnte, dass die Sprache rasch für letzeres instrumentalisiert werden konnte, anstatt für ersteres offen gelassen zu werden, dass die Menschen gedankenlos „das eingeschränkte Wissen dem unendlichen Glauben vorziehn und sich gewöhnen würden alles Große und Wunderwürdige zu verachten, und als todte Gesetzwirkung zu betrachten.“Footnote 7

Doch das, wonach sich Novalis sehnte, war nicht einfach die Rückkehr zu dieser idealen Zeit, sondern die Wiederherstellung der Einheit, die sie erneut im gegenwärtigen Zeitalter verkörperte. Diese neue Einheit sollte sowohl eine transzendente heilige Vergangenheit als auch eine immanente säkulare Gegenwart berücksichtigen und beide zu einer höheren Einheit erheben. Bekanntlich schrieb Novalis: „Wir suchen überall das Unbedingte, und finden immer nur Dinge.“Footnote 8 Die realistische Ontologie der Methexis war charakteristisch für die mittelalterliche Welt, die Novalis beschreibt. Durch sie war das Göttliche in allen Dingen gegenwärtig, was bedeutete, dass der menschlichen Sehnsucht nach dem Absoluten und Unbedingten durch seine Gegenwart in allem Bedingten entsprochen wurde. Novalis zufolge beginnt mit dem Zusammenbruch der Metaphysik, ein Gefühl des Heimwehs nach dem verlorenen Absoluten unsere Stellung in der Welt zu charakterisieren, was zur Entwicklung der zeitgenössischen Philosophie führt: „Die Philosophie ist eigentlich Heimweh – Trieb überall zu Hause zu seyn.“Footnote 9 Novalis’ Ziel war es, diese Entfremdung zu überwinden und uns abermals in der Welt der Immanenz heimisch fühlen zu lassen, indem sie wieder in die Transzendenz eingeführt wurde.

Christenheit oder Europa beschreibt, wie die katholische Einheit Europas dem Druck von Kommerz, zerstörerischem Krieg und vernichtendem Schisma erlag.Footnote 10 Obwohl die Reformation zu Recht gegen die Tyrannei einer entwürdigten Kirche protestierte, die sich ohne Zweck an der Macht festhielt, kritisiert sie Novalis dafür, sich von der Einheit getrennt zu haben, die das einzig mögliche Mittel zu einer spirituellen Wiedergeburt war. Durch den Verlust der Einheit setzte sie sich der Nutzung durch die Fürsten und ihrer politischen Pläne aus, wodurch die Katholiken und Protestanten weiter voneinander entfernt blieben als von den Moslems und Heiden.Footnote 11 Auf ähnliche Weise verurteilte er die Aufklärung wegen ihrer trügerischen Selbstsicherheit und ihres überholten Glaubens an eine rechtmäßige Rebellion gegen eine Kirche, die ihrer intellektuellen Autorität bereits enteignet worden war. Der aufgeklärte Hass der Religion diente nur dazu, den Glauben vom Wissen zu trennen, wo doch ihre Wiedervereinigung Not tat.Footnote 12 Gemeinsam hatten die Reformation und die Aufklärung die Menschheit verarmt und sie des Gefühls beraubt, in der Welt heimisch zu sein: Die Reformatoren führten eine abtötende Philologie ein, die der Heiligen Schrift eine universelle Autorität zugestand, welche ihrem Zweck fremd war, und ließ die Kunst, die sie inspirierte, im Einklang mit ihr leiden.Footnote 13 Ebenso gestattete die Aufklärung den Europäern, sich immer mehr an die glänzenden Entdeckungen der Naturwissenschaften zu gewöhnen, wodurch die Natur zunehmend öde und mechanisch erschien.Footnote 14 In Zeilen, in denen die „entgötterte Natur“ Schillers widerhallt, schildert Novalis eine Welt, die „die unendliche schöpferische Musik des Weltalls zum einförmigen Klappern einer ungeheuren Mühle [machte], die vom Strom des Zufalls getrieben und auf ihm schwimmend, eine Mühle an sich, ohne Baumeister und Müller und eigentlich ein ächtes Perpetuum mobile, eine sich selbst mahlende Mühle sey.“Footnote 15 In dieser Welt wurde „Gott zum müßigen Zuschauer“Footnote 16 und der Religion wurde „ein[…] neuer[…] vernünftige[r], gemeiner[…] Sinn [gegeben], indem man alles Wunderbare und Geheimnißvolle sorgfältig von ihr abwusch [… und] die Geschichte zu einem häuslichen und bürgerlichen Sitten- und Familien-Gemählde zu veredeln sich bemühte.“Footnote 17

Doch dieser Niedergang war Novalis zufolge Teil eines Zyklus’ aus Wachstum, Verfall und Erneuerung. Tatsächlich waren die Ereignisse, die gegen das Überleben der Religion aufgereiht zu sein schienen, in Wirklichkeit die vielversprechendsten Zeichen ihrer Regeneration: „Wahrhafte Anarchie ist das Zeugungselement der Religion. Aus der Vernichtung alles Positiven hebt sie ihr glorreiches Haupt als neue Weltstifterin empor.“Footnote 18 In diesem Reich der Möglichkeit hatten die deutschen Völker eine ausgezeichnete Rolle zu spielen: „Während [andere Länder] durch Krieg, Spekulation und Parthey-Geist beschäftigt sind, bildet sich der Deutsche mit allem Fleiß zum Genossen einer höhern Epoche der Kultur […]“.Footnote 19 In dieser Eigenschaft denkt Novalis an seine Romantikerkollegen, insbesondere Schleiermacher, der einen neuen Schleier für die Heiligen gewoben hat.Footnote 20 Die Leistung des gegenwärtigen Zeitalters, schreibt Novalis, war seine historische Perspektive, die in der Lage war, „in jenen wunderlichen Thorheiten merkwürdige Kristallisationen des historischen Stoffs zu erkennen.“Footnote 21 Sowohl das mittelalterliche Christentum als auch die wissenschaftliche Aufklärung haben zwar ihre Legitimität unter Beweis gestellt, aber sich selbst auch im Prozess der Geschichte erschöpft. Jede neue Religion, so Novalis weiter, wird die beiden miteinander vereinen müssen, und das ist die Aufgabe der Romantiker: „die Heiligkeit der Natur, die Unendlichkeit der Kunst, die Nothwendigkeit des Wissens, die Achtung des Weltlichen, und die Allgegenwart des wahrhaft Geschichtlichen“ anzuerkennen.Footnote 22

Nur durch dasjenige, was Novalis die Tätigkeit der Poetisierung nennen sollte, wird ein Krieg führender Kontinent, der durch Schlachten gekennzeichnet ist, die nicht nur zwischen Nationen, sondern auch zwischen intellektuellen Lagern geführt werden, geheilt werden. Nur durch die höhere Einheit, die die Dichtung bieten kann, werden diese entgegengesetzten Seiten, gerührt von heiliger Musik, wieder vor ihre ehemaligen Altäre zurücktreten.Footnote 23 Novalis bietet eine dreifache Sicht dieses neuen, wiederversöhnenden Christentums, das jetzt in der Lage ist, eine größere Einheit als je zuvor zu erreichen:

Das Christentum ist dreifacher Gestalt. Eine ist das Zeugungselement der Religion, als Freude an allen Religionen. Eine das Mitthlertum überhaupt, als Glaube an die Allfähigkeit alles Irdischen, Wein und Brod des ewigen Lebens zu seyn. Eine der Glaube an Christus, seine Mutter und die Heiligen. Wählt welche ihr wollt, wählt alle drei, es ist gleichviel, ihr werdet damit Christen und Mitglieder einer einzigen, ewigen, unaussprechlich glücklichen Gemeinde.Footnote 24

In dieser Beschreibung bringt Novalis ein neuerdings universales Christentum zum Ausdruck, dessen drei Bestandteile unabhängig voneinander oder zusammen wirken und „ein[en] Heiland [… der] unter zahllosen Gestalten den Gläubigen sichtbar, als Brod und Wein, verzehrt, als Geliebte umarmt, als Luft geatmet, als Wort und Gesang vernommen [wird …]“ anbietet.Footnote 25 Novalis sollte diese Position zunächst anhand seiner Beschäftigung mit der Philosophie in den Fichte-Studien (1795–1796) und Das Allgemeine Brouillon (1798/1799) entwickeln, wo er sich bemühte, die Einsichten des immanenten Idealismus und des transzendenten Realismus im höheren vereinheitlichenden Prinzip der Gottheit zu verknüpfen. Dabei sollte er erkennen, dass die Abstraktion und Instrumentalisierung der Sprache unsere Fähigkeit behinderte, diese Einheit wahrzunehmen, und dass die Sprache der Ästhetik ein Mittel bot, seine Vision eines neuen Christentums zu artikulieren, wodurch die göttliche Teilhabe, die die mittelalterliche Einheit von Christenheit oder Europa charakterisierte, wiederhergestellt wurde. Dies sollte in seinen großen dichterischen Werken Hymnen an die Nacht (1799/1800), Die Lehrlinge zu Sais (1802) und Heinrich von Ofterdingen (1802) erforscht und entwickelt werden.

