FormalPara Sprache

mittelhochdeutsch

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Epik / Prosa

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Roman

Der höfische Versroman (19 548 Verse) entstand um 1210 und gilt als der bedeutendste deutschsprachige Tristanroman; er blieb unvollendet. Datierung und literarisches Umfeld des Tristan lassen sich aus den Nennungen der Dichterkollegen im ‚Literaturexkurs‘ erschließen, in dem Heinrich von Veldeke und Reinmar der Alte als Verstorbene, Bligger von Steinach, Hartmann von Aue, Walther von der Vogelweide und ein namenloser Dichter – mutmaßlich Wolfram von Eschenbach – als Lebende aufgeführt werden. Das Akrostichon des Tristan-Prologs nennt einen unidentifizierten „DIETERICH“, in dem man den Auftraggeber der Dichtung vermutet.

Der Text ist in 27 (teils fragmentarischen) Handschriften des 13. bis 15. Jh.s überliefert; in den vollständigen Handschriften – abgesehen von einer Ausnahme – zusammen mit der Fortsetzung des Ulrich von Türheim, des Heinrich von Freiberg oder dem Schlussteil Eilharts von Oberg. Die regionale Beschränkung der gesamten Überlieferung des Gottfried'schen Tristan auf den südwestdeutschen Raum ist auffällig. Man hat darum in Zusammenhang mit der überlieferten Namensnennung „Gotfrit von Strâzburc“ eine Nähe zur Bischofsstadt Straßburg vermutet, ohne dass diese Zuweisung über den Rang einer Hypothese hinauswachsen konnte.

Heute sind der Tristanroman des Thomas d'Angleterre (nach 1170) und der Tristrant Eilharts von Oberg (1170 oder 1190) zweifelsfrei als Quellen Gottfrieds zu benennen; dieser nennt Thomas als Gewährsmann. Im elaborierten Prolog, der Hörer und Leser durch Figuren und Tropen, strophische und stichische Partien sowie das erwähnte Akrostichon in den Bann zieht, widmet sich Gottfried zunächst dem Verhältnis von Ethik und Kunst, um dann das Liebesthema zu exponieren. Der Gegenstand seiner Erzählung sei eine besondere Liebe, eine, die Freude und Leid umgreife, und dies verlange ein spezifisch disponiertes Publikum „edler Herzen“. Erst nach dieser Rezipientenauslese führt er die Protagonisten Tristan und Isolde in chiastischer Verschränkung ein und kündigt eine Liebesgeschichte an, die im Andenken an die toten Liebenden den Lebenden Nahrung zu spenden vermag – eine deutliche Reminiszenz an die Eucharistie.

Die Erzählung beginnt mit der Geschichte der Eltern Tristans. Riwalin trifft am Hof König Markes auf Blanscheflur, die Schwester des Königs; die beiden verlieben sich. Blanscheflur rettet den im Kampf schwer verwundeten Riwalin durch ihre leidenschaftliche Hingabe; diese Liebe bricht mit jeglichen gesellschaftlichen Rücksichten. Als Riwalin im Kampf fällt, stirbt Blanscheflur ihm nach, im Tode ein Kind gebärend. Somit verflechten sich schon in Tristans Ursprung Leben und Tod, und die Fatalität dieser Minne präfiguriert die Tristan-Isolde-Liebe in mehrfacher Hinsicht.

Tristan, dessen Name (frz. ‚triste‘) auf die traurigen Umstände seiner Geburt zurück- und auf sein weiteres Schicksal vorausweist, wird vom Marschall Rual an Kindes statt aufgenommen und erhält eine umfängliche höfische Erziehung. Von Kaufleuten an der Küste Cornwalls ausgesetzt, trifft der 14-jährige Tristan auf die Jäger Markes und stellt seine Hofkünste unter Beweis: zunächst die Jagdkunst, vor dem König dann seine musikalischen Fähigkeiten. Beide Künste verweisen metaphorisch auf die ‚ars amandi‘. Tristans Identität wird gelüftet, und er bleibt bei seinem königlichen Onkel, der seine Schwertleite ausrichtet. An dieser Stelle unterbricht Gottfried die Erzählung und bietet eine Revue zeitgenössischer Epiker und Lyriker.

