Ein eigener Weg: Was wir von Johann Gustav Droysen lernen können und was die Bioinformatik damit zu tun hat
Wissenschaftlicher Zyklus

Ein eigener Weg: Was wir von Johann Gustav Droysen lernen können und was die Bioinformatik damit zu tun hat

Erste Überlegungen über den digital turn in der Bioinformatik und was die Historiker daraus lernen können.
Wissenschaftlicher Zyklus
Abbildung: Clemens Beckstein

Meldung vom: | Verfasser/in: Clemens Beck, Jan Engelhardt

In der digital history wird häufig Emmanuel Le Roy Ladurie mit seinem Satz: „Der Historiker von morgen wird Programmierer sein oder es wird ihn nicht mehr geben“ zitiert.[1] Der Gründervater der Historischen Methode, Johann Gustav Droysen, hätte einem solchen Satz wahrscheinlich vehement widersprochen. Schon vor 150 Jahren fürchtete er eine Vereinnahmung der Geschichtswissenschaft durch die Naturwissenschaften: „Kaum, dass sich unsere Wissenschaft von der philosophischen und theologischen Beherrschung freigemacht hat […], so sind die Naturwissenschaften da, sich ihrer anzunehmen und sie bevormunden zu wollen.“[2]

Droysen sah die Geschichte stets in einem Spannungsfeld. Zum einen wollte er die Geschichte frei sehen von den dogmatischen Zwängen der Theologie und Philosophie seiner Zeit. „Empirisch, wie unser Fach sein will, können wir nicht anders, als in empirischer Weise unseren Ausgangspunkt zu nehmen.“ Zum anderen lebte Droysen (1808-1884) in einem Zeitalter der aufkommenden Rationalität und der naturwissenschaftlichen Methode. Seine große Befürchtung war es, dass die Geschichtswissenschaft unterginge oder neben Physik, Chemie und Biologie nur noch ein Vehikel sei, das nur unterteilte in „Richtig“ und „Falsch“, „ja“ oder „nein“, „passiert“ oder „Nicht passiert“. Dass diese Befürchtungen auch im 21. Jahrhundert nicht abgeklungen sind, ist unter digitalen Historiker*innen sehr präsent, worauf jüngst Jörg Hörnschemeyer hingewiesen hat: „So können sie [die digitalen Methoden] ganz allgemein und trotz der immer noch anzutreffenden Warnungen vor einer ‚feindlichen Übernahme‘[3] durch computeraffine Disziplinen oder der Befürchtung einer ‚Marginalisierung der Hermeneutik‘[4] als eine sinnvolle Erweiterung des geisteswissenschaftlichen Handwerkszeugs angesehen werden.“[5]

Ein tagesaktueller Konflikt

Droysens Antwort auf dieses Spannungsfeld war das Skizzieren eines dritten Weges. Mit seiner „Historik“ legte er ein Manifest für die historische Methode vor. Basierend auf einer intensiven Beobachtung der neuen Methoden der Naturwissenschaften entwickelte er seine eigene historische Arbeitsweise. Er passte sich an die Naturwissenschaften an und verhinderte so eine Verdrängung oder Absorption. Noch heute arbeiten Historiker*innen nach dem hermeneutischen Zirkel: Heuristik – Kritik – Interpretation.

Im 21. Jahrhundert stehen die Geschichtswissenschaften abermals vor einem Scheideweg, der demjenigen Droysens nicht unähnlich ist. Während Medien und Öffentlichkeit von einer Digitalisierung träumen, ist diese auf den Schreibtischen der Historiker*innen größtenteils noch nicht angekommen. Erneut besteht die Gefahr einer Verdrängung. Naturwissenschaftler*innen wenden in ihren Wissenschaften entwickelte Algorithmen auf historische Quellen an, obwohl ihnen die notwendigen Erfahrungen in der Kritik und Interpretation der benutzten Quellen fehlen.[6]. Häufig muss sich deswegen die digitale Geschichtswissenschaft vorwerfen lassen, einen zu positivistischen Ansatz zu verfolgen.

