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Hannelore Kraft, die gefühlte Regierungschefin

Bei der Bundestagswahl stürzte die SPD in NRW ab. Jetzt schafft Hannelore Kraft einen Neustart und bringt die Genossen zum Träumen. Der Jubel am Wahlabend war groß, die Unklarheit über die künftigen Mehrheitsverhältnisse aber auch. Nicht nur deshalb bremst die Spitzenkandidatin allzu kühne Hoffnungen.

Das Festzelt, das die SPD vor ihrer Düsseldorfer Parteizentrale aufgebaut hatte, ist proppenvoll. Bei heißen Temperaturen zeigen sich die Sozialdemokraten bester Stimmung. Jubelnd verfolgen sie Prognosen und Hochrechnungen. Jusos schwenken eine rote Fahne.

Als die SPD bei 34,5 Prozent geschätzt wird, klatschen und schreien Hunderte von Menschen. Sie springen in der Enge. Der Holzboden des Zeltes bebt. Und der Gegner wird sogleich mit Häme bedacht: „Schade, Jürgen, alles ist vorbei“, rufen einige.

Manch einer schwärmt sogleich von der künftigen Rolle als Regierungspartei. „Hannelore, Hannelore Kraft, Kraft, Kraft“-Sprech-Chöre erklingen, als die Spitzenkandidatin um kurz vor halb Sieben vor ihre Anhänger tritt und sich bei den eigenen Leuten für die „tolle Aufholjagd seit der Bundestagswahl“ bedankt. „Die SPD ist wieder da!“, ruft Kraft.

Die Partei fuhr zwar ihr schlechtestes Ergebnis der vergangenen fünf Jahrzehnte in NRW ein – und doch zeigte sie sich an diesem Abend glücklich, zufrieden, ja geradezu euphorisch. Noch vor wenigen Monaten winkten viele Sozialdemokraten ab, wurden sie mit dem 9. Mai konfrontiert. Kraft nicht.

„Ich will vorne liegen, und wenn es nur zehn Stimmen sind“, hatte sie siegesgewiss verkündet. Gebetsmühlenartig war von ihr formuliert worden, die SPD solle – und könne – stärkste Partei an Rhein und Ruhr werden. Mancher Genosse verdrehte bei dieser anfangs kühn wirkenden Aussage die Augen. Von Zweckoptimismus war die Rede. Gleiches galt für die Beschwörung einer Mehrheit für Rot-Grün, die einst streitlustigen Partner. Mit ihrer Stärke, trotz des Einzugs der Linken in den Landtag, hatte niemand gerechnet.

Szenenwechsel, Willy-Brandt-Haus, Berlin: Es ist die erste Landtagswahl, die unter dem Vorsitz von Sigmar Gabriel stattfindet. Gabriel war in den vergangenen Wochen unermüdlich zwischen Aachen und Münster unterwegs. Anfangs hat Gabriel die Wahlaussichten als bescheiden eingeschätzt. Zumal in den vergangenen Tagen wurde er, versorgt mit Analysen aus der Meinungsforschung, optimistischer.

Bereits am Sonntag gegen 17 Uhr, in Kenntnis der Nachwahlbefragungen, gratulierte er Kraft telefonisch. Gelöst, selbstbewusst, an sich glaubend – die Spitzenkandidatin habe in den vergangenen Tagen stets einen hervorragenden Eindruck hinterlassen, heißt es in Gabriels Umfeld. Das gestrige Ergebnis sei ein „realer Sieg“, mithin nicht – wie einst in Hessen – ein „gefühlter Sieg“. Doch bei alldem werde der SPD nach diesem Abschneiden nun, in der Krisensituation in Europa, viel Verantwortung abverlangt.

Erst aber einmal feierte sich die SPD. „Das System Rüttgers ist abgewählt worden“, rief Gabriel im Atrium des Willy-Brandt-Hauses in Berlin: „Es wird Anstand wieder in die Staatskanzlei einziehen, wenn Rüttgers ausgezogen ist.“ Seine Anhänger jubelten.

