100 Jahre 9. Sinfonie: Beethoven und die ewige Hoffnung auf eine bessere Welt

Beethoven und die ewige Hoffnung auf eine bessere Welt

Die Staatsbibliothek zu Berlin verwahrt so gut wie alle Notenblätter von Beethovens 9. Sinfonie. Was macht das Werk, vor 200 Jahren uraufgeführt, so besonders?

Die Haare ungezähmt, die Lippen entschlossen, der Blick visionär – so malte Joseph Stieler 1820 Ludwig van Beethoven. Der Komponist war damals 49 Jahre alt und arbeitete an der „Missa solemnis“.
Die Haare ungezähmt, die Lippen entschlossen, der Blick visionär – so malte Joseph Stieler 1820 Ludwig van Beethoven. Der Komponist war damals 49 Jahre alt und arbeitete an der „Missa solemnis“.Pictures From History/imago

Der Maestro höchstselbst gibt sich die Ehre. So verheißen es die Plakate, die ein Konzert im Hoftheater „nächst dem Kärnthnerthore“ ankündigen. „Herr Ludwig van Beethoven wird an der Leitung des Ganzen Antheil nehmen“, steht da geschrieben. Den geneigten Wienern stellt sich die Frage, wie das zu verstehen ist. Der Mann wird ja wohl als Ehrengast erscheinen, keinesfalls als Dirigent, schließlich ist er, wie man sagt, inzwischen taub. Oder?

Am Abend des 7. Mai 1824 steht Beethoven leibhaftig auf der Bühne. Sein letzter Auftritt liegt sechs Jahre zurück. Von den 2400 Plätzen sind fast alle besetzt. Das Konzert beginnt um 19 Uhr mit der Ouvertüre zu „Die Weihe des Hauses op. 124“, es folgen Auszüge aus der „Missa solemnis op. 123“, schließlich ertönt – erstmals öffentlich – die „9. Sinfonie op. 125“.

„Beethoven fuhr wie ein Wahnsinniger hin und her“, erinnert sich ein Geiger. „Bald streckte er sich hoch empor, bald kauerte er bis zur Erde, er schlug mit Händen und Füßen herum, als wollte er allein die sämtlichen Instrumente spielen.“

Tatsächlich dirigiert nicht Beethoven, sondern, neben ihm stehend, der Kapellmeister Michael Umlauf. Im zweiten Satz der 9. Sinfonie, als das nur einen Takt lange Paukensolo einsetzt, klatscht das Publikum spontan Beifall. Beim vierten, dem Finalsatz, steht Beethoven mit dem Rücken zum Publikum und liest die Worte der Sängerinnen und Sänger, die die von ihm bearbeiteten Strophen aus Friedrich Schillers Gedicht „An die Freude“ vortragen, von ihren Lippen ab.

Ein Konzert mit den neuesten Werken Ludwig van Beethovens kündigt dieses Plakat für den 7. Mai 1824 in Wien an. Es wird die Uraufführung von Beethovens 9. Sinfonie.
Ein Konzert mit den neuesten Werken Ludwig van Beethovens kündigt dieses Plakat für den 7. Mai 1824 in Wien an. Es wird die Uraufführung von Beethovens 9. Sinfonie.Staatsbibliothek zu Berlin

Der letzte Ton verklingt, da beginnt das Publikum zu jubeln. Weil Beethoven die Ovationen nicht hört, macht ihn eine Solistin darauf aufmerksam. Der 53-Jährige dreht sich um und verbeugt sich – wie es heißt, „in linkischster Weise“.

Noch nie habe er „so einen wüthenden u doch herzlichen Applaus gehört als heute“, schreibt Beethovens Sekretär Anton Schindler nach dem Konzert. Die 9. Sinfonie wird gut zwei Wochen später im Großen Redoutensaal der Hofburg noch mal gespielt. Bald ist sie auch andernorts zu hören: 1825 in London, Frankfurt und Aachen, 1826 in Leipzig, Bremen und Berlin.

Beethovens Neunte gilt als das weltweit populärste Werk der klassischen Musik. Die Sinfonie ist Weltkulturerbe, in Japan eine Art zweite Nationalhymne und ihr „Freude, schöner Götterfunken!“ aus dem Schlusssatz die Europahymne.

