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1 Einleitung

Als „Papst der historischen Schule“ wird der Nationalökonom Gustav Schmoller (1838–1917) in Thomas Nipperdeys Deutscher Geschichte 1866–1918 bezeichnet (1990, S. 370). Das Bild markiert den Status und den Einflussbereich des Berliner Ordinarius und Vorsitzenden des „Vereins für Sozialpolitik“, der, obgleich Ökonom, auch in der Historiografie und der Soziologiegeschichte kein Unbekannter ist. In der Forschung besteht gemeinhin Konsens darüber, dass die „historische“ Nationalökonomie Schmollers und vieler Kollegen nicht einfach als eine veraltete Variante von Wirtschaftswissenschaft behandelt werden kann, sondern sozialwissenschaftlich beziehungsweise interdisziplinär dimensioniert war (Schefold 1989). Nicht selten findet man ihn als beliebten Kontrahenten (oder Strohpuppe) in Kontroversen, am bekanntesten sind die mit Carl Menger und Max Weber. – Doch fühlte Gustav Schmoller sich berufen, einheitliche und unumstößliche Wahrheiten zu verkünden, wie die Metapher des „Papstes“ es suggeriert? Verstand sich die historische Nationalökonomie als eine homogene – nicht Glaubens- sondern – Wissens-Gemeinschaft, die sich vor Heterodoxien bewusst abschirmte? Oder trägt man Idealvorstellungen von Konsistenz und Einheitlichkeit erst nachträglich an die Nationalökonomie des wilhelminischen Kaiserreichs heran? – Zwar fiel es Schmoller als Wissenschaftsorganisator leicht, spezifische historische Erkenntnisinteressen und standardisierte Methoden als Alltagspraxis in seinem akademischen Umfeld zu implementieren. Aber der selbsterklärte „Kompromißmensch“ (Schmoller 1920 [1911], S. 91) ist zumindest rhetorisch häufig offen und vermittelnd aufgetreten, und wurde so auch von vielen Zeitgenossen wahrgenommen.

Hier kann es nicht nur darum gehen, einer Person oder Forschungsrichtung gerecht zu werden, sondern die Fragestellung lässt sich konzeptioneller ansetzen. Das Bild des Papstes, klar, Nipperdey hat es eher lapidar hingeworfen, funktioniert eigentlich nur vor dem Hintergrund einer als homogen angenommenen Schule oder Fachlandschaft. Auf der gleichen Basis einheitlich gedachter Normalwissenschaft funktionieren auch intensiver reflektierte Konzepte wie „Paradigma“, „Paradigmenwechsel“, „Inkommensurabilität“ oder „wissenschaftliche Revolution“ sehr gut, die seit Thomas Kuhn zum Repertoire der Wissenschaftsgeschichte gehören (allg. dazu Hoyningen-Huene 2005, 2011). Das begriffliche Framework „Disparität“ und „Episodizitität“ lädt indessen in konstruktiver Kritik an Kuhn dazu ein, das Vokabular zu verändern, ohne die konzeptionelle Stoßrichtung aufzugeben. Es wird weiterhin nach Diskontinuitäten in der Wissenschaftsgeschichte gefragt, aber das Fragmentarische und unter Umständen beiläufig-episodische von Wandlungsprozessen betont. Die wissenssoziologische Dimension bleibt, aber es geht möglichst erkenntnisoffen um Formen der Ungleichheit und Widersprüchlichkeit wissenschaftlicher Erkenntnis. Man mag das als einen Versuch der multiplen Moderne des 21. Jahrhunderts auffassen, eine Wissenschaftstheorie des mittleren 20. Jahrhunderts zu aktualisieren, oder auch als Anschlussversuch der paradigmatisch heterogenen Kultur- und Sozialwissenschaften an die Narrative einer einheitlichen „History of Science“. In beiden Fällen entsteht ein Spannungsverhältnis zwischen einem pluralistischen und einem eher monistischen Grundverständnis von Wissenschaft. Dort im Ideal der Ruhepol einer homogenen, systematisch geordneten Normalwissenschaft – überspitzt formuliert eines „exact truth business“ (Teller 2008, S. 253, ähnl. S. 247) –, deren Konsens durch Phasen außerordentlicher Wissenschaft und Konflikte höchstens zeitweise unterbrochen und neu eingerastert wird. Hier die größere Akzeptanz einer normalen Pluralität und Heterogenität der Forschungslandschaft, die freilich auf spezifische Schwierigkeiten zum Beispiel hinsichtlich der Systematizität wissenschaftlichen Wissens stößt (vgl. allg. Kellert et al. 2006, S. X f. u. XIII f.). Disparität ist in pluralistischer Sicht anders verteilt, die Genese und das Nebeneinander unterschiedlicher wissenschaftlicher Richtungen und ihrer gegenseitigen Grenzziehungen muss anders erklärt werden.