Georg Philipp Friedrich von Hardenberg, bekannter unter seinem Pseudonym Novalis, wurde 1772 in Oberwiederstedt in eine protestantische Adelsfamilie geboren. Novalis’ Vater, Hennrich Ulrich Erasmus von Hardenberg, war Pietist, Mitglied der mährischen Brüder und Leiter eines örtlichen Salzbergwerks. Im Alter von siebzehn Jahren begegnete Novalis dem berühmten Balladenautor Gottfried August Bürger, der die frühesten dichterischen Werke des jungen Novalis inspirierte. Nach einer Reihe von Jahren des Privatunterrichts bezog Novalis die Universität und schrieb sich 1790 an der Universität Jena ein, um Jura zu studieren. Dort besuchte er die Vorlesungen von Reinhold und Schiller, stand unter dem Einfluss von beiden und wurde zu einem jüngeren Freund Schillers. Sein Vater, der hoffte, dass sein Sohn sich erneut auf seine Studien im Hinblick auf eine Verwaltungslaufbahn konzentrieren würde, ließ ihn an die Universität Leipzig wechseln, wo er stattdessen Friedrich Schlegel begegnete und mit diesem eine dauerhafte, wenn auch nicht immer harmonische Freundschaft einging. Schlegel sollte Novalis später das Kompliment machen, dass dieser das Ideal der Romantik verkörpere: „In deinem Geiste haben sich Poesie und Philosophie innig durchdrungen.“Footnote 26

Novalis beendete seine Studien in Wittenberg und legte 1794 seine Abschlussprüfungen ab. Als er im selben Jahr für den preussischen Staatsdienst arbeitete, begegnete er Sophie von Kühn, verliebte sich in sie und verlobte sich im folgenden Jahr mit ihr. Ihr Tod durch eine Tuberkulose im Jahr 1797 war für Novalis ein Ereignis, das sein Leben veränderte. Später im selben Jahr ging er zur Bergakademie Freiberg (Sachsen), wo er sich ausgiebig den Naturwissenschaften widmete und zusätzlich zu seinen philosophischen und religiösen Interessen Medizin, Biologie und Geologie erforschte. Schließlich übernahm er eine Verwaltungsstelle bei den Salzbergwerken in Weißenfels und verlobte sich ein zweites Mal, mit Julie von Charpentier. Während dieser Zeit wurde er immer kränker und starb 1801 an demselben Leiden, das seine geliebte Sophie hinwegraffte. Sein ganzes Leben hindurch galt Novalis als ein gewandter Gesprächspartner. Er wurde mit vielen der wichtigsten Geistesgrößen der Zeit bekannt, u. a. – außer mit Friedrich Schlegel und Hölderlin – Goethe, Fichte, Herder, Schiller, August Schlegel, Jean Paul, Tieck and Schelling. Trotz seines Todes im Alter von achtundzwanzig Jahren hinterließ Novalis sowohl ein bemerkenswertes und originelles literarisches Werk als auch ein komplexes religiöses und philosophisches Vermächtnis im Hinblick auf Ästhetik, Subjektivität und Selbstbewusstsein, Erkenntnistheorie, Moraltheorie und politische Philosophie.

2 Fichte und das Problem der Erkenntnis

Wie Schlegel und Hölderlin setzte sich auch Novalis in einem produktiven kritischen Verhältnis mit Fichtes Frühphilosophie auseinander. Doch im Unterschied zu seinen Romantikerkollegen war seine Kritik schärfer und erkannte eine gewisse Gefahr, die in Fichtes Schriften lag: „Fichte ist der Gefährlichste unter allen Denkern, die ich kenne. Er zaubert einen in seinem Kreise fest.“Footnote 27 Diese Vorsicht ging teilweise auf den Kontext zurück, in dem er dem Philosophen begegnete: zuerst durch die bereits kritische Auseinandersetzung seines Freundes Schlegel mit der Wissenschaftslehre und anschließend im Mai 1795, als er gemeinsam mit Hölderlin Fichte im Haus Niethammers, eines bekannten Kritikers von Fichtes vermeintlichem Fundamentalismus, persönlich begegnete. Insbesondere vermerkte Novalis, dass bei dieser Begegnung Anliegen mit Bezug auf Religion und Offenbarung das Gespräch bestimmten im Gegensatz zu einer abstrakten Betrachtung erster Prinzipien.Footnote 28 Erst nachdem er im Herbst 1795 eine Verwaltungsstelle in der sächsischen Regierung angenommen hatte, sollte Novalis sich nachhaltig mit Fichtes Philosophie auseinandersetzen.Footnote 29 Während dieser Zeit schrieb Novalis zwischen dem Abschluss seiner Studien in Leipzig und seinen weiteren Studien an der Freiberger Bergakademie mehrere philosophische Notizbücher, die zusammen als Fichte-Studien bezeichnet wurden. Dem Inhalt nach gehen sie weit über die Beschäftigung mit Fichte hinaus und setzen sich kritisch mit vielen der bedeutenden geistigen Anliegen der Zeit auseinander. Schließlich wurden einige der Einsichten, die in diesen Notizbüchern aufgezeichnet sind, als Blütenstaub veröffentlicht, eine Sammlung von Fragmenten, die 1798 in der romantischen Zeitschrift Athenaeum erschien.Footnote 30 In den Studien finden wir viele der geistigen Einsichten, die Novalis’ Entwicklung prägen und sein konstruktives und kritisches Verhältnis zum nachkantianischen Idealismus enthüllen sollten.Footnote 31

Novalis Herausforderungen gegenüber Fichtes Philosophie sind denen von Schlegel und Hölderlin ähnlich. Vor allem macht er Einwände gegen den vermeintlichen Fundamentalismus des ‚Ich‘ in der Wissenschaftslehre geltend, indem er die Frage stellt: „Hat Fichte nicht zu willkürlich alles ins Ich hineingelegt?“Footnote 32 Novalis behauptet, dass das ‚Ich‘ das ‚Nicht-Ich‘ erfordert: „Die Handlung. Daß Ich sich als Ich setzt muß mit der Antithese eines unabhängigen Nichtich und der Beziehung auf eine sie umschließende Sfäre verknüpft seyn – diese Sfäre kann man Gott und Ich nennen.“Footnote 33 Dadurch entsteht jedoch eine paradoxe Formulierung: „Das Bewußtseyn ist ein Seyn außer dem Seyn im Seyn.“Footnote 34 Das heißt, das Bewusstsein verortet das Selbst innerhalb des Seins, aber durch die Konzeptualisierung des Seins stellt es sich auch außerhalb des Seins. Um dieses Problem zu lösen, wendet sich Novalis dem Gefühl zu; alle Erkenntnis, so lautet seine Überlegung, ist bestimmt, d. h. durch das Urteil konzeptualisiert.Footnote 35 Doch wie Jacobi geltend gemacht hatte, haben wir vor dem Urteil ein vorbegriffliches Verhältnis zur Existenz, das nicht Wissen, sondern Gefühl ist. Infolgedessen bleibt das Gefühl des absoluten Seins, das wir haben, nicht-begrifflich und ist daher kein Wissen. Dadurch gelangt Novalis zu dem, was er als die nicht-paradoxe Formulierung betrachtet, nämlich daß „[d] as Bewußtseyn […] folglich ein Bild des Seyns im Seyn [ist].“Footnote 36 Doch bietet dies keine Lösung, sondern zeigt vielmehr ein größeres Problem mit der Natur des diskursiven, begrifflichen Wissens im Allgemeinen auf. Der Versuch, das nicht-begriffliche Gefühl des transzendenten absoluten Seins in eine begriffliche und damit begrenzte Form zu bringen, war ein Scheinsatz.Footnote 37 Der eigentliche Begriff des transzendenten Absoluten beinhaltet eine Unmöglichkeit, da die Bestimmtheit sein unendliches, unbedingtes und unteilbares Wesen untergräbt.Footnote 38 Novalis dehnt dann diese Einsicht auf das gesamte Denken aus: „In jedem Augenblicke, in jeder Erscheinung wirckt das Ganze […]. Es ist alles, es ist überall; in ihm leben, weben und werden wir seyn.“Footnote 39 Doch die Bestimmtheit abstrahiert das, was auch immer ihr Subjekt sein mag, von seinem wahren Wesen innerhalb des Ganzen. Wenn Urteile Begriffe auf Subjekte anwenden und das Unbestimmte bestimmen, wird ein Teil zu seinem eigenen Ganzen.Footnote 40 Diese Überlegung führt Novalis zu der scheinbar radikalen Schlussfolgerung, dass „[a]ller Denkstoff […] Scheinstoff [ist].“Footnote 41