Zu ihrer Zeit ist die 9. Sinfonie eine Revolution. Ungewöhnlich lang ist sie, bis zu 70 Minuten. Und zum ersten Mal sind in einem sinfonischen Werk Stimmen zu hören: Im Finalsatz singen ein Chor und vier Solistinnen und Solisten. Neu ist auch, dass sich ein Komponist direkt an seine Zuhörer wendet: Bevor die „Ode an die Freude“ gesungen wird, spricht Beethoven die Worte: „O Freunde, nicht diese Töne! Sondern lasst uns angenehmere anstimmen, und freudenvollere!“

„Es ist eine geniale Musik“, schwärmt Martina Rebmann. Die promovierte Musikwissenschaftlerin leitet die Musikabteilung der Staatsbibliothek zu Berlin, die eine einzigartige Beethoven-Sammlung verwahrt. „Wenn ,Freude, schöner Götterfunken!‘ einsetzt, dann ist das Emotion pur, da geht’s ab!“

In seinem Leben komponierte Beethoven etwa 720 größere und kleinere Werke, unterteilt in Werke und Werkgruppen mit Opuszahl, Werke ohne Opuszahl und unvollendete Werke, dazu Skizzen zu Werken, Pläne zu Opern und Oratorien sowie Kompositionsstudien. Er fertigte zwischen 1799 und 1824 neun Sinfonien. Unvollendet blieben eine „nullte“ und eine zehnte.

Haufenweise Schriftstücke hinterließ Beethoven bei seinem Tod. Mit etwa 220 Autografen befindet sich heute mehr als die Hälfte aller überlieferten Handschriften in der Staatsbibliothek zu Berlin, darunter, fast vollständig, das Autograf der 9. Sinfonie.

Martina Rebmann, Leiterin der Musikabteilung der Berliner Staatsbibliothek, blättert im Faksimile der 9. Sinfonie Beethovens. „Wenn ich die Notenhandschrift sehe, spüre ich die gewaltige Musik, die dahintersteckt, die Dynamik!“
Martina Rebmann, Leiterin der Musikabteilung der Berliner Staatsbibliothek, blättert im Faksimile der 9. Sinfonie Beethovens. „Wenn ich die Notenhandschrift sehe, spüre ich die gewaltige Musik, die dahintersteckt, die Dynamik!“Michael Brettin/BLZ

Im ersten Stock der Staatsbibliothek am Standort Unter den Linden befindet sich das Büro von Martina Rebmann. Sie sitzt an einem Tisch. Vor ihr liegt ein Buch, ziemlich groß (40,7 mal 37,8 Zentimeter), ziemlich dick (476 Seiten), ziemlich schwer (sechs Kilogramm). Dessen Titel: „Ludwig van Beethoven: Symphonie Nr. 9 d-Moll op. 125“. Seite für Seite wendet sie, dann sagt sie: „Zarte Notenköpfe, schwungvolle Notenhälse – wenn ich die Notenhandschrift sehe, spüre ich die gewaltige Musik, die dahintersteckt, die Dynamik!“

Das Buch ist ein Faksimile, eine Reproduktion; das Original ist für die Öffentlichkeit nicht zugänglich. Wo genau befindet es sich? Martin Rebmann lächelt. So viel darf sie verraten: „Die Handschriften werden dunkel aufbewahrt, in einer staubdichten Kassette, bei etwa 18 Grad Raumtemperatur und 50 Prozent Luftfeuchte.“ Dann gibt sie noch eine Information preis: Der Raum mit dem Autograf liege zwei Stockwerke unter ihrem Büro, ungefähr dort, wo Beethoven einst vorspielte.

Im Jahr 1796 hält sich Beethoven sechs Wochen lang in Berlin auf. Der damals 25-Jährige befindet sich auf Konzertreise, der einzigen seines Lebens. Im Gasthof Zur Stadt Paris in der Brüderstraße 39 wohnt er. Seine Bleibe ist wenige Gehminuten von der Prachtstraße Unter den Linden entfernt. An zwei Dienstagabenden, am 21. und am 28. Juni, spielt er Klavier vor der Sing-Akademie, einer gemischten Chorvereinigung, in der „Königlichen Akademie der bildenden Künste und mechanischen Wissenschaften zu Berlin“, heute Standort der Staatsbibliothek.

Meine Ohren, die sausen und brausen Tag und Nacht fort.

Ludwig van Beethoven

Es steht nicht gut um Beethovens Gesundheit. Ab 1801 fürchtet er, taub zu werden. „Meine Ohren, die sausen und brausen Tag und Nacht fort“, klagt er. Vermutlich leidet er an Verknöcherungen im Innen- und Mittelohr. Die Beschwerden schlagen ihm aufs Gemüt, doch er gibt sich kämpferisch: „Ich will dem Schicksal in den Rachen greifen.“

Im Sommer 1817 erreicht Beethoven eine Einladung der Londoner Philharmonic Society, verbunden mit der Bitte, er möge zwei neue Sinfonien mitbringen. Er reist nicht nach England, doch er entschließt sich, zwei neue Werke zu komponieren. Es wird bei einem bleiben, der 9. Sinfonie.