Dass Naturwissenschaftler*innen einen unübersehbaren Anteil der Forschung in den digitalen Geschichtswissenschaften ausmachen, liegt unter anderem an der Berührungsangst der Historiker*innen. Denn zu häufig werden Geschichtswissenschaft und Informatik als unüberwindliche Widersprüche angesehen: Sollte der Historiker von Morgen ein Programmierer sein, dann wäre er kein Historiker mehr, so die Befürchtung vieler Kolleg*innen. Um mit den Geschichtswissenschaften einen Weg in die Zukunft zu gehen, ist die Vision von Core-H dieselbe, wie sie bereits Droysen hatte: Die Übernahme der bereits erreichten Fortschritte aus den Naturwissenschaften, um darauf aufbauend eigene Standards zu generieren.

Die Systembiologie als Vorbild

Gestützt auf unseren Gedanken eines Historischen Workflows und basierend auf unserem Vorläuferprojekt COSRE (Computer Supported Research)[7], dass im Bereich der Bioinformatik angesiedelt war, entwickelten wir die sieben Kriterien für eine Forschungsumgebung, die den Historischen Workflow unterstützen sollen. Nur wenn Forschungsumgebungen in den digitalen Geisteswissenschaften diese Ansprüche in Zukunft einhalten, kann der Anspruch des Aufbaus von eigenen Standards erfüllt werden.

Unsere Kriterien stammen ursprünglich aus der Systembiologie. Christian Knüpfer, Mitarbeiter in unserer Arbeitsgruppe, hat sich in seiner Promotion über „Struktur, Funktion und Verhalten dynamischer Modelle der Systembiologie: formale Wissensrepräsentation als Grundlage für computergestützte Modellierung und Simulation“ intensiv mit computergestützter Modellbildung und Wissenschaftszyklen auseinandergesetzt und entsprechende Anforderungen für computerunterstützte Forschung in der Systembiologie formuliert.

Die Systembiologie arbeitet modellbasiert. Das heißt, ein beobachteter Wirklichkeitsausschnitt (in den Naturwissenschaften - meist - ein Experiment) wird konzeptualisiert, indem er auf Regelmäßigkeiten untersucht wird. Auf der Grundlage solcher in den experimentellen Daten gefundener Muster wird ein Modell erstellt. Dieses baut auf bereits bestehenden Modellen auf, indem es diese erweitert und verfeinert. Solche Modelle sind zugleich wichtige Bausteine wissenschaftlicher Theorien, indem sie das Wissen in einer algorithmisierbaren Form codieren. Dieser Arbeitsprozess ist die Grundlage, die digital unterstützt werden soll.[8]  Besonders wichtig für diesen Prozess ist eine Nachvollziehbarkeit des gesamten Ablaufes und eine ausgiebige Protokollierung, Dokumentation und Annotation.

Von den Naturwissenschaften lernen – einen eigenen Weg gehen

Der Workflow des Historikers ist ein anderer als der des Biologen, wie Droysen schon richtig anmerkte. Das genaue Ausformulieren eines historischen Arbeitsprozesses ist im Unterschied zu den Naturwissenschaften noch nicht im Bewusstsein von Historiker*innen verankert, trotz bemerkenswerter Abhandlungen über die Theorie des Fachs.[9] Immer noch gilt fachliche Autorität eine Menge und die Idee von Historiker*innen, die einsam in einer „Schreibstube“ über den Quellen brüten, bis sie in einem Anfall von inspirativer Erleuchtung („von der Muse geküsst“) ihre Erkenntnisse niederschreiben, ist weitverbreitet. Deswegen gibt es bisher noch keine Methodik, mit der sich die historische Arbeit planmäßig und computergestützt abbilden lässt. Aus genau diesem Grund ist eines der gesteckten Ziele von Core-H die Ausformulierung eines digitalen Workflows, der sich an der Arbeitsweise der Historiker*innen orientiert. Dies hätte den Vorteil, dass sich eine Zusammenarbeit in den Geisteswissenschaften realisieren lässt, die bisher durch die räumliche Trennung und die fachliche Differenzierung nicht praktiziert werden konnte.

Um den Historischen Workflow digital modellieren zu können, führen wir „Experimente“ innerhalb unserer eigenen Arbeitsgruppe durch. In diesen reflektieren zum einen die Historiker*innen über ihren eigenen historischen Arbeitsprozess. Zum anderen suchen versuchen wir bewusst eine Außenperspektive auf diesen Prozess zu schaffen, indem Informatiker*innen den Historiker*innen während des gesamten Prozesses über die Schultern schauen.