Das Gefühl, so Novalis, scheint in die entgegengesetzte Richtung zu wirken. Während unsere begrifflichen Urteile das Ganze zu einem Teil machen, macht das Gefühl einen Teil zum Ganzen. Das Gefühl, schreibt er, „muß […] scheinen, als gienge es vom Beschränkten zum Unbeschränkten […]“.Footnote 42 Novalis bietet eine in etwa parallele Struktur zwischen dem Schein vernunftgemäßer Bestimmtheit und der Erscheinung des nicht-begrifflichen Gefühls: Die vernunftgemäße Bestimmtheit nimmt ein Ganzes, zerteilt es und präsentiert dann auf problematische Weise ein Teil als ein Ganzes an sich, wohingegen das Gefühl eine begrenzte Kapazität nimmt und seinen Gegenstand als unbegrenzt präsentiert, wenn es in Wirklichkeit vom Unbegrenzten zum Begrenzten fortschreitet. Infolgedessen gilt das, was Novalis über das Gefühl sagt, auch für das Denken: „Sobald das Absolute […] als Accidens, oder halb erscheint, so muß es verkehrt erscheinen – das Unbeschränkte wird beschränkt et vice versa.“Footnote 43 Diese Dualität des inneren Gefühls und äußeren Wissens spiegelt dieselbe Dualität wider, die in den Philosophien von Fichte und Spinoza erschien. Obwohl Novalis’ Ausgangspunkt häufig Fichte ist, spielt Spinoza, „der Mann der gotttrunken ist“, wie Novalis ihn bekanntlich nannte, eine wichtige Rolle bei der Betrachtung der Fichte-Studien.Footnote 44 Novalis war insbesondere von der Vorstellung der Einheit der Substanz beeindruckt und der Idee der geistigen Liebe Gottes, die ihn an das Denken des Gründers der Herrnhuter Brüder, Nicolaus Zinzendorf, erinnerte. Diese Liebe verlangt von uns, dass wir uns durch die Vernunft mit der Welt aussöhnen und stellt einen Kontrapunkt zu Fichtes ‚Ich‘-zentriertem revolutionären Aufruf zur Veränderung der Welt dar.Footnote 45

Die Tatsache, dass sowohl die Position Spinozas als auch die Fichtes sich als problematische immanente Absoluta präsentierten, führte Novalis dazu, eine Position zu suchen, die beide transzendieren und somit vereinigen würde. Zu diesem Zweck musste er den Punkt der Identität oder das gemeinsame Prinzip zwischen beiden finden, das er mit dem transzendenten Gott identifizierte: „Spinotza stieg bis zur Natur – Fichte bis zum Ich, oder der Person. Ich bis zur These Gott.“Footnote 46 Gott stellt die Sphäre dar, die sowohl die Natur als auch das Selbst umfasst.Footnote 47 Wenn wir alles von entweder der Natur oder der Person in beiden Fällen abstrahieren, so Novalis, gelangen wir zu Gott.Footnote 48 In dieser Hinsicht „[ist] Transzendenz und Immanenz […] Eins, nur umgekehrt.“Footnote 49 Wie sein Vorgänger Nikolaus von Kues wendet sich Novalis an ein geometrisches Bild, um dies auszudrücken zu versuchen: Die Natur und das ‚Ich‘ sind eins, so Novalis, wie zwei Pyramiden mit einer einzigen Spitze oder wie eine einzige Linie, auf der man sich in entgegengesetzten Richtungen bewegt.Footnote 50 Auf diese Weise werden die Systeme von Fichte und Spinoza gleichermaßen als unvollständig gekennzeichnet. Sie erfordern ein weiteres übergreifendes göttliches Prinzip, um sie beide miteinander zu vereinen. Diese Vereinigung sollte das Ziel des Allgemeinen Brouillon werden.

3 Das Allgemeine Brouillon und ein neues System der Erkenntnis

Im Dezember 1797, acht Monate nach Sophies Tod, erreichte Novalis die Freiberger Bergwerkakademie. Dort nahm er an der erstrangigen Institution Europas, die sich der Mineralogie und Geologie widmete, sowohl ein praktisches als auch ein wissenschaftliches Studium auf. Dies sollte ihn auf eine tragfähige, künftige Laufbahn vorbereiten, ihn aber auch dazu anregen, sein höchstgestecktes Projekt in Angriff zu nehmen, Das Allgemeine Brouillon, eine Enzyklopädie aller Wissenschaften, die auf die göttliche Synthese von Idealismus und Realismus durch eine höhere Form der Erkenntnis abzielte:

Es dünckt dem Menschen, als sey er in einem Gespräch begriffen, und irgend ein unbekanntes, geistiges Wesen veranlasse ihn auf eine wunderbare Weise zur Entwicklung der evidentesten Gedanken. Dieses Wesen muß ein Höheres Wesen seyn, weil es sich mit ihm auf eine Art in Beziehung setzt, die keinem an Erscheinungen gebundenen Wesen möglich ist […]. Dieses Ich höherer Art verhält sich zum Menschen, wie der Mensch zur Natur, oder wie der Weise zum Kinde.

Darthun läßt sich dieses Factum nicht. Jeder muß es selbst erfahren. Es ist ein Factum höherer Art, das nur der höhere Mensch antreffen wird. Die Menschen sollen aber streben es in sich zu veranlassen.

Die Wissenschaft, die hierdurch entsteht ist die höhere Wissenschaftslehre.Footnote 51

Diese höhere vereinigende Wirklichkeit, die einen höheren Menschen erfordert, machte es notwendig, dass Novalis „ein lebendiges, wissenschaftliches Organon [hervorbrachte]“,Footnote 52 das zu dieser Erhöhung in der Lage war. Das Grundproblem der Philosophie bestand darin, dass sie die Erkenntnis, die wir besitzen, mit ihrer endgültigen Form verwechselte. Stattdessen hat alle Erkenntnis an etwas Größerem als sie selbst teil, und zwar ungeachtet dessen, ob sie ihre Erkenntnis im Selbst oder in der Natur hat. Diese neue höhere Wissenschaftslehre hatte daher die grundlegende Aufgabe, die Erkenntnis sowohl auf eine systematische Einheit hin zu regeln als auch nachzuweisen, dass diese Erkenntnis relativ zum Absoluten ist, wobei sie am Ende etwas Ähnliches erreicht wie Schlegels Mythologisierung aller Erkenntnis oder Hölderlins Auflösung aller Erkenntnis, und zwar beide Male mit Bezug auf das transzendente Absolute.Footnote 53

Bei der Abfassung seiner Enzyklopädie reproduzierte und kritisierte Novalis die Encyclopédie der Aufklärung (1751–1780) der französischen philosophes Denis Diderot und Jean-Baptiste D’Alembert. Das Ziel der Encyclopédie bestand darin, eine alphabetische Zusammenstellung des menschlichen Wissens zu bieten, die die einzelnen Unterteilungen des Wissens auf der unbezweifelbaren Grundlage der Vernunft der Aufklärung hervorhob. Obwohl Novalis das Projekt der philosophes als Inspiration zitiert, zielte seine „neue Auffassung von Idealismus und Realismus“ auf die zukünftige Harmonisierung allen Wissens ab, um die Möglichkeit einer „absolut universalen Wissenschaft“ und die zukünftige Harmonisierung des Wissens nachzuweisen.Footnote 54 In diesem Sinne war Novalis’ andere Hauptinspiration Fichte. Das Ziel seiner Wissenschaftslehre war ebenso hochgesteckt, aber sein idealistischer Geltungsbereich war eng.Footnote 55 Novalis kritisierte Fichte sowie Kant wegen ihres abstrakten und „unpoetischen“ Stils. Die Sprache der Philosophie hatte Novalis zufolge intrinsische Grenzen, die nur ihre poetische Verwendung übertreffen konnte: „Es giebt eine philosophische, eine kritische, eine mathematische, eine poëtische, eine chemische, eine historische Wissenschaftslehre.“Footnote 56 Diese Idee einer „höheren Wissenschaftslehre“ steht hinter dem Enzyklopädieprojekt.Footnote 57

4 Der mathematische Begriff des poetischen Potenzials

Viele Quellen flossen in Novalis Erforschung der systematischen Struktur aller Erkenntnis ein. Doch sind seine Verwendung der Mathematik und der platonischen Tradition von besonderer Bedeutung für das Verständnis des Enzyklopädieprojekts. In seinen Notizbüchern zur ersten Kritik hatte Novalis keine Einwände gegen Kants Grundprämisse bezüglich der transzendentalen Natur der menschlichen Erkenntnis. Doch wie viele seiner Zeitgenossen versuchte er, die strikten Grenzen zu überwinden, die Kant der Philosophie auferlegt hatte. Novalis stellt die Frage, ob es nicht noch eine andere Form von „nicht-sinnlicher Erkenntnis“ gäbe über diejenige hinaus, die wir in der Mathematik finden.Footnote 58 Kant zufolge war die Mathematik in der Lage, Bilder wie das eines Dreiecks zu konstruieren, ohne auf die empirische Erfahrung zurückzugreifen.Footnote 59 Insofern war sie im Besitz einer produktiven Fähigkeit, die für die spekulative Metaphysik unmöglich war.Footnote 60 In seinen Notizen zu einem der mathematischen Lehrbücher, die er in Freiberg las, hob Novalis eine Beschreibung dieser produktiven Fähigkeit hervor, bei der die Mathematik nicht diskursiv wie die Philosophie vorgeht, sondern anschaulich, indem sie nicht aus Begriffen schließt, sondern sie konstruiert.Footnote 61 In einer Korrektur von Kants Behauptung, dass die Mathematik „das Paradigma und das Mittel aller Evidenz in den anderen Wissenschaften“ sein sollte, stellt Novalis fest, dass „das Verfahren des Mathematikers […] nicht individuell“ ist.Footnote 62 Er beschreibt eine „Plastisirungsmethode“, anhand deren die Mathematik Begriffe herstellt. Alle Philosophie und Wissenschaft, so Novalis weiter, sollte ebenso verfahren.Footnote 63 Während die Mathematik mit Figuren arbeitet, arbeitet die Philosophie mit Worten, die ebenfalls modelliert werden können, und zwar bis zu dem Punkt, an dem die Worte selbst wie Figuren werden: „Figurenworte [sind] die Idealworte der übrigen Gedancken und Worte.“Footnote 64 Solche idealen Worte sind das Produkt der Phantasie und das Ergebnis des Genies.Footnote 65 Der Idealzustand besteht darin, dass alle Worte zu solchen Figurenworten werden. An diesem Punkt sind die Worte völlig selbstgenügsam wie Zahlen oder Noten in der Musik und lassen nur sich selbst erklingen:

Das wird die goldne Zeit seyn, wenn alle Worte – Figurenworte Mythen – und alle Figuren – Sprachfiguren – Hieroglyfen seyn werden – wenn man Figuren sprechen und schreiben – und Worte vollkommen plastisiren, und Musiciren lernt.

Beide Künste gehören zusammen, sind unzertrennlich verbunden und werden zugleich vollendet werden.Footnote 66

Das Potenzial jedes Wortes, zu einem idealen Figurenwort zu werden, stellt den begrifflichen Schlüssel zu Novalis’ enzyklopädischer Auffassung von Erkenntnis, Sprache und Poetik dar.

In einem anderen Lehrbuch zur Infinitesimalrechnung hebt Novalis die Methodologie hervor, durch die die Sprache von diesem Ideal getrennt wird.Footnote 67 Novalis bemerkt: „Man transportirt gleichsam das Ganze in einen Theil, um die Natur des Theils und so indirect auch die Natur des Ganzen besser kennen zu lernen.“Footnote 68 Obwohl diese Methode im Kontext des immanenten Denkens allein zwar nicht an sich problematisch war, wurden solche Abstraktionen doch als konkrete Wirklichkeiten behandelt, indem man eine hypostasierende Nomenklatur einführte, die von wirklichen und transzendenten Ideen getrennt war. Das war die moderne Denkweise, die Novalis in Christenheit oder Europa kritisierte und die er im Werk eines seiner Lehrer in Freiberg, Abraham Gottlob Werner, einem Dozenten für Geologie und Mineralogie, beispielhaft verwirklicht sah. Novalis schrieb detaillierte Anmerkungen zu Werners System der Klassifikation von Mineralien.Footnote 69 In diesen werden seine Einwände gegen die „einseitige“ und scheinbar dogmatische Verwendung äußerer Merkmale allein zur Klassifikation von Mineralien dargelegt.Footnote 70 Obwohl es auf objektiven empirischen Beobachtungen beruhte, war Werners Klassifikationssystem symptomatisch für den engstirnigen instrumentellen Gebrauch einer immanenten hypostasierten Sprache in der Naturwissenschaft, die von den realistischen Ideen getrennt war, welche an der materiellen Wirklichkeit teilhatten und die die Dinge zu dem machten, was sie waren. Dadurch wurde unser Verständnis begrenzt und Wörtern der Status von wenig mehr als semantischen Abstraktionen gegeben, die willkürlich Dingen zugeordnet wurden. Das ließ die Menschen im Grunde für die Sprache taub werden, die die Natur bereits sprach: „Der Mensch spricht nicht allein – auch das Universum spricht – alles spricht – unendliche Sprachen.“Footnote 71 Die Folge war, dass die Einheit des Wissens durch den Ausschluss der Möglichkeit einer Reihe anderer Klassifikationsmittel untergraben wurde.Footnote 72

Der Schlüssel zur Überwindung der Einengung und Zerstückelung der Naturwissenschaften bestand darin, das mathematische Potenzial jedes Wortes aufzuzeigen und damit die Fähigkeit jedes Gegenstands, sich mit einem anderen zu verbinden oder zu trennen, wie es die Zahlen tun, ohne ihr Wesen zu verlieren: „Zählen ist eine analytisch synthetische Operation. Es ist die Einung einer Menge. Es ist ein Homogenëisiren und Heterogenëisiren zugleich – ein Begreifen und unterscheiden zugleich – und im Wechsel.“Footnote 73 Wenn Novalis schreibt, dass „die gesamte Naturwissenschaft Mathematik werden sollte“, pocht er darauf, dass die mathematische Potenzialisierung allen Wissens in höherer Potenz in Richtung auf göttliche Einheit oder in niedrigerer Potenz in Richtung auf individuelle Dinge verwirklicht werden sollte.Footnote 74

5 Die platonische Struktur des poetischen Potenzials

Während die Mathematik für Novalis den Begriffsapparat in Form von Figurenworten und ihrer romantischen Potenzialisierung lieferte, bot der Platonismus eine heuristische metaphysische Struktur, innerhalb deren diese Operation durchgeführt werden konnte. Novalis hatte ohnehin eine Neigung zum Platonismus, und zwar insbesondere durch seine Lektüre von Hemsterhuis.Footnote 75 Doch war es seine Entdeckung von Plotin, die für die Entwicklung der „Romantisirung“ den Ausschlag gab.Footnote 76 Seine Berührung mit Plotin war nicht direkt, sondern vermittelt durch Dietrich Tiedemanns philosophische Geschichte Geist der spekulativen Philosophie (1793).Footnote 77 Novalis spürte, dass er die widersprüchlichen Einsichten von Spinozas Rationalismus und Fichtes Idealismus dadurch vereinen konnte, dass er einen transzendenten Grund und ein System für beide lieferte.

In seiner Darstellung Plotins bot Tiedemann einen gründlichen Überblick über die wichtigsten Bestandteile seiner Philosophie und stellte zusätzlich Vergleiche mit Problemen der zeitgenössischen Philosophie an. In einigen Fällen stellen wir fest, dass Tiedemann Plotin positiv mit der Entwicklung des Idealismus vergleicht, indem er die Rolle des Geistes bei der Strukturierung der Erfahrung betont, während er ihn an anderen Stellen weniger positiv mit Spinoza vergleicht, indem er behauptet, dass dessen Philosophie Gegenstände der sinnlichen Welt auf bloße Modifikationen der Gottheit reduziert.Footnote 78 So beschreibt Tiedemann Plotin letzlich als einen unentschlossenen Philosophen, der zwischen einem unvollkommenen Idealismus und einer fehlerhaften Form des Realismus hin und her schwankte.Footnote 79 Ironischerweise war das, was Tiedemann als einen Fehler hervorhob, genau das, wonach Novalis suchte. In einem früheren Fragment vor seiner Lektüre Tiedemanns sagt Novalis gerade Folgendes: „Das Abstracte soll versinnlicht, und das Sinnliche abstract werden – Entgegengesetzte Operationen – die eine mit der Andern besteht und vollendet wird. Neue Ansicht von Idealismus und Realismus.“Footnote 80 Plotin ermöglichte Novalis, diese „neue Sichtweise“ durch seinen zentralen Begriff der Emanation zu erreichen. Darüber hinaus bedeutete Tiedemanns Einwand, dass Plotin zwischen einem spinozistischen Realismus und einem Fichteschen Idealismus hin und her schwankt, dass seine Darstellung der Emanation den Begriff nie auf eine entweder zeitliche ideale Operation oder auf die physische Entfaltung einer komplexen Einheit reduzierte. Vielmehr verstand Novalis die Emanation richtig, nämlich im Sinne einer atemporalen ontologischen Abhängigkeit.Footnote 81

Eine der entscheidenden Einsichten, zu denen Novalis gelangt, betrifft die Rolle der Hypostasen bei der Erklärung von Einheit und Verschiedenheit. Für Plotins Denken ist die Vorstellung zentral, dass die Einheit der Individualität vorhergeht, da die Dinge von der Einheit abhängen, um Einzeldinge zu sein. Plotin zufolge ist die Seele sowohl ein Vieles als auch ein Eines.Footnote 82 Durch ihre Vielheit von Vermögen wie Vernunft, Begehren und Auffassungsgabe gestattet sie Einheit, erfordert aber zugleich auch selbst Einheit.Footnote 83 Das ist durch die intensivere Einheit der nicht-diskursiven, allumfassenden Fassungskraft des Verstands möglich. Aber der Verstand ist wiederum nicht das erste Prinzip der Einheit, weil er sich selbst gegenwärtig ist und sich selbst denkt. Das ist die Rolle der reinen und schlichten Einheit des Einen, das jenseits der verstandesmäßigen Bestimmung liegt, über das man aber aufgrund der Erfahrung, die wir von ihm in uns selbst haben, sprechen kann.Footnote 84 Die Vision der Einheit und Vielheit, die von den Begriffen der Emanation und der Hypostasen eröffnet wird, lieferte die Heuristik, anhand deren Novalis in der Lage war, seine Versöhnung von Spinoza und Fichte durchzuführen.

