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Philosophie

Gegen die Abstraktionstheorie der Begriffsbildung ebenso wie gegen die naive Weltsicht, die sich unbegriffen auch in elaborierten Theorien der Erkenntnis durchhält, entwickelte Cassirer in diesem 1910 erschienenen Werk seine als Grundlegung der Erkenntnistheorie wie der Wissenschaftstheorie angelegte Theorie des Begriffs. Die am historischen und zeitgenössischen Material wissenschaftlicher Theorien durchgeführte These des Werks, dass alle Begriffsbildung an eine bestimmte Form der Reihenbildung gebunden ist, trägt die grundlegende Einsicht in die konstruktive Leistung des erkennenden Bewusstseins, die Cassirer in der Theorie der identifizierenden Synthese als der aller Begriffsbildung zugrunde liegenden gedanklichen Funktion konkretisiert. An der vorherrschenden (aristotelischen, am Modell biologischer Gattungsbegriffe orientierten) Abstraktionstheorie des Begriffs macht Cassirer in kritischer Absicht sichtbar, dass sie einer abbildrealistischen Vorstellung verhaftet ist – so als wären etwa die Einteilungen in ‚Ding und Eigenschaft‘, in ‚Ganzes und Teil‘ als Beschreibungen von Eigenschaften der Dinge selber anzusehen. Sie sind aber, so macht Cassirer geltend, kategoriale Akte zu deren Formung und Beurteilung. Und mehr noch sind die Dinge auch keine absoluten Substanzen jenseits aller Erkenntnis – sie sind vielmehr die Objekte, die sich in diesen kategorialen Akten, „in der fortschreitenden Erfahrung selbst“ erst gestalten. Diese These trägt gleichermaßen die Einsicht in die Historizität aller Begriffsbildung wie in die Invariabilität der Voraussetzung von Leistungen des Bewusstseins und darf insofern als eine Historisierung des kantischen Apriori angesprochen werden.

Cassirer exemplifiziert seine These in der Analyse der mathematischen und der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung und entwickelt auf dieser Grundlage in einer allgemeinen erkenntnistheoretischen Reflexion auf das rein relationale Verhältnis von ‚Denken und Sein‘, von ‚Subjekt und Objekt‘ seinen kritisch reflektierten Begriff von Wirklichkeit im Sinne empirischer Gegenständlichkeit. Für alle Erkenntnis ist die Richtung vom Variablen zum Konstanten wesentlich. Schon in jedem einfachsten Erkenntnisurteil werden wiederholbare Bestimmungen fixiert. „Das Ziel, dem alle empirische Erkenntnis zustrebt, liegt [...] in der Gewinnung letzter Invarianten, die die notwendigen und konstitutiven Faktoren jedes Erfahrungsurteils bilden.“ Es ist der Begriff der Objektivität, der diese methodischen (logischen) „Haltpunkte“ in einem fortschreitenden Prozess der Gewinnung von Konstanten der Erfahrung markiert. Der Gegensatz von „objektiv“ und „subjektiv“ meint somit einen dynamischen Gegensatz, eine methodische Korrelation – nicht „eine Veränderung, die die Substanz der Dinge, sondern lediglich [...] eine solche, die die kritische Bewertung von Erkenntnissen erfährt“; keine „starre Scheidewand“, sondern „eine bewegliche Grenze, die sich im Fortgang der Erkenntnis selbst beständig verschiebt“: So behauptet auf der einen Seite z. B. die sinnliche Wahrnehmung gegenüber Halluzination und Traum einen Anspruch auf Objektivität, während sie gegenüber dem Schema der exakten Physik das bloß Subjektive repräsentiert; dieses Subjektive ist auf der anderen Seite kein ursprünglich und selbstverständlich gegebener Ausgangspunkt, „sondern es ist erst das Ergebnis einer Analyse, die den Bestand der Erfahrung selbst, die also die Geltung fester gesetzlicher Relationen zwischen Inhalten überhaupt voraussetzt“.

Es ist die Funktion des Begriffs, durch das Festhalten identischer Beziehungen im wechselnden Vorstellungsinhalt solche Relationen allererst zu stiften. Nicht in der Abbildung eines vermeintlich gegebenen Mannigfaltigen, „sondern darin, daß er ein Gesetz der Beziehung in sich schließt, durch welches ein neuer und einzigartiger Zusammenhang des Mannigfaltigen erst geschaffen wird“, liegt für Cassirer die „eigentliche Leistung des Begriffs“. Durch logische ‚Verknüpfung‘, durch die damit gestiftete ‚Ordnung‘ entsteht so empirische Gegenständlichkeit. „Es ist somit die logische Differenzierung der Erfahrungsinhalte und ihre Einordnung in ein gegliedertes System von Abhängigkeiten, was den eigentlichen Kern des Wirklichkeitsbegriffs bildet.“ Mit Bezug auf Räumlichkeit spricht er ausdrücklich vom konstruktiven Aufbau der Wirklichkeit – eine Bestimmung, die sich freilich für alle ihre begrifflichen Momente mit gleichem Recht geltend machen lässt. In dem Aufsatz „Die Sprache und der Aufbau der Gegenstandswelt“ (1932) hat Cassirer diesen Gedanken in den systematischen Zusammenhang einer ‚Philosophie der symbolischen Formen‘ geholt, indem er ihn in den Leistungen sprachlicher Darstellung konkretisiert. Eine konstitutive Bedingung allen Erfahrungsinhalts im Sinne dieses Wirklichkeitsverständnisses bildet für ihn schon in Substanzbegriff und Funktionsbegriff die Repräsentation in einem System von Relationen, die sich nicht anders als in ‚Symbolen‘ bzw. (hier noch synonym gefasst) in ‚Zeichen‘ artikulieren lassen.

Cassirer prägte für seinen methodischen Ansatz, der in einem ersten Zugriff als ein im weitesten Sinne verstandener Konstruktivismus charakterisiert werden mag, mit Bedacht den programmatischen Titel eines „kritischen Idealismus“. Kant hatte mit seinem „transzendentalen Idealismus“ den Gedanken in die Welt gebracht, dass wir die Dinge nicht erkennen können, wie sie an sich selbst betrachtet sind, sondern nur so, wie sie uns erscheinen (Noumenon/Ding an sich – Phaenomenon/Erscheinung). Im Blick auf die moderne Naturwissenschaft entfaltet Cassirer diese kritische Einsicht: Die Dinge haben als Objekte der Erkenntnis ihren Bestand in begrifflichen Relationen, die als logische Funktionen gedanklicher Synthese zu begreifen – und von denen sie unablösbar sind.

In diesem Werk legte der ‚Erkenntnis-Cassirer‘, wie er als junger Privatdozent an der Berliner Universität auf Grund seiner bis dahin in zwei Bänden entwickelten gelehrten Abhandlung über Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit (1906 und 1907) genannt wurde, seinen eigenen systematischen Beitrag zur Erkenntnistheorie und Wissenschaftstheorie vor. Im Prospekt des Gesamtwerkes darf es zugleich als Element der methodischen Grundlegung einer Philosophie der symbolischen Formen angesehen werden.