Es folgen Tristans Rittertaten: zunächst der Kampf gegen Morgan, den Erzfeind seines Vaters und Lehnsherrn seines Landes Parmenie, den Tristan mithilfe einer Verkleidungslist besiegt, danach der Zweikampf gegen Morolt von Irland, den er für König Marke ficht und der vom Erzähler als Kampf Gottes gegen den Teufel imaginiert wird. Tristan erleidet im Verlauf des Kampfes eine lebensbedrohende Verletzung, die ihn zwingt, als Spielmann „Tantris“ verkleidet nach Irland, ins Reich seines getöteten Widersachers, zu reisen, um die heilkundige Königin zur Hilfe zu bewegen. Die Musik verschafft ihm Zugang zum irischen Königshof und sein hoher Bildungsgrad den Status als Lehrer der Prinzessin Isolde.

Als Tristan geheilt nach Cornwall zurückkehrt, berichtet er von der Schönheit der irischen Prinzessin und unternimmt als Brautwerber für König Marke die zweite Irlandfahrt. Der Held erwirbt sich – wiederum in der Rolle des Tantris – durch Tötung eines Drachens das Anrecht auf die Hand der Prinzessin, abweichend vom Schema aber will er diese nicht für sich. Seine Identität wird von der jungen Isolde aufgedeckt; sie entlarvt mittels der materiellen Zeichen Schwertscharte und -splitter und des Anagramms ‚Tantris‘ den Mörder ihres Onkels. Die Königin rettet Tristan vor der rächenden Isolde, die Ehe zwischen Marke und Isolde wird besiegelt, und Tristan, der stellvertretende Brautwerber, schifft sich mit Isolde und ihrem Hofstaat, darunter der Getreuen Brangäne, ein.

Auf dem Schiff gerät der von der Königin für Isoldes Eheglück mit Marke gebraute Minnetrank in die Hände Tristans und Isoldes. Ahnungslos trinken die beiden davon und sind nun bis zu ihrem Tod in Liebe aneinander gebunden. Die Entdeckung der Liebe, der innere Kampf, die versuchte Verstellung und die letztendliche Offenbarung der Liebenden ist ein Lehrstück in mittelalterlicher Semiotik. Mit Brangänes Hilfe kommt es noch auf der Überfahrt von Irland nach Cornwall zur Liebeserfüllung. Die Dramatik schlägt sich auch in der Wahl der drastischen Täuschungsmittel nieder. So muss zunächst Brangäne dem König in der Hochzeitsnacht als unberührte Braut untergeschoben werden, eine Täuschung, die Isolde danach durch die Ermordung Brangänes sichern möchte. Die dunkle Episode lässt die Treue der Vertrauten umso heller strahlen. Isoldes Position als Königin und Ehefrau erscheint doppelt gesichert durch Brangänes bedingungslose Loyalität und Markes über das Maß einer Feudalehe hinausgehende Liebe.

Doch die Intriganten am Hof säen Zweifel in Markes Herz. Gemeinsam mit dem Zwerg Melot will der König nachts als Lauscher im Baum die Liebenden in flagranti ertappen, ein Unterfangen, das an der Umsicht und Sprachlist der Liebenden scheitert. Melots zweite Falle – ein Mehlteppich um die Betten der Liebenden –, schnappt nur zur Hälfte zu, da anhand von Blutspuren Tristans Besuch in Isoldes Bett (in das er mit einem gewaltigen Sprung gelangt war) nachweisbar, der Weg dorthin aber nicht zu rekonstruieren ist, so dass sich der zweifelnde Marke zur Einberufung eines Gerichts entschließt. Die Königin wird als Ehebrecherin angeklagt und muss das heiße Eisen tragen: Eine Angelegenheit auf Leben und Tod, aus der sich Isolde durch eine Kombination von Sprach- und Körperlist, der Mitwirkung des als Pilger verkleideten Tristan und eigenen Bußübungen herauszuwinden vermag. Der Erzählerkommentar, der von einem „vergifteten“ Eid und Gottes Nachgiebigkeit spricht, scheint einen flexiblen Gott zu propagieren, der sich keinesfalls in Gottesurteilen instrumentalisieren lässt.