In einem Fragment aus dem Allgemeinen Brouillon schreibt Novalis: „Das logische Schema der Wissenschaft hat Fichte gleichsam zum Muster einer realen Menschenkonstruction und Weltkonstruction gewählt. [Das ist] [s]eine Aenlichkeit mit Plotin.“Footnote 85 Hier setzt Novalis die Macht des Fichteschen ‚Ich‘ mit der des Plotinschen Verstandes gleich. Doch für Fichte war die intellektuelle Anschauung des ‚Ich‘ die Wahrnehmung des eigenen Selbst bei der Ausführung jenes Aktes, in dem das Ich im Selbst entsteht. Das Problem mit Fichte ist Novalis zufolge das subjektzentrierte Wesen dieser Behauptung, die zwar in der Lage war, eine höchste Einheit zu gewähren, aber an der Erklärung der Verschiedenheit scheiterte. Daher war das Denken der Idealisten Novalis zufolge unvollständig. In einem nachfolgenden Fragment schreibt er: „Die Hypostase versteht Fichte nicht – und darin fehlt ihm die andre Hälfte des Schaffenden Geistes. Ohne Ekstase – fesselndes, alles ersetzendes Bewußtsein – ist es mit der ganzen Philosophie nicht weit her. (Spinotzas Zweck.).“Footnote 86 Hier setzt Novalis Spinozas Monismus und insbesondere seine intellektuelle Liebe zu Gott, die anschauliche Vereinigung zwischen Gott und Mensch, mit Plotins Einem und der ekstatischen Sehnsucht gleich, die die Seele zum Einen erhebt. Tiedemann hatte Plotins erstes Prinzip so beschrieben, dass es durch Ekstase begründet wird.

In diesen Fragmenten kann man beobachten, wie Novalis in der Lage ist, sowohl die Konvergenz von Spinoza und Fichte zu sehen als auch zugleich die Begrenzungen ihrer immanenten Logik zu transzendieren. Zusammen mit dem mathematischen Modell der Potenzialisierung war dies entscheidend für die Entwicklung seiner Vorstellung der „Romantisirung“. In einem aufschlussreichen Fragment schreibt Novalis darüber, wie Plotin die philosophischen Früchte erreicht hatte, die sich den Idealisten entzogen. Er schreibt, dass Plotin bereits durchweg sowohl Idealist als auch Realist war. Im Unterschied zu Kant und Fichte, die „völlig unpoetisch“ blieben, war Plotin in der Lage „mit Leichtigkeit und Mannigfaltigkeit“ zu denken, indem er einsah, dass beide Richtungen des Denkens aus einem gemeinsamen transzendenten absoluten Grund entstanden.Footnote 87 Diese Einsicht setzt Novalis durch seinen Begriff der „Romantisirung“ in einem seiner bekanntesten Fragmente in die Tat um:

Die Welt muß romantisirt werden. So findet man den ursprünglichen Sinn wieder. Romantisiren ist nichts als eine qualitative Potenzirung. Das niedre Selbst wird mit einem bessern Selbst in dieser Operation identificirt. So wie wir selbst eine solche qualitative Potenzenreihe sind. Diese Operation ist noch ganz unbekannt. Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geimnißvolles Ansehen, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe so romantisire ich es – Umgekehrt ist die Operation für das Höhere, Unbekannte, Mystische, Unendliche – dies wird durch diese Verknüpfung logarythmisirt – Es bekommt einen geläufigen Ausdruck. Romantische Philosophie. Lingua romana. Wechselerhöhung und Erniedrigung.Footnote 88

Novalis beschreibt eine Art von Fortschreiten und Rückkehr anhand der mathematischen Analogie von Exponential- und Logarithmusfunktionen,Footnote 89 aber, wie er sagt, transponiert von der Quantität zur Qualität. Das niedrige Selbst, das wir mit der Seele und der Wahrnehmung gleichsetzen können, lässt sich exponentialisieren und mit einem höheren Selbst identifizieren, das wir mit dem Intellekt und der Tätigkeit des Geistes gleichsetzen können. Es ist zwar nicht möglich, Novalis’ spezifische Quelle genau anzugeben, aber die berühmte Passage aus den Enneaden, die die Tätigkeit des Geistes als das Erkenntnisparadima beschreibt, in dem sich die Sinneswahrnehmung entfalten kann, spiegelt sich in Novalis’ Überlegung wider: „Und somit sind die Wahrnehmungen hier trübe Denkakte, die Denkakte dort aber klare Wahrnehmungen.“Footnote 90 Das ist die Potenzialisierung der idealistischen Position. Auf ähnliche Weise haben wir das Umgekehrte bei Spinozas Position, verstanden als eine qualitative logarithmische Funktion. Mit dieser Verknüpfung von mathematischen und Plotinschen Einflüssen war Novalis in der Lage, die immanenten Ontologien von Spinoza und Fichte zu transzendieren. Novalis’ Akt der Romantisierung ist keine Mathesis, verstanden als kartesische Quantifizierung der Wirklichkeit, die durch identische Wiederholung und Anhäufung gekennzeichnet ist. Vielmehr ist sie ein Akt der höheren Methexis, der Qualifizierung der Wirklichkeit, die durch nicht-identische Wiederholung mit Bezug auf einen transzendenten Bezugsgegenstand gekennzeichnet ist. Als solche ist die Romantisierung keine willkürliche Ausübung des Willens oder eine gefühlsbetonte Befriedigung, sondern eine kreative Neugestaltung der Welt, die der immanenten Wirklichkeit gestattet, die größere transzendente göttliche Wirklichkeit zu offenbaren, an der sie teilhat. Mit dieser Methode wird das Weltliche und Prosaische durch seine Erhöhung zu einer Stellung wiederverzaubert, die seine Rolle im kosmischen partizipatorischen Spiel von Endlichem und Unendlichem, Immanentem und Transzendentem zeigt.

Im Ausgang von seinen mathematischen und plotinschen Quellen entwickelte Novalis ein systematisches Verständnis der Erkenntnis, das aus einer aufsteigenden Hierarchie bestand, welche in der Lage sein sollte, die enge Instrumentalisierung der Sprache durch die Naturwissenschaft und das immanente Denken der modernen Philosophie zu überwinden. Dies wurde durch das ermöglicht, was Novalis verschiedentlich als Potenzialisierung, Romantisierung oder magischen Realismus bezeichnete, von denen jedes Element sich an der Tätigkeit des intellektuellen Aufstiegs beteiligte: „Die Erhebung ist das vortrefflichste Mittel, was ich kenne, um auf einmal aus fatalen Collisionen zu kommen. So z. B. die allgemeine Erhebung in Adelstand – die Erhebung aller Menschen zu Genies die Erhebung aller Phaenomène im Wunderstand – der Materie zu Geist – des Menschen zu Gott aller Zeit zur goldenen Zeit etc.“Footnote 91 Diese Tätigkeit, so Novalis, „läßt sich […]. bis zur absoluten Universalwissenschaft fortsetzen.“Footnote 92 Auf diese Weise können wir uns der „Totalwissenschaft“ annähern, die in der Antike existierte, die im Laufe der Geschichte aufgrund des Mangels an Genie zerstückelt wurde und verloren ging, wie Novalis in Christenheit oder Europa skizziert hatte.Footnote 93 Das Ziel der poetischen Potenzialisierung war nicht weniger als die „Wiederherstellung des Paradieses“:Footnote 94 „Das Paradies ist gleichsam über die ganze Erde verstreut und daher so unkenntlich etc. geworden – Seine zerstreuten Züge sollen vereinigt – sein Skelett soll ausgefüllt werden.“Footnote 95 Obwohl diese letzte Einheit nie völlig erreicht werden konnte, war sie doch das Ziel einer unendlichen Annäherung, ebenso wie im Denken Schlegels und Hölderlins: „Philosophie ist, wie der Stein der Weisen die Quadratur des Zirkels etc. – eine bloße Aufgabe der Szientifiker – das Ideal der Wissenschaft überhaupt.Footnote 96

Eines der Ergebnisse der Romantisierung ist der „magische Realismus“, ein Denkvermögen, das letztlich dem Willen gestatten sollte, eine „Actio in distans“ auszuüben.Footnote 97 Doch diese Fähigkeit war keine solche, die Gegenstände physisch durch die Macht des Geistes aufgrund einer okkulten Kraft bewegen konnte. Vielmehr war die Bewegung, die Novalis beschreibt, eine geistige; der Prozess der Romantisierung ist in der Lage, „Gedanken […] zu äußern Dingen [zu] machen [… und] äußer[e] Dinge zu Gedanken“,Footnote 98 indem sie die Natur in ein Kunstwerk verwandelt, sodass sie ihre inhärente Totalität wiedergewinnt, wie Moritz und Schlegel behauptet hatten. Dabei kehren wir zur Teilhabe an der Natur zurück, und wir beobachten einmal mehr, wie die Natur an uns teilhat, ein Prozess, den Novalis in einer der poetischsten Passagen des Allgemeinen Brouillon beschreibt:

Alles Vollendete spricht sich nicht allein – es spricht eine ganz (mit)verwandte Welt aus. Daher schwebt um das Vollendete jeder Art der Schleyer der ewigen Jungfrau – den die leiseste Berührung in magischen Duft auflöst, der zum Wolkenwagen des Sehers wird. Es ist nicht die Antike allein die wir sehn – Sie ist der Himmel, das Fernrohr – und der Fixstern zugleich – und mithin eine ächte Offenbarung einer höheren Welt. […]

Sie sind so gemacht, wie die Geliebte, durch das Verabredete Zeichen des Freundes in der Nacht – wie der Funken durch die Berührung der Leiter – oder der Stern durch die Bewegung im Auge. Gerade so, wie der Stern im Fernrohr erscheint und dasselbe durchdringt – eben so eine himmlische Gestalt in der Marmorfigur. […]

Mit jedem Zuge der Vollendung springt das Werk vom Meister ab in mehr, als Raumfernen – und so sieht mit dem letzten Zuge der Meister, sein vorgebliches Werk durch eine Gedankenkluft von sich getrennt – deren Weite er selbst kaum faßt – und über die nur die Einbildungskraft, wie der Schatten des Riesen Intelligenz, zu setzen vermag. In dem Augenblicke, in dem es ganz Sein werden sollte, ward es mehr, als er, sein Schöpfer – er zum unwissenden Organ und Eigenthum einer höhern Macht. Der Künstler gehört dem Wercke und nicht das Werck dem Künstler.Footnote 99

Die schwer fassbare Vollkommenheit, die Novalis in dieser Passage beschreibt und die sowohl romantisiert als auch romantisierend ist, sollte später als die berühmte blaue Blume in Heinrich von Ofterdingen ihren Ausdruck finden. Beide charakterisieren das Absolute als etwas, das zugleich vertraut und unmöglich ist. Das transzendente Absolute löst sich auf, wenn es wahrgenommen wird, aber in seiner Auflösung wird es zum Mittel, mit dem wir in die oberen Bezirke der Himmelssphäre reisen können wie der Wagen von Phaidros. Diese Möglichkeit ist jedoch nicht nur auf die antike Vergangenheit beschränkt, wie die blaue Blume beweist; sie ist auch Teil der natürlichen Welt.

Im letzten Teil der Passage wendet sich Novalis von der Natur zur Kunst und dem transzendenten Absoluten sowie der Beziehung zwischen Kunst und Künstler. Er beschreibt, wie in dem Augenblick, in dem der künstlerische Gegenstand vollendet ist, der Künstler nicht in der Lage ist, seine Schöpfung irgendwie anders als durch die Phantasie zu verstehen, da es zu einer Totalität für sich geworden ist. Daher ist das Verhältnis des Künstlers zu ihm umgekehrt: Er gehört dem Werk und nicht das Werk ihm. Hier ist das Ästhetische das höhere Prinzip, durch das Einheit erreicht wird. Die Schlusszeilen dieser Passage kündigen das Schicksal des enzyklopädischen Projekts an. Novalis schrieb seinen letzten Eintrag in die Enzyklopädie-Notizbücher im März 1799. Die Vorstellung des Figurenworts, das wie die reine Zahl nur sich selbst bedeutet, bot ein Mittel, Worte aus ihrer zunehmenden Instrumentalisierung zu befreien. Wenn diese Figurenwörter in die heuristische Struktur gestellt wurden, die der Platonismus anbot, wurden Worte ebenso wie die Natur Chiffren für das Absolute. Dadurch wurde Worten zwar ihre Unabhängigkeit gewährt, sie wurden aber auch in einen partizipatorischen Rahmen gestellt, der nur durch ihre poetische Potenzialisierung verwirklicht werden konnte. Entsprechend ließ Novalis die Enzyklopädie unvollendet, um seine Aufmerksamkeit völlig poetischen Bestrebungen und der Abfassung von Hymnen an die Nacht, Die Lehrlinge zu Sais und Heinrich von Ofterdingen zuzuwenden, was auf seine eigene Bewusstwerdung dessen hinwies, dass er nur in der Sprache der Ästhetik und in der Tätigkeit poetischer Schöpfung sich der höheren Einheit annähern konnte, nach der das Allgemeine Brouillon suchte.

6 Die Poetisierung des Todes in Hymnen an die Nacht

Novalis’ Hymnen an die Nacht erforschen einige der Hauptthemen der philosophischen Notizbücher. Veröffentlicht im Jahre 1800 in der Zeitschrift Athenaeum, waren sie das Ergebnis der drei Jahre seit Sophies Tod. In den Hymnen wird sie zum Angelpunkt für ein poetisches Projekt, das praktisch ausführt, was das Allgemeine Brouillon theoretisch zu erreichen versuchte: die Vereinigung des Idealen und Realen, die in dem Gedicht als Leben und Tod dargestellt werden, in einem höheren Prinzip. Die Hymnen erforschen zwar einige der Hauptthemen der philosophischen Notizbücher, aber anhand der äußerst persönlichen Erfahrungen von Novalis’ Trauer. Ihre besondere Entstehung lässt sich in der berühmten Verwandlung Sophies verorten, die Novalis an ihrem Grab erlebte und die in der dritten Hymne festgehalten ist:

Hin floh die irdische Herrlichkeit und meine Trauer mit ihr – zusammen floß die Wehmut in eine neue, unergründliche Welt – du Nachtbegeisterung, Schlummer des Himmels kamst über mich – die Gegend hob sich sacht empor; über der Gegend schwebte mein entbundner, neugeborner Geist. Zur Staubwolke wurde der Hügel – durch die Wolke sah ich die verklärten Züge der Geliebten. […] Es war der erste, einzige Traum – und erst seitdem fühl ich ewigen, unwandelbaren Glauben an den Himmel der Nacht und sein Licht, die Geliebte.Footnote 100

Dieser Moment erotisch-mystischer Verwandlung wäre begrifflich nicht möglich gewesen, wenn es die philosophischen Überlegungen nicht gegeben hätte, die ihr vorangingen. Über ihre ästhetischen Verdienste hinaus entwickeln die Hymnen Novalis’ philosophische Anliegen. Die poetische Gattung gestattet eine rhetorische Umkehrung, die die Potenzialisierung Sophies zu Christus ermöglicht. Der Text besteht aus sechs Hymnen, von denen die ersten vier in einem gebrochenen aphoristischen Stil geschrieben sind, der Prosa- und Versform miteinander verknüpft und die Umkehrung von Licht und Dunkelheit ausführt. Danach folgen die beiden letzten Hymnen, die in einem gemesseneren poetischen Stil geschrieben sind. Während es in dem ersten Abschnitt um die Sehnsucht nach der Wiedervereinigung mit seiner Geliebten im Tod geht, die durch die Ablehnung des Lichts und die Umklammerung der Dunkelheit erreicht wird, potenzialisiert die zweite das Persönliche zum Universellen, indem sie zu Christus und einem welthistorischen Kontext wechselt.

Anfänglich wird das Licht als des „Lebens innerste Seele“Footnote 101 beschrieben, deren Gegenwart die Wunder der Welt zu erkennen gibt, und die Nacht als „eine tiefe Gruft versenkt – wüst und einsam“.Footnote 102 Doch nach der Neubewertung betrachtet Novalis das Licht als „arm und kindisch“, beschränkt auf des „Lichtes Fessel“, d. h. Verursachung und diskursives Denken, im Vergleich zur unendlichen Fähigkeit, die in der Nacht schlummert. Die Endlichkeit des Lichts und die Unendlichkeit der Nacht korrelieren mit dem ‚Ich‘ und dem transzendenten Absoluten. Dementsprechend behauptet Novalis auch den ontologischen Vorrang der Nacht; sie ist „die hohe Verkündigerin heiliger Welten“, wohingegen das Reich des Lichts nur mit „unseliger Geschäftigkeit“ zu tun hat.Footnote 103 Während das Licht auf die Reichweite seiner Strahlen begrenzt ist, erlaubt uns die Nacht, mit „unendlichen Augen“ in die Ewigkeit zu blicken.Footnote 104 Infolgedessen gestattet sie Novalis, seiner Geliebten näher zu kommen, und lässt den Unterschied zwischen Selbst und anderem verschwimmen: „denn ich bin Dein und Mein“.Footnote 105 Der Eros wird erneuert, da Sophies Grab zum Bett der Liebenden wird und die Nacht zum Wächter ihrer erotischen Vereinigung. Daher stellt Novalis die Frage: „Welche Wollust, welchen Genuß bietet dein Leben, die aufwögen des Todes Entzückungen?“Footnote 106 Diese rhetorische Umkehrung ermöglicht Novalis, das Ziel seiner unendlichen Leidenschaft zu romantisieren und ihn von der Endlichkeit zum Unendlichen hin zu potenzialisieren. In der Nacht, wenn die Beschränkungen von Zeit und Raum wegfallen und Sophies Grabhügel sich vor ihm auflöst, erscheint sie, und „in ihren Augen ruhte die Ewigkeit“.Footnote 107

