Nach mehr als sechs Jahrzehnten ist im Juli 2022 die Fahndung nach dem NS-Kriegsverbrecher Alois Brunner offiziell eingestellt worden. Das bestätigte der Kölner Oberstaatsanwalt Ulf Willuhn der Nachrichtenagentur dpa. Damit ist eines der am längsten währenden Verfahren wegen NS-Verbrechen formal abgeschlossen – allerdings ohne Prozess und ohne Urteil.
Brunner, 1938 bis 1945 enger Mitarbeiter des Gestapo-„Judenreferenten“ Adolf Eichmann und damit einer der Hauptverantwortlichen für den Mord an Millionen europäischer Juden, hätte am 8. April 2022 seinen 110. Geburtstag feiern können, sofern er noch lebte. Da gegenwärtig nur 101 Deutsche bekannt sind, die jemals älter als 110 Jahre geworden sind, darunter nur neun Männer, ist es äußerst wahrscheinlich, dass Brunner tot ist. Gegen Verstorbene aber ermittelt die Justiz grundsätzlich nicht mehr.
Spätestens seit dem 1. August 1961 hatten deutsche Behörden nach Alois Brunner gefahndet, um ihn festnehmen und nach Deutschland überstellen zu lassen. Zuständig für die Verfahren waren die Staatsanwaltschaften in Köln und Frankfurt/Main. Gesucht wurde nach ihm auch unter mehreren bekannten Alias-Identitäten: „Alois Schmaldienst“ und „ Georg Fischer“, ferner „Alois Fescoer“, „Klaus Fischer“ und „Franz Kolar“. Darüber hinaus war noch der mutmaßlich von Brunner benutzte Falschname „Linden“ bekannt.
Wer genau war Alois Brunner? Und was genau hat er getan? Und was für ein Mann war er? Geboren wurde er 1912 im Burgenland. Seine Eltern waren Bauern. Mit 15 Jahren musste er die Mittelschule verlassen, um eine kaufmännische Lehre zu beginnen. Im Mai 1931 trat er in die damals legale österreichische NSDAP ein, die zu dieser Zeit erst wenige Tausend Mitglieder zählte.
Als Wirt machte er bankrott
Im Mai 1933 eröffnete der gerade 21-Jährige ein „Kaffeerestaurant Wien“ in Hartberg in der Steiermark. Schon nach vier Monaten machte er jedoch bankrott und verlor dabei sein „gesamtes Vermögen (väterlicher Erbteil)“, wie er in einem handgeschriebenen undatierten Lebenslauf mitteilte, der in seiner Personalakte im Berliner Bundesarchiv liegt.
Der Grund sei das Verbot der österreichischen NSDAP im Juni 1933 gewesen, soll Brunner später gegenüber anderen SS-Leuten behauptet haben: Es habe sein Geschäftsmodell unmöglich gemacht, denn das „Kaffeerestaurant Wien“ sei ein Stammlokal für die SA gewesen. Das ist eine Angabe, die sich nicht überprüfen lässt. Nach dem Scheitern als Wirt reiste Brunner nach Hitler-Deutschland aus. Anders als viele österreichische Nationalsozialisten beanspruchte er aber nicht, wegen „politischer Verfolgung“ geflohen zu sein.
Nach dem „Anschluss“ Österreichs an das Dritte Reich im März 1938 kehrte Brunner ins Burgenland zurück und übernahm zunächst eine untergeordnete Stelle im „Reichsnährstand“. Das scheint „ihn aber nicht sehr ausgefüllt zu haben“, schreibt der Historiker Hans Safrian in seinem Buch über „Eichmann und seine Gehilfen“. Brunner meldete sich zur SS und wurde ungefähr Mitte November 1938 der von Adolf Eichmann geleiteten „Zentralstelle für jüdische Auswanderung“ zugeteilt.
Hier wurde die Vertreibung österreichischer Juden organisiert und vor allem der möglichst weitgehende Raub ihres Eigentums. Nach Eichmanns Versetzung in gleicher Funktion nach Berlin im Herbst 1939 übernahm Brunner faktisch die Leitung der „Zentralstelle“, die ihm offiziell aber erst Anfang 1941 übertragen wurde. Inzwischen ging es nicht mehr um Emigration“, sondern um „Konzentration“ der verbliebenen Juden in der „Ostmark“ – also um die Vorbereitung zuerst der Deportation „nach Osten“ und schließlich den Massenmord.
In Wien wurden unter Brunners Leitung die Methoden entwickelt, die später im gesamten besetzten Europa eingesetzt wurden, um die Massendeportation von Menschen in die Vernichtungslager möglichst effizient zu gestalten. Die Mittel waren brutale Gewalt bei Razzien und scheinbar sachliche Verwaltungsmaßnahmen wie die Einweisung in Sammellager. Das hielt den Personalaufwand der Judenjäger so gering wie möglich.
Nach dem Ende der Massendeportationen aus Wien in Gettos sowie in Vernichtungslager im Oktober 1942, denen mindestens 48.767 Menschen zum Opfer gefallen waren, wurden Brunner und seine Mitarbeiter nach Berlin versetzt, um die Deportationen hier zu „optimieren“. Schon Anfang Februar 1943 ging es für die Mordlogistik-Experten weiter, nach Saloniki in Nordgriechenland. Umgehend begannen auch hier Transporte nach Auschwitz. Vier Monate später organisierte er die Deportationen aus dem besetzten Frankreich, anschließend aus der Slowakei.
Im Frühjahr 1945 kehrte Brunner nach Wien zurück und tauchte bald darauf in der Masse deutscher Kriegsgefangenen unter. 1947 gelangte er mit der Identität seines Cousins Alois Schmaldienst nach Essen; dort meldete er sich sogar polizeilich an. Doch der veränderte Pass flog auf; Brunner nahm die neue Tarnidentität „Georg Fischer“ an und setzte sich in den Nahen Osten ab. Einem Bericht des deutschen Generalkonsulats in Damaskus vom April 1964 zufolge reiste Alois Brunner 1953/54 über Kairo nach Syrien ein.
Israel und Österreich stellten bereits im Jahr 1961 Auslieferungsersuchen an Syrien, die ergebnislos blieben. Ebenfalls 1961 verlor Brunner bei einem Briefbombenattentat mutmaßlich des israelischen Mossad ein Auge. 1980 folgte ein zweiter Anschlag, der ihm die linke Hand zerfetzte.
Die Bundesregierung forderte am 28. November 1984 seine Überstellung nach Deutschland – allerdings ohne Erfolg: „Die auf allen Ebenen geführten Gespräche mit syrischen Stellen führten durch eine gezielte Blockadehaltung der syrischen Gesprächspartner nicht zur Festnahme Alois Brunners oder der Bestätigung dessen Aufenthalts in Syrien“, teilte die Bundesregierung 2015 mit.
Eine offizielle Bestätigung des Todes von Alois Brunner liegt bis heute nicht vor. Hinweise auf seinen möglichen Tod und entsprechende Gerüchte gab es jedoch vielfach. Beispielsweise berichtete das Auswärtige Amt im Dezember 1992 über den mutmaßlichen Tod Brunners in Damaskus. Nach anderen Angaben soll er 2001 oder 2008 gestorben sein.
2022, 110 Jahre nach seiner Geburt, geht die Wahrscheinlichkeit, dass Brunner noch immer lebt, gegen null. Daher hat die Staatsanwaltschaft Köln das Verfahren beendet.
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