Zu diesem Zweck führen wir - wahrscheinlich einmalig für eine Arbeitsgruppe im Bereich der digitalen Geisteswissenschaften - ein „Labortagebuch“. Hierin dokumentieren wir unser Vorgehen bei der Projektarbeit, indem wir die Wünsche und Anforderungen der Historiker*innen an zu entwickelte Tools (Filter, Visualisierung etc.) ebenso dokumentieren wie Überlegungen, die später wieder verworfen wurden, weil sie nicht realisierbar waren oder sich als nicht zielführend erwiesen haben.

Das Führen dieses „Labortagebuchs“ ist dabei relativ einfach, weil wir unsere Arbeit über Gitlab, eine Plattform, die eigentlich aus dem Bereich Software-Entwicklung stammt, organisieren. Das gesamte Forschungsprojekt Core-H kann in Gitlab in Projekte zerlegt werden, die den im Antrag beschriebenen Teilbereichen entsprechen. Diese Teilbereiche können weiterhin durch die Anlage von sogenannten „Tickets“ granularer gestaltet werden. Tickets entsprechen grob einzelnen Aufgaben oder Entwicklungsschritten in dem Teilprojekt und können sehr heterogen sein. Beispielsweise umfasst ein Ticket die Behebung eines Bugs in unserem Parser des Repertorium Germanicum (einer mittlerweile digital verfügbaren Quellenedition), während ein anderes Ticket die Aufgabe der Recherche von Literatur zu den Schemata des RG definiert.

Dadurch kann nachvollzogen werden, wann welche Entwicklungsschritte vorgeschlagen wurden und ob und aus welchen Gründen diese realisiert wurden oder nicht. Durch den Vergleich verschiedener Projekte können typische Schritte im Historischen Workflow abstrahiert werden. Dies hilft uns wiederum bei der Entwicklung eines Visuellen Frontends für unsere Tools als Vorstufe zu einer Forschungsumgebung mit unseren Kriterien, welches sich aus den typischen Schritten im Historischen Workflow zusammensetzt und diesem dem Forschenden semi-automatisch vorschlägt.

Ein weiterer Beitrag auf unserem Blog wird sich genauer mit den sieben Kriterien als Grundlage von CORE-H beschäftigen.

Referenzen

  1. Siehe Warum wir MEPHISTO heißen und was bedeutet das?
  2. Droysen (volle Angaben ergänzen), S. 18.
  3. Thomas Meyer: Tagungsbericht Digital Humanities – methodischer Brückenschlag oder „feind­liche Übernahme“? Chancen und Risiken der Begegnung zwischen Geisteswissenschaften und Infor­matik, 25.03.2014–28.03.2014 Passau. In: H­Soz­Kult, 12.06.2014. Mehr erfahrenExterner Link
  4. Nan Z. Da: The Digital Humanities Debacle. Computational methods repeatedly come up short. Mehr erfahrenExterner Link
  5. Jörg Hörnschemeyer: „Möchten Sie das Programm wirklich löschen?“ Warum sich die Geisteswissenschaften mit der Nachhaltigkeit von Forschungssoftware auseinandersetzen sollten. In: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven 99 (2019), S. 491-501, hier S. 493.
  6. Vgl. Kenna, Ralph/MacCarron, Pádraig: A Networks Approach to Mythological Epics. In: Kenna, Ralph/MacCarron, Máirín/MacCarron, Pádraig (Hrsg.) In: Maths Meets Myths: Quantitative Approaches to Ancient Narratives. Cham 2017, S. 21 – 44.
  7. Siehe Computer-Supported Research: Konzeptpapier zum CoSRe-Projekt. Mehr erfahrenExterner Link
  8. Siehe Christian Knüpfer: Struktur, Funktion und Verhaltendynamischer Modelle der Systembiologie: formale Wissensrepräsentation als Grundlage für computergestützte Modellierung und Simulation. Jena 2014, S. 42. Mehr erfahrenExterner Link
  9. Siehe Jörg Rüsen: Historik. Theorie der Geschichtswissenschaft. Köln/Weimar/Wien 2013.