„Die Welt steht vor dem größten Umbruch seit 1944“
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„Die Welt steht vor dem größten Umbruch seit 1944“

Berlin / Lesedauer: 6 min

Netfonds-Chefvolkswirt Folker Hellmeyer spricht im Interview mit Schwäbische.de über die Weltwirtschaft, Wachstum und Warnsignale.
Veröffentlicht:14.05.2024, 05:00

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Nach innen scheint die Bundespolitik von Intoleranz und Selbstverliebtheit geprägt zu sein, gegenüber dem globalen Süden von Hochmut und Doppelmoral. Das hat Folgen: Deutschland steuert planlos durch die größte Krise des Westens seit Ende des Zweiten Weltkriegs, sagt Folker Hellmeyer, Chefvolkswirt der Netfonds AG, im Interview mit Schwäbische.de.

Nehmen wir Bestand auf: Wo steht die Bundesrepublik derzeit wirtschaftlich?

Dazu müssen wir zehn Jahre zurückgehen. Im Jahr 2014 war Deutschland das Paradepferd Europas, was wirtschaftliche Entwicklung und strukturelle Aufstellung angehen. Zehn Jahre später sind wir ein abgehalfterter Gaul. Während die Weltwirtschaft richtig Fahrt aufnimmt, schafft die Bundesrepublik laut der jüngsten IWF-Prognose im Jahr 2024 gerade einmal 0,2 Prozent Wachstum. Warum? Weil wir die Grundprinzipien der Staatsführung nicht beachtet haben. Wir haben unsere Hausaufgaben nicht gemacht.

Was genau meinen Sie damit?

Mit den höchsten Abgaben der Welt haben wir ein leistungshemmendes Steuerregime, führend sind wir ansonsten nur noch in der Bürokratie. Alles andere haben wir vernachlässigt: Die Infrastruktur ist marode, die Digitalisierung kommt nicht voran, die Bildungspolitik hat völlig versagt. In der politischen Zielkoordinierung haben wir Leistungsanreize vermindert und die Anspruchsgesellschaft ausgebaut. Das aktuelle Wachstumsbild ist ein Ausdruck dieser facettenreichen Grundproblematik. Durch die verfehlte Politik der CDU unter Kanzlerin Angela Merkel und der jetzigen Ampel-Koalition sind wir mittlerweile zu einem Belastungsfaktor für die EU und die Weltwirtschaft geworden.

Wie geht es für Deutschland weiter, wenn sich nichts Grundlegendes ändert?

Wenn wir auf dem eingeschlagenen Weg bleiben, dann steht hier alles zur Disposition: der Sozialstaat, die grüne Transformation, der Wohlstand, den wir uns über Generationen erarbeitet haben, und letztlich auch die Demokratie. Die Warnsignale mehren sich. Wir verzeichnen derzeit die höchsten Netto-Kapitalabflüsse in der Geschichte, immer mehr Unternehmen wandern ab, wie BASF nach China oder Miele und Bosch nach Polen.

Normalerweise kann daran kein Politiker interessiert sein, unabhängig von der Parteizugehörigkeit. Wie erklären Sie sich, dass wir trotzdem nicht vorankommen?

Die Ignoranz, die in Berlin geübt wird, ist ein Ausdruck von Echokammern, aus denen man kritische Geister sehr bewusst fernhält. Rot-grünes Gedankengut ist über Jahrzehnte durch die Institutionen getragen worden, mit einer daraus folgenden Verschiebung der Wahrnehmungsachsen in der Öffentlichkeit. So werden konservative und liberale Positionen heute teils als rechtsextrem dargestellt. Die Verdrängung anderer Meinungen und der Mangel an Pluralismus ist das Grundübel, denn dadurch wird die Politik ideologisiert, es entstehen Selbstverliebtheit und Überheblichkeit, und jeder Pragmatismus geht verloren. Und dann werden automatisch die falschen Entscheidungen getroffen.

Können Sie dafür ein Beispiel nennen?

Nehmen wir das Heizungsgesetz. Es kostet die Bürger 1,5 Billionen Euro, also etwa 60 Prozent der deutschen Staatsverschuldung, nur um bis 2030 den CO2-Ausstoß Chinas an einem einzigen Tag einzusparen. Das ist vollkommener Irrsinn. Dabei könnte man schon für 100 Milliarden Euro weltweit neue Wälder anlegen. Das hätte einen viel nachhaltigeren Einfluss auf das Klima, und zwar ohne den Wohlstand der Bürger anzugreifen. Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich bin für grüne Politik, aber für eine pragmatische, keine esoterische. Wir wissen aus unserer Geschichte, dass Ideologie diesem Land noch nie gutgetan hat.

Nun treffen diese hausgemachten Probleme in Deutschland auf eine Welt, die sich wirtschaftlich wie geopolitisch im Wandel befindet. Was erwartet uns diesbezüglich in den kommenden Jahren?