In den letzten beiden Hymnen führt Novalis den poetischen Prozess weiter vom Persönlichen zum Weltgeschichtlichen. Er beschreibt drei spirituelle Zeitalter, die denen gleichen, die in Christenheit oder Europa dargelegt wurden. Das erste ist ein kindgleicher Zustand des Lichts, in dem die Natur zwar voller Götter ist, aber vom Tod verfolgt wird. Das zweite ist ein Zeitalter der Abstraktion, in dem die Natur ohne Leben ist und die Religion sich in den Schleier der Nacht zurückzieht, zurück in „der Offenbarungen mächtige[n] Schoß“.Footnote 108 Im dritten neuen Zeitalter erscheint die Religion abermals als Kind, geboren von einer jungfräulichen Mutter „in der Armuth dichterischer Hütte“.Footnote 109 Dieser implizit christlichen Geschichte fügt Novalis die merkwürdige synkretische Figur eines griechischen Apostels hinzu, der diese christusartige Gestalt in Palästina besucht und dann nach Hindustan reist, fröhliche Liebeslieder singt und einen Glauben mit tausend Verzweigungen gründet.Footnote 110 Diese synkretische Figur webt griechische, vedische und christliche Religionen durch Christus ineinander, dessen Überwindung des Todes für Novalis die Dunkelheit der Nacht von der Furcht und dem Unbekannten erlöste. Für Novalis ist die Dunkelheit als das transzendente Absolute der Schoß, aus dem die gesamte Wirklichkeit hervorgeht und in den sie zurückkehrt. In der letzten Hymne „Sehnsucht nach dem Tode“, dem einzigen mit einer Überschrift versehenen Abschnitt der Hymnen und dem einzigen, der gänzlich in Versform geschrieben ist, beschreibt Novalis den Klang eines Echos, das aus der Ewigkeit aufsteigt:

Unendlich und geheimnisvoll

Durchströmt uns süßer Schauer –

Mir däucht, aus tiefen Fernen scholl

Ein Echo unsrer Trauer.

Die Lieben sehnen sich wohl auch

Und sandten uns der Sehnsucht Hauch.

Hinunter zu der süßen Braut,

Zu Jesus, dem Geliebten –

Getrost, die Abenddämmrung graut

Den Liebenden, Betrübten.

Ein Traum bricht unsre Banden los

Und senkt uns in des Vaters Schooß.Footnote 111

Als Echo ist dieser Klang unsere eigene Stimme, die uns zu dem Ort zurückruft, von dem wir herkamen. Er ist auch der Ruf geliebter Personen, die in die Ewigkeit eingegangen sind. Für Novalis sind Kummer und Liebe in der Dunkelheit vereint, wie sie es in der Gestalt Christi, der „süßen Braut“ waren, durch die endliche menschliche Bande zerbrochen werden und die Rückkehr zum Unendlichen ermöglicht wird. In den Hymnen ist die Nacht das Tor des Kummers, und der dunkle Eros führt zum transzendenten Absoluten. Hölderlin mag zwar mit Sophie beginnen, aber seine Romantik ist nicht die eines jugendlichen Totenkults. Wie die Universalgeschichte und -religion der letzten beiden Hymnen andeutet, gehen wir vom Licht durch die Nacht der Religion zu einer neuen Erleuchtung über.

7 Die Reise zurück nachhause: Die Lehrlinge zu Sais

Novalis arbeitete an Die Lehrlinge zu Sais während seiner Freiberger Zeit, wahrscheinlich von Ende 1797 bis irgendwann im Jahr 1800. Zentral für das Werk ist die Beziehung zwischen der Erkenntnis der äußeren Natur und des inneren Selbsts und die Rolle, die die Sprache in der Verbindung oder der Entfremdung beider spielt. Die Krankheit und sein Tod bewirkten, dass er nie wieder zu der Arbeit zurückkehrte und einen Text hinterließ, der aus zwei Kapiteln von ungleicher Länge besteht: Das erste über die Lehrlinge führt die Figuren und die Idee der Natur als einer Chiffre ein, während das zweite über die Natur ihre Ausbildung anhand einer Reihe wechselnder Stimmen skizziert, die über das Verhältnis des Menschen zur Natur reflektieren. Bei den Lehrlingen handelt es sich nicht um ein herkömmliches erzählerisches Werk, da ihm eine konventionelle Charakterisierung und eine Handlung fehlen. Stattdessen besteht es weitgehend aus Monologen oder Dialogen, deren Sprecher häufig nur schwer zu identifizieren sind. Obwohl der Ort keine ausgezeichnete Rolle spielt, evoziert der Schauplatz von Sais, der antiken Stadt im Nildelta, einen klassischen Topos. Plutarch bemerkte bekanntlich, dass der Schrein der Athene zu Sais, die er mit Isis identifizierte, die Inschrift trug „Ich bin alles, was war und ist und sein wird; und meinen Schleier hat bis jetzt kein Sterblicher gelüftet.“Footnote 112 Diese Beziehung des Einsseins und der Verborgenheit Gottes war Thema von Schillers Ballade Das verschleierte Bild zu Saïs (1795), das eines der wichtigsten Einflüsse auf das Werk neben dem Bildungsromanstil von Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795–1796) darstellt.

Die ersten Zeilen der Lehrlinge schildern die Natur als eine Chiffernschrift, die eine verborgene Sprachlehre beinhaltet.Footnote 113 Novalis legt nahe, dass unsere Erforschung der natürlichen Welt zugleich eine Erforschung des inneren Selbst ist. Selbsterkenntnis und Naturerkenntnis haben beide dasselbe einheitliche Ziel, wobei das Innere und das Äußere durch eine Lehre von Signaturen und Entsprechungen, die sich augenblicklich selbst enthüllt, miteinander verbunden sind:

Mannigfache Wege gehen die Menschen. Wer sie verfolgt und vergleicht, wird unendliche Figuren sehen; Figuren, die zu jener Chiffernschrift zu gehören scheinen, die man überall, auf Flügeln, Eierschalen, in Wolken, im Schnee, in Kristallen und in Steinbildungen, auf gefrierenden Wassern, im Innern und Äußern der Gebirge, der Pflanzen, der Tiere, der Menschen, in den Lichtern des Himmels, auf berührten und gestrichenen Scheiben von Pech und Glas, in den Feilspänen um den Magnet her, und sonderbaren Konjekturen des Zufalls erblickt.Footnote 114

In all diesen Dingen, so Novalis weiter, können wir einen Schlüssel zu dieser Wunderschrift erkennen, vielleicht sogar auch einen Schimmer ihrer Sprachlehre, und doch weigern sich diese Andeutungen einer höheren Sprache, sich jeglicher fixierten Form anzubequemen. Dieses Gefühl einer einheitlichen Sprache erscheint nur flüchtig vor uns, und dann löst sich wieder alles auf und verschwimmt vor unseren Augen.

Es gibt eine Spannung zwischen der Freiheit dieser Chiffernschrift und unserer eigenen, häufig instrumentellen, interessegeleiteten Verwendung der Sprache, wie Novalis in dem Fragment mit dem Titel Monolog beschreibt: „Darum ist [die Sprache] ein so wunderbares und fruchtbares Geheimniß, – daß wenn einer blos spricht, um zu sprechen, er gerade die herrlichsten, originellsten Wahrheiten ausspricht.“Footnote 115 Erst wenn wir etwas mit einem ganz bestimmten Zweck sagen wollen, wenn unser Interesse auf dem Spiel steht, versagt uns die Sprache, es treten Mehrdeutigkeiten auf, und wir haben Mühe, Worte zu bilden, die unseren Sinn enthalten. Dabei missverstehen und missbrauchen wir die Sprache. Worte, so Novalis, sind wie mathematische Formeln, sie „machen eine Welt für sich aus – Sie spielen nur mit sich selbst, drücken nichts als ihre wunderbare Natur aus […]. Nur durch ihre Freiheit sind sie Glieder der Natur und nur in ihren freien Bewegungen äußert sich die Weltseel und macht sie zu einem zarten Maaßstab und Grundriß der Dinge.“Footnote 116 Ebenso wie wir die Zahlen nicht dazu zwingen können, etwas anderes als sie selbst zu sein, kann die Sprache nicht gezwungen werden, etwas anderes zu sagen als ihre ursprüngliche Bedeutung, ohne ihre Bedeutungshaftigkeit an die Kontingenz zu verlieren. Wenn wir der Chiffernschrift jedoch gestatten, aus eigenem Antrieb zu sprechen, sind wir in der Lage, transzendentes Wissen zu erlangen. „[U]nd wenn kein Sterblicher“, so sagt der Lehrling, „[…] den Schleier hebt, so müssen wir unsterblich zu werden versuchen; wer ihn nicht heben will, ist kein echter Lehrling zu Sais.“Footnote 117 Das ist möglich, wenn wir der Sprache erlauben, durch uns zu sprechen: „[W]er ein feines Gefühl ihrer Applicatur, ihres Takts, ihres musikalischen Geistes hat, wer in sich das zarte Winken ihrer innern Natur vernimmt, und danach seine Zunge oder seine Hand bewegt, der wird ein Prophet sein […]“.Footnote 118 Das Sprechen dieser ursprünglichen prophetischen Sprache ist das Ziel der Ausbildung des Lehrlings in Die Lehrlinge.

