Jeanne Tremsal über ihre Zeit in der Kommune: Wir sehen uns in der Hölle, Otto!

Jeanne Tremsal über ihre Zeit in der Kommune: Wir sehen uns in der Hölle, Otto!

Sie wuchs in der Otto-Mühl-Kommune auf, bis der Künstler wegen Kindesmissbrauchs verhaftet wurde. Ihr Film„Servus Papa, See You in Hell“ ist eine Befreiung.

Die Filmemacherin Jeanne Tremsal. Viele Erinnerungen an ihre Zeit in der Kommune hatte sie lange verdrängt.
Die Filmemacherin Jeanne Tremsal. Viele Erinnerungen an ihre Zeit in der Kommune hatte sie lange verdrängt.Antoine Santiago Sabre

„Ach was sind das für Quaaalen – der Schorsch und die Zaaahlen. Würd‘ er anders ticken und mich richtig ficken“, singt eine Frau (Aenne Schwarz), bevor sie bellend über den Boden krabbelt. Um sie herum gackern Hühner und klatschen Menschen, jemand (Dirk von Lotzow) spielt Gitarre. Zum Finale der Darbietung stimmen noch mal alle laut mit ein. Ein Umschnitt bringt die Irritation: Da sitzt auch eine Horde Kinder und Jugendliche im Publikum, und auch die jungen Menschen klatschen und singen mit, als würde hier gerade ein Geburtstagsständchen vorgetragen.

So oder so ähnlich erinnert sich Jeanne Tremsal an Szenen aus ihrer Kindheit. Die heute 44-jährige Berlinerin wuchs in der österreichischen Otto-Mühl-Kommune auf, die Anfang der 80er-Jahre über 600 Mitglieder hatte. Hier musste freie Liebe praktiziert werden, sich echt zu verlieben war verboten. Der erklärte Feind: die Spießergesellschaft da draußen. Manche Kommunarden lebten in Stadtkommunen, wo sie regulären Jobs nachgingen, das Herzstück allerdings bildete ein Hof in der Parndorfer Heide im Burgenland. Hier wuchsen auch die Kinder auf – ohne ihre Eltern. Denn die Kleinfamilie hatte Otto Mühl zum Ursprung allen Übels erklärt.

Die Kinder sahen ihre Eltern nur selten

Jeanne Tremsal zog mit zwei Jahren in die Kommune, ihre Eltern kamen nur selten zu Besuch. Bis zur Pubertät kannte das Mädchen kein anderes Leben, und viel daran war paradiesisch. Die Gemeinschaft der Kinder, das Aufwachsen in der Natur. Im Sommer schwammen sie im See, spielten im Wald, kümmerten sich um die Pferde. Im Winter waren sie eingeschneit, bauten Iglus, sausten mit Skiern und Schlitten die Hügel hinunter. Es war ein 60 Hektar großer Abenteuerspielplatz. Anderes, was auf dem Friedrichshof auch passierte, hat Tremsal lange verdrängt.

„Es war wahrscheinlich auch ein Überlebensinstinkt“, erklärt sie, als wir uns zum Gespräch vor der Filmpremiere im Kant-Kino treffen. „Als ich aus der Kommune raus war, ging es ja erstmal vor allem darum, ein neues Leben aufzubauen. Da wollte ich mich nicht mit der Vergangenheit auseinandersetzen.“ Erst in ihren Dreißigern kamen Erinnerungen wieder hoch, die Aufschluss über manches geben konnten, womit Tremsal privat zu kämpfen hatte. Sie schrieb alles auf und spielte länger mit dem Gedanken, ihre Geschichte als Buch zu veröffentlichen. Doch es waren vor allem Bilder, die sie teilen wollte, und so entschied sie, gemeinsam mit ihrem Lebenspartner, dem Künstler und Regisseur Christopher Roth, einen Film zu machen.

Nun steht der Kinostart von „Servus Papa, See You in Hell“ kurz bevor. Die Drehbuchautorin ist aufgeregt, doch die nervenaufreibendste Vorführung liegt schon hinter ihr. Diese fand Ende Juni beim Filmfest in München statt, hier sah Tremsals Familie den Film zum ersten Mal. Auch ihre Schwester, die ebenfalls auf dem Friedrichshof aufwuchs. „Meine Schwester hat Schlimmeres erlebt als ich, einfach weil sie vier Jahre älter war“, erzählt die Filmemacherin. Auch das war ein Grund dafür, dass sie ihre eigenen Erfahrungen so lange vergrub. Sie wollte ihre Mutter nicht noch mehr belasten, die an den Schuldgefühlen fast zerbrach, als Otto Mühl schließlich wegen Kindesmissbrauchs ins Gefängnis ging. „Erst durch die Arbeit am Film hat sie dann erfahren, dass auch mir schlimme Dinge passiert sind.“