Die Welt steht vor dem größten Umbruch seit 1944, und dieser Umbruch trifft Deutschland in besonderem Maße. 1944 wurde mit dem Bretton-Woods-Abkommen die Grundlage für den geopolitischen Ordnungsrahmen der Epoche nach dem Zweiten Weltkrieg gelegt. Doch diese Basis, allen voran die Verankerung des US-Dollars als Weltleitwährung, steht heute mehr denn je zur Disposition. Der Westen war damals mächtig, stellte auf Basis der Kaufkraftparität 80 Prozent der Weltwirtschaftsleistung. Seitdem ist dieser Anteil auf 30 Prozent zurückgegangen. Mit anderen Worten: Der globale Süden ist heute für mehr als 70 Prozent der Weltwirtschaftsleistung verantwortlich. Gleichzeitig wachsen die Länder des Südens doppelt so schnell wie die Industrienationen. Ob wir es wollen oder nicht, derzeit findet eine Machtachsenverschiebung statt, ein massiver Umbruch, der sich immer wieder auch in Stellvertreterkriegen äußert - wie in Libyen, Syrien, Gaza oder der Ukraine. Wenn die USA und Europa ihre Überheblichkeit nicht ablegen, wird der globale Süden für sich ein eigenes Organigramm entwickeln - und zwar losgelöst vom Westen.

Die BRICS-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika) gelten als Machtzentrum des globalen Südens, mittlerweile sind mit Ägypten, Äthiopien, Iran und den Emiraten weitere Staaten beigetreten. Die Interessenslagen sind allerdings höchst unterschiedlich, teilweise stehen sich die Länder sogar feindselig gegenüber. Können diese Staaten überhaupt mit einer Stimme sprechen?

Es ist richtig, dass die Staaten unterschiedliche Interessen haben, doch sie eint eines: Sie sind die Drangsalierung durch den Westen und seine Hybris leid. Und die zehn Staaten der „BRICS Plus“, die Sie erwähnten, sind nicht die einzigen, 40 weitere haben Interesse an einer Mitgliedschaft bekundet. Das wird keine militärische oder politische Kooperation, sondern ein lockerer Zusammenschluss, der einen Gegenentwurf zum westlichen Modell bilden soll: freier Handel ohne moralische Belehrungen, ohne Angriffe auf die nationale Souveränität der Mitgliedsstaaten. Die Kulturen, die dort kooperieren, die politischen Gebilde, sind höchst heterogen, doch man arbeitet trotzdem zusammen. Dadurch eröffnet sich diesen Staaten des Südens ein enormes Wachstumspotenzial.

Was meinen Sie denn mit Drangsalierungen und Hybris des Westens?

Damit meine ich eine Politik nach Gutsherrenart: Der Westen bestimmt und der Rest hat sich zu fügen. Dabei werden Regeln vorgegeben, an die sich die westlichen Staaten selbst nicht halten. Dazu gehören zum Beispiel die völkerrechtswidrigen Angriffskriege der USA oder die Nichtbeachtung der russischen Sicherheitsinteressen, die ein Auslöser für den Ukraine-Krieg waren, oder die seit Jahren andauernde Blockade der Richterstellen der Welthandelsorganisation WTO durch die USA, die die gesetzesbasierte globale Wirtschaftsordnung untergraben hat. Seitdem machen die USA eine Sanktionspolitik bar jeder rechtlichen Grundlage.

All dies wird sich der globale Süden nicht länger gefallen lassen. Europa und insbesondere Deutschland täten gut daran, den USA nicht länger blind zu folgen, sondern eine eigene Außen- und Wirtschaftspolitik zu etablieren, die nicht den amerikanischen, sondern den europäischen Interessen dient.

Was könnte Deutschland und Europa noch hoffnungsvoll stimmen? Und was müssen wir tun, um nicht den Anschluss zu verlieren?

Deutschland und Europa haben immer noch eine enorme Wirtschaftskraft. Die Staatsverschuldung ist akzeptabel, die Handelsdaten sind gut. Sehen Sie sich die sogenannten Hidden Champions an, die kleineren, oft wenig bekannten Unternehmen, die in ihrer Branche Weltmarktführer sind. Davon gibt es global rund 3400, und 1600 davon kommen aus Deutschland. Diese Struktur ist weltweit einzigartig und schafft massivste Wettbewerbsvorteile bezüglich der Effizienz der Produktion. Doch sie braucht konkurrenzfähige Energiepreise und eine nachhaltige Versorgungssicherheit. Dazu kommen die altbekannten Themen: zu hohe Steuern, zu viel Bürokratie oder die Erosion der Leistungsgesellschaft.

Und als Letztes mahne ich zu einem Kurswechsel von einer moralbasierten zu einer gesetzesbasierten, pragmatischen Außenpolitik an. Wir brauchen mehr Toleranz und dürfen unsere politischen Beziehungen nicht auf unsere eigene Moralvorstellung verengen. Alle Wertevorstellungen haben ihr Recht, ganz gleich ob christlich, islamisch oder buddhistisch. Wenn all dies gelingt, auch wenn ich meine Zweifel habe, dass die Politik dazu bereit ist, dann bin ich für Deutschland und Europa zuversichtlich. Zuversichtlich für die Welt bin ich ohnehin.