Der zweite Teil von Die Lehrlinge, der den Titel „Die Natur“ trägt, beginnt mit einem Vergleich der Art und Weise, wie die Sprache in ihrer ursprünglichen Form verfährt, und wie sie verfährt, wenn sie von dieser Form abfällt: „Es mag lange gedauert haben, ehe die Menschen darauf dachten, die mannigfachen Gegenstände ihrer Sinne mit einem gemeinschaftlichen Namen zu bezeichnen und sich entgegen zu setzen.“Footnote 119 In dem Maße, wie diese Entwicklung gefördert wurde, führte sie zur zunehmenden Teilung des Verstehens, wie Licht, das in ein immer weiteres Spektrum aufgespalten wird. Der „krankhaften Prädisposition“ späterer Formen der Sprache fehlt die Kraft, diese Farben entweder in ihrer ursprünglichen Form wieder zusammenzumischen oder eine neue Einheit hervorzubringen.Footnote 120 Vor dieser Trennung von Mensch und Natur, des Idealen und Realen, waren sie eins: „[J]enen früheren Menschen [mußte] alles menschlich, bekannt und gesellig vorkommen, die frischeste Eigentümlichkeit mußte in ihren Ansichten sichtbar werden, jede ihrer Äußerungen war ein wahrer Naturzug und ihre Vorstellungen mußten mit der sie umgebenden Welt übereinstimmen.“Footnote 121 Dieser Wandel in Sprache und Erkenntnistheorie, den Novalis im Einzelnen beschreibt, ist zwar geschichtlich nicht genau, doch entspricht er dem allmählichen Niedergang der Transzendenz des Realismus und der Ersetzung seiner Grammatik der Teilhabe durch einen nominalistischen Transzendentalismus, der seinen Höhepunkt im transzendentalen Idealismus findet. Das Ergebnis dieser Entwicklung, so Novalis, lässt sich am Verlust der sprachlichen Einheit erkennen, die für Dichtung und Wissenschaft natürlich war: „Naturforscher und Dichter haben durch Eine Sprache sich immer wie Ein Volk gezeigt.“Footnote 122 In diesem Verhältnis sammelten und ordneten die Wissenschaftler, während die Dichter die Unermesslichkeit der Natur zu kleineren ansprechenden Naturen modellierten.Footnote 123 Getrennt voneinander instrumentalisieren beide jedoch die Sprache zu ihren eigenen Zwecken; sie verlieren den Kontakt mit dem Ganzen und werden zu zerstörerischen Kräften: „Unter ihren Händen starb die freundliche Natur, und ließ nur tote, zuckende Reste zurück“, während die Dichter zum Himmel hinauffahren, in gottgleichen Fantasien schwelgen, sich vom Alltäglichen entfremden und dabei die Früchte ihrer Heiterkeit vergeuden.Footnote 124

Die Zerstückelung, die sich aus diesem Verlust einer ursprünglichen Sprache ergibt, führt Novalis dazu, einen vielstimmigen Katalog der vielen verschiedenen Weisen vorzustellen, auf die die Natur konzeptualisiert wird. Die Natur ist für viele Menschen viele verschiedene Dinge, von einem belanglosen Gegenstand oder einer einfachen Ressource – „eine[r] lustige[n] Küche und Speisekammer“Footnote 125 – bis zur Inspiration für eine Religion und dem heiligen Raum eines Tempels – „So entstehen mannigfache Naturbetrachtungen, und wenn an einem Ende der Naturempfindung ein lustiger Einfall, eine Mahlzeit wird, so sieht man sie dort zur andächtigsten Religion verwandelt, einem ganzen Leben Richtung, Haltung und Bedeutung geben.“Footnote 126 Insgesamt gibt es Novalis zufolge diejenigen, die die Freundschaft mit der Natur suchen, und diejenigen, die ihr mit dem Ziel der Beherrschung begegnen. Dieser Gegensatz, so Novalis, ergibt sich aus dem Verlust der ursprünglichen Sprache und ihrer Instrumentalisierung zu endlichen immanenten Zwecken. Doch mitten in dem Gewirr dieser Stimmen greift eine fröhliche Jugend ein, um zu erklären, dass wir durch die Achtsamkeit auf Stimmungen ihre ursprüngliche Form wiedererlangen können. Damit leitet Novalis das Märchen von Hyazinth und Rosenblüte ein, dessen Erzählung eine verwandelte Form von Fichtes dialektischer Bewegung der Selbstsetzung bietet.Footnote 127 Wie bei den Lehrlingen, die den Tempel zu Sais verlassen und zu ihm auf ihrem eigenen Weg zurückkehren müssen, muss auch Hyazinth alles, was er kennt und liebt, verlassen, um ihm neu zu begegnen und in seiner Welt wirklich heimisch zu sein.

In Christenheit oder Europa legt Novalis drei Stadien der Geschichte dar: eine jugendliche mittelalterliche Einheit, den Niedergang und die Zerstückelung der Reformation und der Aufklärung und das Zeitalter des Chaos, aus dem eine neue universelle Form des Christentums hervorgehen wird. Hier in den Lehrlingen wiederholt Novalis diese dreistufige Geschichte auf der Ebene des Individuums, das durch diesen dreiteiligen Prozess vermittels einer Welt der zerstückelten Sprache in einen Zustand des Chaos zurückversetzt wird, der es zur schöpferischen Kontemplation befreit.

Der denkende Mensch kehrt zur ursprünglichen Funktion seines Daseins, zur schaffenden Betrachtung, zu jenem Punkte zurück, wo hervorbringen und Wissen in der wundervollsten Wechselverbindung standen, zu jenem schöpferischen Moment des eigentlichen Genusses, des innern Selbstempfängnisses. Wenn er nun ganz in der Beschauung dieser Urerscheinung versinkt, so entfaltet sich vor ihm in neu entstehenden Zeiten und Räumen, wie ein unermessliches Schauspiel, die Erzeugungsgeschichte der Natur, und jeder feste Punkt, der sich in der unendlichen Flüssigkeit ansetzt, wird ihm eine neue Offenbarung des Genius der Liebe, ein neues Band des Du und des Ich.Footnote 128

In diesem Akt der schöpferischen Kontemplation „[lassen wir] die Natur innerlich in ihrer ganzen Folge entstehen.“Footnote 129 Für Novalis wird in diesem Moment, nämlich wenn die Sprache poetisch befreit wurde, die Einheit von Idealismus und Realismus erreicht.

8 In der Welt zu Hause sein

Das späte Gedicht, das einfach den Titel trägt Das Gedicht (1799), besteht aus acht Strophen. Die ersten vier stellen eine Beschreibung der Gegenwart dar. In der ersten sehnt sich die Natur nach der Anerkennung ihrer Erhabenheit. In der zweiten steht das, was als eine große, leere, dunkel erleuchtete Kirche zu sein scheint, verlassen da, und in der dritten verkündet ein stiller Text eine erneuerte Zukunft. Schließlich wird der Leser gebeten, näher zu rücken und eine versprochene Prophezeiung zu erwarten.

Himmlisches Leben im blauen Gewande

Stiller Wunsch in blassem Schein –

Flüchtig gräbt in bunten Sande

Sie den Zug des Namens ein –

Unter hohen festen Bogen

Nur von Lampenlicht erhellt

Liegt, seitdem der Geist entflogen

Nun das Heiligste der Welt.

Leise kündet beßre Tage

Ein verlornes Blatt uns an

Und wir sehn der alten Sage

Mächtige Augen aufgetan.

Naht euch stumm dem ernsten Tore,

Harrt auf seinen Flügelschlag

Und vernehmt herab vom Chore

Wo weissagend der Marmor lag.Footnote 130

Nach dieser Beschreibung einer schwangeren Gegenwart geht das Gedicht schnell zur Vergangenheitsform über, indem es an eine entweder antike oder mittelalterliche Zeit und an die farbenfrohen Festspiele der Blumenfürstin erinnert. Doch sobald sie erscheint und gegrüßt wird, verschwindet sie auch fast schon wieder. Unsere poetische Bestimmung besteht Novalis zufolge darin, unsere Fähigkeit wiederzugewinnen, in unsere immanente Gegenwart diese transzendenten Zeichen aus der Vergangenheit hineinzulesen. Das Göttliche spricht zu uns durch Chiffren im Sand und verlorene Blätter, die bessere Tage verkünden. Wenn die Dichtung uns erneut dazu befreit, diese Blätter zu lesen, werden wir Novalis zufolge wieder die Kirchen betreten und ihre Lampen anzünden, und wieder werden wir uns dem Marmoraltar nähern und den Chor singen hören. Diese Vision der erneuerten Religion steht Novalis zufolge zwar noch aus, aber ihre Gegenwart ist schon bei uns, und eine erneuerte Sprache, die Sprache der Dichtung, wird ihr die Stimme leihen.