Wieder in Ehren am Königshof, leben die Liebenden ihre Liebe mit äußerster Vorsicht, bis sie von Marke des Hofes verwiesen werden. Sie gelangen in die Idealwelt der Minnegrotte, einen utopischen Raum, in dem sie in völliger Harmonie und Selbstgenügsamkeit nur ihrer Liebe leben dürfen. Das „Wunschleben“ schließt das perfekte Gebäude, die paradiesische Speisung, die ideale Gesellschaft ein und wird von dem Erzähler autobiographisch aufgeladen, wenn er berichtet, er kenne diesen Ort, ohne doch je in Cornwall gewesen zu sein. In dieser mikro- und makrostrukturell in höchster Kunstfertigkeit konstruierten Episode erleben Tristan und Isolde ein einziges Mal ihre Liebe ohne Verstellung und gesellschaftliche Rücksichtnahme. Doch auch hier halten sich Freude und Leid, wie es der Besonderheit von Gottfrieds Minnekonzept entspricht, die Waage: Die Trauer wird durch das Erzählen trauriger Liebesgeschichten in die Idealwelt hineingenommen. Auch fehlt dieser Welt der Selbstgenügsamkeit ein entscheidender Faktor: die gesellschaftliche Anerkennung, die „êre“. Er fehlt so sehr, dass die Liebenden, als sich die Gelegenheit bietet, ohne Zögern an Markes Hof mit seinen Verstellungen und Intrigen zurückkehren.

Der gemeinsame Aufenthalt am Hofe währt nicht lang, denn in größter Unvorsicht besteigen Tristan und Isolde ihr Liebeslager am hellichten Tage in einem Park. Diesmal ist es der König selbst, der den Ehebruch entdeckt. Während er Zeugen herbeiholt, nehmen die Liebenden Abschied; denn um die Königin und sich selbst vor dem Tod zu bewahren, muss Tristan fliehen. In der Abschiedsrede bereitet sich die Differenz in der Leidbewältigung der beiden Liebespartner vor: Isoldes geht aus vom Topos des Herzenstauschs und überbietet ihn, indem sie ihr künftiges Leben nur noch auf Tristan, den fernen Geliebten, ausrichtet. Tristans Abschiedsrede bleibt recht floskelhaft. Bald sucht er Ablenkung in einer neuen Liebe zu einer Frau, die denselben Namen wie Isolde trägt. Mit dieser Namensgleichheit treibt Tristan in Gesang, Worten und Gedanken ein Spiel, das nicht nur die ‚weißhändige Isolde‘ täuscht, sondern aus dem er selbst nicht mehr herausfindet. Indem er imaginiert, die ‚blonde Isolde‘ vergnüge sich längst mit König Marke und habe ihn, Tristan, schon vergessen, verschafft er sich die Rechtfertigung für seinen Treuebruch. An dieser Stelle bricht Gottfrieds Roman ab.

Der besondere Rang des Gottfried'schen Tristan erklärt sich aus der konsequent durchgehaltenen Grundidee einer ‚Liebe als Passion‘, die parareligiös und doch innerweltlich, ehebrecherisch und gesellschaftsfeindlich ist und vom Dichter in rhetorisch vollendeter Weise präsentiert wird. Offenbar war die Tristangeschichte in der Version Gottfrieds von Anfang an moralisch umstritten, was ihrer Verbreitung keinen Abbruch getan hat. Rudolf von Ems und Konrad von Würzburg haben Gottfried wegen seines höfischen Stils gefeiert und sich zu seinen Schülern erklärt, Ulrich von Türheim und Heinrich von Freiberg haben seine Kunst gelobt, seinen Tod bedauert und den unvollendeten Tristanroman zu Ende gedichtet. Die beiden Fortsetzer aber vollenden die Geschichte nicht in Gottfrieds ideologischer oder ästhetischer Spur, sondern entschärfen den Konflikt. Dazu greifen sie auf den Eilhart'schen Tristrant zurück, der dann auch im Spätmittelalter die Rezeptionsgrundlage des Tristanstoffes abgegeben hat.

Die literarische, musikalische und bildkünstlerische Rezeption des Tristanstoffes seit dem Hochmittelalter ist bemerkenswert, bleibt aber nicht auf Gottfrieds Vorlage beschränkt. Freie Adaptationen finden sich in den Tristandramen des 19. Jh.s und bis heute in Lyrik, Prosa, Drama, Hörspiel und Film. Eine herausragende, Gottfrieds Lesart zuspitzende Rezeption ist Richard Wagner mit seinem Musikdrama Tristan und Isolde (1859) gelungen.