Hans-Jochen Vogel: Ein Leben im Dienst der Demokratie und der SPD | Vorwärts
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Hans-Jochen Vogel: Ein Leben im Dienst der Demokratie und der SPD

Am 26. Juli 2020 starb Hans-Jochen Vogel. Sein Tod hat eine große Lücke gerissen – in der SPD und weit darüber hinaus.
von Nikolas Dörr · 3. Februar 2021
Ein Allrounder: Am 3. Februar wäre der frühere SPD-Vorsitzende Hans-Jochen Vogel 95. Jahre alt geworden.
Ein Allrounder: Am 3. Februar wäre der frühere SPD-Vorsitzende Hans-Jochen Vogel 95. Jahre alt geworden.

Seine Biografie ist außergewöhnlich: die Erfahrungen als Kind und Jugendlicher im Nationalsozialismus, Fronteinsatz als junger Soldat in der Wehrmacht, Verwundung, der jüngste Oberbürgermeister Deutschlands, SPD-Landesvorsitzender in Bayern, Bau- und dann Justizminister während des RAF-Terrors, Regierender Bürgermeister im Westen der geteilten Stadt Berlin, Kanzlerkandidat, Partei- und Fraktionsvorsitzender während der Friedlichen Revolution in der DDR und der deutschen Wiedervereinigung, Obmann der SPD in der Gemeinsamen Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat, einen Bruder in der CDU, der als Ministerpräsident in zwei Bundesländern regierte und viele weitere Punkte wären zu nennen.

Exakt im Ausdruck, aber mit Humor

Über die zahlreichen politischen Ämter hinaus war Hans-Jochen Vogels Persönlichkeit, die beeindruckte. Er hatte immer Demut, fühlte sich Demokratie und Partei in hohem Maße verpflichtet und stellte sich in ihren Dienst. Er war exakt in seinem Ausdruck, in seinem Schreiben und seiner Art, hatte aber auch Humor. Und er war hochintelligent und gebildet. Entsprechend hohes Niveau verlangte er auch von seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Seine Leistungen als Organisator von Partei und Fraktion, seine rhetorischen Fähigkeiten und seine, bei aller notwendigen Härte als Oppositionsführer, Fairness in der politischen Auseinandersetzung sind bekannt und brachten ihm in allen politischen Lagern größten Respekt ein.

Thematisch war er ein Allrounder, der sich rasch in neue Aufgaben und Entwicklungen einarbeiten konnte. Einen besonderen Schwerpunkt unter den Politikfeldern hatten für ihn, auch durch seine Ausbildung und Ämter als Bundesminister bedingt, die Rechtspolitik und der Wohnungsbau. Darüber hinaus hat er sich auch nachhaltig für die Geschichts- und Erinnerungspolitik interessiert und eingesetzt: im Bund, im Land Bayern, in „seiner“ Stadt München und natürlich auch im Rahmen der SPD.

Mächtiger Fürsprecher des SPD-Geschichtsforums

Mit Hans-Jochen Vogel hatte das SPD-Geschichtsforum, genau wie zuvor die Historische Kommission bis zu ihrer Auflösung, einen mächtigen Fürsprecher beim SPD-Parteivorstand. Ohne Hans-Jochen hätte es das Gedenkbuch der deutschen Sozialdemokratie, mit dem die Partei ihre zahlreichen Opfer in der nationalsozialistischen und der stalinistischen Diktatur würdigt, nicht gegeben. Ohne ihn hätte es auch keine erweiterte zweite Auflage gegeben. Als junger Student (und Sozialdemokrat) habe ich dabei erstmals mit ihm zusammengearbeitet. Etwas schüchtern fragte ich Herrn Vogel, ob ich ein Foto mit ihm machen dürfe. Er antwortete: „Natürlich. Aber nur, wenn Du auch Du zu mir sagst. Wir sind Genossen.“

Seine unprätentiöse, herzliche Art beeindruckte mich von Anfang an. Die Erinnerung an den mutigen Widerstand von Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten gegen die nationalsozialistische Diktatur, aber auch gegen die SED-Herrschaft in der SBZ und DDR, war ihm wichtig. Er hatte größten Respekt vor den Menschen, die wegen ihrer Überzeugung gelitten hatten. Viele kannte er persönlich, so wie Josef Felder, der im Jahr 2000 verstorbene letzte lebende Reichstagsabgeordnete der Weimarer Republik. Hans-Jochen Vogels Witwe Liselotte verlas auf der Trauerfeier im vergangenen Jahr in München sein politisches Testament, das er noch kurz vor seinem Tode seinem Sohn diktiert hatte. Sein letzter Satz – „Sorgen Sie dafür, dass Deutschland bleibt, wofür wir gekämpft haben“ – fasst diese Überzeugung zusammen und ist uns Mahnung und Antrieb zugleich.

Kein passiver „elder statesman“

Er hat, im Gegensatz zu anderen sozialdemokratischen Spitzenpolitikerinnen und -politikern, Geschichtswissenschaft immer hoch geachtet und auch den gesellschaftlichen Nutzen einer umfassenden historisch-politischen Bildungsarbeit anerkannt. Die Initiative zur Gründung von Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V. sowie die Phase als Gründungsvorsitzender des Vereins von 1993 bis 2000 sind ein Ausdruck dieser Leidenschaft. (Nachwuchs)wissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern stand er immer für ein Zeitzeugeninterview bereit, so auch mir, als ich von ihm wissen wollte, wie er den Eurokommunismus und die italienischen Kommunisten erlebt habe. Ich habe ihn nicht ein einziges Mal arrogant erlebt – was bei Spitzenpolitikern von seinem Format selten ist.

Auch nach dem Ausscheiden aus dem Bundestag 1994 war Hans-Jochen Vogel kein passiver „elder statesman“, sondern mischte sich aktiv die Politik ein. Die diversen Parteivorsitzenden, die er nach seinem Rückzug erlebte, Präsidium und Parteivorstand, Minister*innen und Abgeordnete sowie Mitglieder in anderen Funktionen erhielten des Öfteren Briefe mit entsprechenden Anregungen von ihm, die im Falle der Nichtbeachtung bald mit Nachdruck wiederholt wurden. Als Interviewpartner war er medial bis zu seinem Tod begehrt.

Bemerkenswert ist, dass er mit über 90 Jahren noch einmal ein äußerst aktuelles und für die Sozialdemokratie sowie den gesellschaftlichen Zusammenhalt zentrales Thema aufgriff, das ihn bereits ein knappes halbes Jahrhundert zuvor beschäftigt hatte: Wohnungsbau und Mietenpolitik. Noch kurz vor seinem Tod legte er 2019 mit „Mehr Gerechtigkeit! Wir brauchen eine neue Bodenordnung – nur dann wird auch Wohnen wieder bezahlbar“ eine Streitschrift vor, die, wie es Hans-Jochens Art war, eine brillante Analyse der Problematik in Kombination mit Lösungsvorschlägen an die Politik enthielt. Anlässlich seines 95. Geburtstags wird uns erneut bewusst, dass er als Politiker und Ratgeber fehlt, noch mehr aber als Mensch.

Autor*in
Nikolas Dörr

ist Historiker und Politikwissenschaftler am SOCIUM – Forschungszentrum Ungleichheit und Sozialpolitik an der Universität Bremen. Er ist Mitglied des Geschichtsforums beim SPD-Parteivorstand.

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