Es ist eines der bekanntesten frühen Tondokumente der deutschen Geschichte: „Das Alte und Morsche, die Monarchie ist zusammengebrochen. Es lebe das Neue; es lebe die deutsche Republik!“ Aber waren es tatsächlich diese Worte, mit denen Philipp Scheidemann am 9. November 1918 die erste deutsche Demokratie ausrief?
Gegen 14 Uhr war der SPD-Abgeordnete an diesem Sonnabend auf den Westbalkon des Reichstagsgebäudes getreten. Auf dem Platz standen dicht gedrängt zahlreiche Bürger und schwenkten ihre Hüte. So zeigt es ein berühmtes Foto dieses wichtigen Tages der deutschen Geschichte.
Während das Foto tatsächlich am 9. November 1918 gegen 14 Uhr entstand, gibt es von Scheidemanns Rede keine Originalaufzeichnung. Das ist nicht verwunderlich, wurden doch damals öffentliche Reden nicht einmal per Mikrofon verstärkt. Die Kraft der Stimme des Redners musste genügen, um das Publikum zu erreichen.
Woher stammt also die Aufzeichnung? Jahrzehntelang hielt man sie für das Original. In Wirklichkeit jedoch sprach Scheidemann seine Sätze nachträglich auf Schallplatte – übrigens auf den Tag genau 14 Monate nach jenem historischen Sonnabendnachmittag. Möglich also, dass Scheidemann seine Worte an die bereits völlig veränderte politische Lage zum Zeitpunkt der Aufnahme angepasst hat. Denn die erste deutsche Demokratie wurde von ihrer Geburtsstunde an von allen Seiten, von rechts und von links, angegriffen. Mehrfach stand sie kurz vor dem Zusammenbruch.
Mit der Scheidemann-Aufzeichnung beginnt das neue Hörbuch von Hans Sarkowicz. Der Radiohistoriker des Hessischen Rundfunks befasst sich in seiner jüngsten Produktion mit der Weimarer Republik, der ersten Demokratie in Deutschland. Und natürlich konzentriert er sich auf Tondokumente – originale und nachträglich eingesprochene.
Die Ausrufung der Republik war am 9. November 1918 keineswegs die einzige Option. Der SPD-Vorsitzende Friedrich Ebert hätte sich Deutschland ebenso als parlamentarische Monarchie vorstellen können. Zur Proklamation einer parlamentarischen Republik, also eines Staates mit gewähltem, nicht durch Geburt bestimmten Staatsoberhaupt, war Scheidemann nicht autorisiert. Dennoch entsprach sein Vorpreschen auch Eberts Interesse, weil er auf diese Weise Karl Liebknecht zuvorgekommen war. Der Linkspolitiker proklamierte tatsächlich anderthalb Stunden später vom Berliner Stadtschloss aus eine „sozialistische Republik“, aber strebte eigentlich das sowjetische Modell an: die „Diktatur des Proletariats“.
Sarkowicz schildert in seiner Toncollage die gesamte Zeit der ersten deutschen Republik bis 1933, der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler. Zu Wort kommen beispielsweise Schriftsteller wie Thomas Mann, Gottfried Benn und Joachim Ringelnatz, aber auch Wissenschaftler wie Albert Einstein, Maler wie Max Pechstein und natürlich Politiker, unter anderem Friedrich Ebert.
In den 1920er-Jahren entwickelte sich die Tonaufzeichnung überhaupt erst zum eigenständigen Medium, und es war auch für Prominente wie Mann, den Literaturnobelpreisträger von 1929, üblich, sich auf diese Weise an ein stark wachsendes Publikum zu wenden.
Die akustischen Zeugnisse ergänzen zwei bekannte Experten, der Literaturwissenschaftler Helmuth Kiesel und der Historiker Ulrich Herbert, mit Kommentaren. So entsteht ein überzeugendes Panorama der turbulenten Zeit zwischen dem Ende des Ersten Weltkriegs im November 1918 und der Machtübernahme Hitlers Ende Januar 1933.
In diesen knapp anderthalb Jahrzehnten gaben sich die Hausherren in der Reichskanzlei an der Berliner Wilhelmstraße die Klinke in die Hand: 14 Mal in 14 Jahren wurde die Funktion des Regierungschefs weitergegeben. Ein rechter Wirbelwind von Kanzlern – aus heutiger Sicht jedenfalls. Angela Merkel ist schon jetzt beinahe so lange Kanzlerin, wie die Weimarer Republik insgesamt gedauert hat.
Hans Sarkowicz: „Die ungeliebte Demokratie. Die Weimarer Republik zwischen rechts und links“ (Hörverlag München. 2 CDs. 18 Euro)
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