Es dauert ein paar Jahre, bis Beethoven beginnt, an seinem neuen Opus konzentriert zu arbeiten. Dabei greift er einen Gedanken auf, der ihn beschäftigt, seit er als junger Mann in seinem Geburtsort Bonn mit den Idealen der Aufklärung und der Französischen Revolution sympathisierte: das Gedicht „An die Freude“ zu vertonen, das Friedrich Schiller 1785 verfasste, damals 25 Jahre jung, von einer besseren Welt träumend.

Im November 1822 macht Beethoven sich ans Werk. Er steht in seinem 52. Lebensjahr, ein Eigenbrötler, der auf der Straße mit sich selbst spricht, obwohl er so gut wie taub ist, was ihn auch nicht hindert zu komponieren – er hört mit seinem Herzen.

Die kolorierte Lithografie zeigt das Klavier- und Schlafzimmer Beethovens in der Schwarzspanierstraße 15 in Wien, wo er ab Oktober 1825 wohnte. Die 9. Sinfonie vollendete er Anfang 1824 in der Ungargasse 5.
Die kolorierte Lithografie zeigt das Klavier- und Schlafzimmer Beethovens in der Schwarzspanierstraße 15 in Wien, wo er ab Oktober 1825 wohnte. Die 9. Sinfonie vollendete er Anfang 1824 in der Ungargasse 5.Staatsbibliothek zu Berlin

Seit dem Wiener Kongress 1814/15, der nach der endgültigen Niederlage von Napoleon tagte, herrscht in Europa die Restauration. Die alten Fürsten sind wieder an der Macht. Da bilden Beethovens Musik und Schillers Gedicht einen Bund, der den Glauben an eine neue Weltordnung lebendig hält, eine freie, gleiche und brüderliche Welt, in der die Vernunft der Maßstab des Handelns ist.

Die Partitur der 9. Sinfonie liegt in den ersten Monaten des Jahres 1824 vor, ein Stapel von etwas mehr als 200 unbeschnittenen, zu Bündeln zusammengehefteten Notenblättern.

Diese Notenblätter und mit ihnen der größte Teil dessen, was er an Musik zu Papier brachte, befanden sich bei Beethovens Ableben (Leberzirrhose) im März 1827 in Wien in seinem Besitz. Einen Teil davon, darunter 142 Seiten des Autografs der 9. Sinfonie, nahm Anton Schindler an sich, der nicht nur Sekretär, sondern auch Biograf Beethovens war, außerdem Musiker und Musikschriftsteller. Schindler versicherte, Beethoven habe ihm die Niederschriften geschenkt.

Ein anderer Teil verschwand, als der Leichnam aufgebahrt war. Was übrig blieb, versteigerten die Verleger Domenico Artaria und Ignaz Sauer. Auch Artaria erwarb Teile aus dem Nachlass, unter anderem die restlichen 67 Seiten des Autografs der 9. Sinfonie.

Aus Geldnot sah sich Anton Schindler gezwungen, seine Beethoven-Sammlung zu verkaufen, darunter 137 Seiten des Autografs der 9. Sinfonie. Er bot sie der Königlichen Bibliothek zu Berlin an, vielleicht auch, weil Beethoven seine Neunte dem preußischen König Friedrich Wilhelm III. gewidmet hatte. Im Jahr 1846 wurde man sich handelseinig.

Die Staatsbibliothek zu Berlin verwahrt fast alle Originalnotenblätter von Beethovens 9. Sinfonie, sie sind in rote Halblederbände gefasst. Zwei Blätter befinden sich im Beethoven-Haus in Bonn, weitere drei in der Bibliothèque Nationale de France in Paris.
Die Staatsbibliothek zu Berlin verwahrt fast alle Originalnotenblätter von Beethovens 9. Sinfonie, sie sind in rote Halblederbände gefasst. Zwei Blätter befinden sich im Beethoven-Haus in Bonn, weitere drei in der Bibliothèque Nationale de France in Paris.Staatsbibliothek zu Berlin

„Berlin zog zwei Möglichkeiten in Betracht: Schindler 2000 Taler und eine jährliche Leibrente von 400 Talern zu zahlen oder eine viel höhere Einmalzahlung auszuhändigen“, erzählt Martina Rebmann. „Weil es um die Gesundheit Schindlers nicht zum Besten stand, entschied man sich für die erste. Er lebte dann aber noch fast zwanzig Jahre.“

Schon 1827 hatte Schindler zwei Seiten aus dem zweiten Satz der 9. Sinfonie an einen Bewunderer und Freund Beethovens nach London geschickt. Sie gelangten 1956 an das Beethoven-Haus in Bonn. Aus dem Schindler’schen Bestand stammen auch die drei Seiten aus dem Schlusssatz, die sich heute in der Bibliothèque Nationale de France in Paris befinden.