Gabriel aber blieb am Abend – als sich noch keine belastbaren Mehrheitsverhältnisse abzeichneten – zunächst vorsichtig und sprach im Konjunktiv: Wenn Hannelore Kraft Ministerpräsidentin werden „sollte...“. Der SPD-Vorsitzende wollte die Latte nicht zu hoch hängen. Er weiß, dass enttäuschte Erwartungen – siehe Hessen – in den eigenen Reihen zu unberechenbaren Situationen führen können.

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Und doch erwies sich die Stimmung als ausgelassen. Vertreter aus der Parteispitze bauten sich in der SPD-Zentrale hinter Gabriel auf. Die Depression, die dieser Raum bei der Bundestagswahl im vorigen Jahr erlebte, wirkt plötzlich wie aus grauer Vorzeit. An jenem Tag hatte die einstige nordrhein-westfälische Staatspartei in ihrem Stammland nur 28 Prozent der Stimmen erzielt.

Das Ergebnis stärkt Gabriel und dem Fraktionsvorsitzenden Frank-Walter Steinmeier den Rücken. Ein erneutes Debakel hätte dem neuen Führungsduo einige Schrammen verpasst. Als eigenen Erfolg aber können beide Männer diesen 9. Mai kaum verkaufen. Sie wissen, dass vor allem die Schwäche von Schwarz-Gelb der SPD zugute kam. Und sie kennen den Anteil Krafts an diesem Erfolg.

Kraft hat die Partei konsolidiert. Sie führte den eigenen Landesverband in den vergangenen Jahren eher zaghaft denn rabiat, und dies, obwohl sie ihn unumschränkt beherrscht. Sie verschaffte der Partei wieder Luft zum Atmen, ließ Kommunikation wieder zu und bot zahlreiche Dialogforen an. Eine personelle Erneuerung indes ging sie bisher nicht an.

Vorsichtig agiert Kraft stets. Manche nennen sie misstrauisch – und in dieser Hinsicht vergleichbar mit Angela Merkel (was Kraft selbst rüde zurückweist). Von einem „letzten Schub am späten Abend“, auf den sie setze, sprach sie, als noch unklar war, welche der beiden großen Parteien die Nase vorn hatte. Zur gefühlten Regierungschefin ließ sie sich noch nicht ausrufen. Eine direkte Umarmung der Linken vermied sie ebenso. Ihr Wort aus dem Wahlkampf, wonach jene Partei „weder regierungswillig noch regierungsfähig“ sei, dürfte vielen Menschen noch im Ohr klingen.

Das Ende von Schwarz-Gelb löst in der SPD Triumphgefühle aus: „2005 war nur ein Unfall. Jetzt sind wir wieder da, wo wir hingehören“, umschreibt ein altgedienter Genosse die Gefühlslage auf der Wahlparty in Düsseldorf. „Hannelore Kraft wurde lange unterschätzt“, sagen Parteimitglieder aus ihrem Mülheimer Wahlkreis. „Wir haben immer gewusst, was in ihr steckt.“

Während der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach bereits Interviews gibt, hat ein anderer die neue Hackordnung verinnerlicht. „Ich rede erst, wenn Hannelore Kraft gesprochen hat“, sagt Guntram Schneider, DGB-Vorsitzender und in Krafts Team für Arbeitsmarktpolitik zuständig.

„Wir wollen hier doch keine Kakofonie anfangen“, meint er, und die Umherstehenden nicken. Plötzlich zeigt sich die SPD wieder recht nüchtern. Für kühne Träume, übermäßige Hoffnungen und euphorische Erwartungen besteht wenig Grund. Und von „überhöhten Projekten“ hält Hannelore Kraft ohnehin nichts.

Mitarbeit: Willi Keinhorst

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