Ein Mann sitzt zu Hause im Rollstuhl. Aus dem verrückten Krieg in Korea oder Vietnam oder wo auch immer ist er als Krüppel heimgekehrt. Und nun hört er, wie seine Frau sich hübsch macht. Ihre hohen Hacken klappern auf der Holztreppe draußen. Weg ist sie. Und der Mann, der natürlich versteht, dass seine junge, hübsche Frau mit ihrer Liebe irgendwo hinmuss, wird von mörderischem Hass auf sie verzehrt. Käme er bloß an seine Pistole, er würde sie erschießen: „Ruby, Don’t Take Your Love To Town“.
Kenny Rogers hat den Song nicht geschrieben, aber ihn zum internationalen Hit gemacht. Nun ist der große Countrysänger tot. Drei Akkorde und die Wahrheit, sagt man, das sei das Geheimnis der Countrymusik. Die Wahrheit eines Songs wie „Ruby“ war 1969, als Rogers ihn herausbrachte, für die meisten Deutschen zu viel. Gerhard Wendland brachte 1970 eine Coverversion heraus mit der Zeile: „Ruby, schau einmal übern Zaun“. Vergessen wir das.
Ein Mann sitzt in einer abgewrackten Bar in Toledo und beobachtet, wie eine Frau sich den Ehering vom Finger zieht. Er macht sie an, kauft ihr einen Drink nach dem anderen. Da taucht ihr Mann auf: ein Typ wie ein Berg. Doch statt seine riesigen Fäuste zu benutzen, fängt der an zu heulen: Zu Hause warten vier hungrige Kinder, die Ernte muss eingebracht werden. Musst du uns gerade jetzt verlassen, Lucille? Später: ein billiges Hotelzimmer. Sie will, er kann nicht, weil er ständig an die Worte ihres Ehemanns denkt: „You picked a fine time to leave me, Lucille“. Auch den Song hat Kenny Rogers nicht geschrieben. Er war überhaupt eher Interpret als Songwriter. Aber auch „Lucille“ machte er zum Hit.
Michael Holms deutsche Version beschreibt immerhin – man schreibt inzwischen das Jahr 1977 – die Anmache in der Bar, lässt aber die Peinlichkeit im Hotelbett weg. Aber das machte Kenny Rogers gerade aus. Seine angeraute, relativ hohe, in der Kehle quälend hängen bleibende Stimme schien wie gemacht, um Loser-Geschichten zu erzählen: vom Treffen zweier abgehalfterter Pokerspieler in einem Zug – „The Gambler“ – oder vom Pazifisten, der zum Mörder wird, als seine Frau einer Gruppenvergewaltigung zum Opfer fällt: „Coward Of The County“.
1938 in Texas geboren, ging Rogers vom Jazz zum Rock’n’Roll zur Countrymusik. Ein bisschen Opportunismus war dabei, wie er in dem autobiografischen Song „Sweet Music Man“ selbstironisch anmerkt: „Du bist ein verdammt guter Sänger und ein mächtiger Mann, aber du umgibst dich mit Typen, die zu wenig von dir verlangen.“ So war das. Musikalisch war Kenny Rogers oft ein wenig zu gefällig – an seinen größten Hit, „Islands In The Stream“, gesungen im Duett mit Dolly Parton, mag man nur mit Fremdscham denken.
Rogers gehörte nicht zu den Outlaws wie Willie Nelson und Waylon Jennings, die den Rock und die rebellische Attitüde in die Countrymusik zurückbrachten. Als er beschloss, selbst einen Ausflug in die Soulmusik zu unternehmen, ließ er sich ausgerechnet vom windelweichen Lionel Richie beraten statt von Ray Charles, dessen Ausflüge in die Countrymusik Rogers überhaupt auf die Idee gebracht hatten, es mit dem Crossover zu versuchen.
Egal. „Ruby“ und „Lucille“ und Tommy aus „Coward of the County“, die versoffenen Glücksspieler im Zug nach nirgendwo werden bleiben, auch wenn das Radio in den nächsten Tagen ständig „Islands In The Stream“ daddeln wird. Wer je versucht hat, eines dieser Lieder selbst zu singen, wird die Kunst von Kenny Rogers noch mehr bewundern: so zurückhaltend zu singen als ginge es bei diesen Tragödien um Alltägliches wie Müll herausbringen. Weil sie ja alltäglich sind. Und wir warten immer noch auf deutsche Songs, die so schonungslos mit dem Leben abrechnen, und auf eine Stimme, die so unpathetisch die Loser dieses Lebens zu Wort kommen lässt.