Die von der Familie des Verlegers Domenico Artaria verwahrten Teile des Finalsatzes – fünf Bündel zu 67 Seiten – kamen 1901 nach Berlin. Alle Notenblätter der Sinfonie wurden in rote Halblederbände gefasst.

Der Zweite Weltkrieg zwang Berlin, das Autograf der 9. Sinfonie ab 1941 zu trennen und auszulagern. Damit sollte es der Zerstörung entgehen. Ein Teil befand sich nach dem Krieg in Polen, von wo er 1977 nach Ost-Berlin kam. Schon 1946 war ein anderer Teil in den Osten der Stadt gelangt. Der dritte und letzte kehrte 1967 zurück, nach West-Berlin. Im Jahr 1997 fanden alle Teile in der Staatsbibliothek Unter den Linden zusammen.

Der Prozess des Komponierens ist dem Autograf von Beethovens 9. Sinfonie anzusehen. Auf vielen Seiten stehen Korrekturen, Ergänzungen oder Anweisungen.
Der Prozess des Komponierens ist dem Autograf von Beethovens 9. Sinfonie anzusehen. Auf vielen Seiten stehen Korrekturen, Ergänzungen oder Anweisungen.Maurizio Gambarini/Imago

Behutsam blättert Martina Rebmann in dem Faksimile. Der Prozess des Komponierens ist den Seiten anzusehen, es ist eine Arbeitspartitur, zum Zwecke einer Aufführung eher ungeeignet. Auf manchen Seiten finden sich dunkle Flecke, auf vielen anderen korrigierte Stellen, herausgekratzte oder durchgestrichene und überschriebene Noten, auch überklebte Passagen mit neuen Noten, dazu, in rotbraunem Farbton, dirigierende Anweisungen.

„Beethoven hat für seine 9. Sinfonie alle Register gezogen“, sagt Martina Rebmann. Und mit der „Ode an die Freude“ ein ganz neues. Das Stück sei schwer zu singen, spanne es doch den Bogen vom tiefsten Bass zum höchsten Sopran. Für die Solistinnen, die bei der Uraufführung sangen, beide um die 18 Jahre jung, sei es so mühsam gewesen, dass sie ihn baten, die Noten zu ändern – vergeblich.

Enthusiastisch war die Reaktion des Publikums bei der Uraufführung, zwiegespalten die der Kritiker. „Die Symphonie darf sich furchtlos mit ihren acht Geschwistern messen, verdunkelt wird sie bestimmt von keiner, nur die Originalität zeugt für den Vater, sonst ist alles neu und nie dagewesen“, schrieb die Allgemeine musikalische Zeitung. Dagegen meinte ein Rezensent zur Frankfurter Aufführung 1825: „Uns scheint – so viel uns nach einmaligem Anhören dieser Composition zu urtheilen geziemt – bey ihrer Empfängnis der Genius des großen Meisters nicht zugegen gewesen zu seyn.“

Beethovens Musik bewegt die Hebel des Schauers, der Furcht, des Entsetzens, des Schmerzes und erweckt jene unendliche Sehnsucht, die das Wesen der Romantik ist.

E.T.A. Hoffmann, Schriftsteller

Giuseppe Verdi befand, das Finale der 9. Sinfonie sei „schlecht gesetzt“. Für Richard Wagner war sie „das menschliche Evangelium der Kunst der Zukunft“.

Konservative Zeitgenossen störten sich an Beethovens Hang zu Länge, seiner Missachtung von Regeln. In den Ohren junger Komponisten und Dichter war er ein Genie. E.T.A. Hoffmann schrieb 1810: „Beethovens Musik bewegt die Hebel des Schauers, der Furcht, des Entsetzens, des Schmerzes und erweckt jene unendliche Sehnsucht, die das Wesen der Romantik ist.“

Noch immer weckt diese Musik Sehnsüchte. „Beethoven hatte eine Mission, er wollte durch seine Musik die Menschen erheben“, sagt Martina Rebmann. Mit seiner 9. Sinfonie und ihrer „Ode an die Freude“ hat er sie mehr als erfüllt. „Diese Botschaft – der Ruf nach einer neuen, humanistischen Weltordnung – war damals wichtig und ist es heute genauso.“