„Otto hatte eben auch ein wahnsinniges Charisma“

Im Film spielt Jeanne Tremsal nun ihre eigene Mutter. Eigentlich wollte sie nicht vor die Kamera, doch sie merkte schnell, dass sie diese Rolle an niemanden abgeben konnte. „Ich wollte sichergehen, dass auch rüberkommt, wieviel Liebe da war. Denn ich mache meinen Eltern bis heute absolut keinen Vorwurf.“ Die Zweifel, ob sie das Recht habe, die Geschichte so zu erzählen, ob sie ihrer Familie damit vielleicht neues Leid antäte, blieben bis zum Schluss. Umso größer war die Erleichterung nach der Premiere. Sowohl die Mutter als auch die Schwester fanden den Film toll. Und auch von anderen ehemaligen Kommunarden gab es bisher keine negativen Reaktionen.

Nun bleibt bei Jeanne Tremsal die Sorge um die Reaktion der Zuschauer, die keine eigenen Erfahrungen mit der Kommune gemacht haben, die mit dem aktuellen Zeitgeist auf den Film blicken. Bei der Premiere in Frankfurt, einen Tag vor unserem Gespräch, blaffte ein älterer Zuschauer, dass er damit gar nichts anfangen könne. Seien die Mädchen und Frauen dort denn nun vergewaltigt worden oder nicht? Auch dass Menschen sich nach #MeToo an der ambivalenten Darstellung der Kommune reiben, kann die Schauspielerin sich vorstellen. „Ich wollte das alles nicht schwarz-weiß erzählen. Sondern aus den Augen eines 13-jährigen Mädchens, das nichts anderes kennt.“

Dazu gehört auch der Blick auf Otto Mühl. Der Aktionskünstler war um die 60, als Jeanne mit ihm zusammenlebte, im Film wird er von dem deutlich jüngeren und deutlich schöneren Clemens Schick gespielt. „Natürlich wäre es immer falsch gewesen, was da passiert ist, auch mit einem jüngeren Mann. Aber Otto hatte eben auch ein wahnsinniges Charisma, und auch ich habe eine Zeitlang geglaubt, er wäre der tollste Mann der Welt. Das hat man uns ja unser ganzes Leben lang erzählt. Und trotzdem hatte man auch eine wahnsinnige Angst vor ihm, und wenn er einen angefasst hat, war das ganz schrecklich.“

Otto Mühl entschuldigte sich erst 2010

Otto Mühl zeigte jahrzehntelang keine Reue. Erst als das Wiener Museum für angewandte Kunst seine Werke 2010 groß ausstellte, entschuldigte er sich bei der Eröffnungspressekonferenz bei seinen Opfern für die sexuellen Übergriffe. Jeanne Tremsal konnte das nicht ernst nehmen: „Ich glaube, dass er bis zum Tod überzeugt war, alles richtig gemacht zu haben. Dass die Kommune sein größtes Kunstwerk war.“ Mühl kam nach sieben Jahren aus der Haft frei, danach lebte er in Portugal. Die Nachricht über seinen Tod war für Tremsal ein Schock. Stets hatte sie den losen Plan ihm Kopf, ihm noch mal zu begegnen, ihn zu konfrontieren. „Dann war er plötzlich weg, und alles blieb ungelöst.“

Doch ausgerechnet am Todestag von Mühl kam die Zusage für die Drehbuchförderung. Tremsal nahm es als Zeichen, als Ermutigung für den nächsten Schritt. Der Abschnitt Film wird in ein paar Wochen hinter ihr liegen, Tremsal ist froh darüber. „Die Fiktionalisierung war auch eine Befreiung“, sagt sie. Die Jeanne im Film, grandios gespielt von Jana McKinnon, sei mutiger, als sie es selbst in Wirklichkeit gewesen war. Am Ende des Films starten die Kinder eine Revolution.

Nach der Befreiung will Jeanne Tremsal nun wieder ein neues Kapitel aufschlagen. Mit 16 fand sie Zuflucht in der Schauspielerei, nach zwei schwierigen Jahren in der Außenwelt, als Alien aus der „Sexkommune“ auf einem katholischen Gymnasium. Sie wurde schon bald in Fernsehrollen besetzt, doch irgendwann kamen ihr Zweifel, kam die Frage nach dem Sinn. Fünf Jahre lang hat sie das französische Restaurant Le Petit Royal nahe dem Savignyplatz geleitet, vor kurzem das operative Geschäft abgegeben. Gerade gründet sie eine Produktionsfirma und schreibt eine Restaurantserie mit Helene Hegemann. „Ich habe hohe Ansprüche und bin noch nicht desillusioniert“, sagt sie. Sollte es irgendwann dazu kommen, wird Jeanne Tremsal auch damit umzugehen wissen. Das hat sie mit ihrem Film eindrücklich bewiesen.