Die Differenz zwischen pluralistischer oder monistischer Auffassung von Wissenschaft kann aber nicht nur wissenschaftshistorische Begriffe neu nuancieren, sondern zugleich – das ist die Ausgangsüberlegung der folgenden Untersuchung – auf der Gegenstandsebene, im Herangehen der beobachteten Wissenschaftler an ihre Wissenschaft und ihrem Umgang mit anderen Wissenschaftlern identifiziert werden.Footnote 1 Insofern sind es zwei verschiedene Modi der Handhabung wissenschaftlicher Arbeitspraxis. Die Sprache und das Handeln der Beteiligten können je nach Arbeitsmodus verschieden sein. Es ist offensichtlich etwas anderes, ob die Zeitgenossen in Form von heftigen Debatten mit kodifizierenden Lehr- und Handbüchern und differierenden Terminologien um die wahre Erkenntnis, die richtige Methodologie und das scheinbar alternativlose System des Wissens konkurrieren, oder ob sie divergierende Forschungsansätze gewissermaßen in Kompendien der Beliebigkeit nebeneinander stehen lassen. Wo die einen ihr Gegenüber „ersetzen“ müssen, genügt es den anderen, zu „ergänzen“. Die wissenschaftliche Rezeption von Autoren untereinander oder sogar die Entwicklung konkurrierender Disziplinen kann denkbar unterschiedlich ausfallen, je nachdem ob Forscher sich als Päpste und Diener eines Paradigmas gerieren oder eben nicht. Pluralismus und Monismus als Arbeitsmodi bilden im Folgenden also einerseits den Untersuchungsgegenstand, auch wenn andererseits nicht ausgeblendet werden soll, dass die wissenschaftshistorische Perspektive, die den oben skizzierten konstruktiv-kritischen Anschluss an Kuhn sucht, sich selbst ebenfalls zwischen beiden Wissenschaftsverständnissen verorten muss.

Im nächsten Abschnitt soll anhand des bekannten Streits zwischen „Kathedersozialisten“ und „Manchesterleuten“ in den Jahren 1870–1872, der auf den ersten Blick einer wissenschaftlichen Revolution beziehungsweise einem Paradigmenwechsel im Sinne Kuhns recht nahe kommt, aufgezeigt werden, in welchem Maß eine strategische Bündelung und Inszenierung von Disparität durch die Beteiligten die Kluft zwischen dichotomischen Paradigmen erst konsolidierte. Später, außerhalb des Konfliktmodus, lässt sich bei Schmoller hingegen ein Impuls zum Methodenpluralismus konstatieren, der die ehedem kontinuierlich betonten Differenzen wieder relativiert. Dieser Impuls bleibt implizit, aber wird ex negativo in Schmollers Skepsis – zwar nicht gegenüber Theorie an sich, aber – gegenüber der Einseitigkeit einzelner Theorieansätze erkennbar.

Die Frage, was sich im pluralistischen Arbeitsmodus am Umgang mit Disparität ändert, beziehungsweise wie Wissenschaftler aufeinander reagieren, wenn sie keinen paradigmatischen Exklusivitätsansprüchen anhängen, wird im dritten Abschnitt am Beispiel von Schmollers Reaktion auf Albert Schäffles Bau und Leben des socialen Körpers (18751878) nachverfolgt. Die Episode gehört zur Geschichte der Soziologie in Deutschland, hat aber bisher keine besondere Aufmerksamkeit erhalten (im Gegensatz zur fast zeitgleichen Kontroverse zwischen Schmoller und Menger). Vielleicht gerade deshalb, weil die Beteiligten ambivalent mit methodologischer Disparität umgingen. Ein aussagekräftiger Konflikt zwischen früher Soziologie und historischer Nationalökonomie, den man angesichts vielfach überschneidender Erkenntnisinteressen bei zugleich teilweise kontradiktorischen Begriffsangeboten hätte erwarten können, blieb aus.

Der vierte Abschnitt schließlich problematisiert die Position des Wissenschaftlers im Spannungsfeld zwischen pluralistischem Impuls und systematischem Anspruch. Viel mehr als einige Andeutungen können nicht gemacht werden, aber die These ist, dass Schmollers ganze Rhetorik, Textgestaltung, Diskussions- und Handlungsweisen im Normalfall darauf angelegt waren, Disparität und Widersprüche zuzulassen.Footnote 2

2 Zwischen wissenschaftlicher Revolution und wissenschaftlichem Pluralismus

Die Genese eines Paradigmas, eines einheitlichen, universellen und zugleich exklusiven Musters, dem zunächst eine Gruppe und dann eine breite Forschergemeinschaft zu folgen bereit ist, ist kein selbstverständliches, sondern ein bemerkenswertes, erklärungsbedürftiges Phänomen. Wenn man modellhaft davon ausgeht, dass methodische Disparität eher zufällig und graduell verteilt ist, dann muss sie im Prozess der Etablierung eines Paradigmas im Innenbereich ausgeräumt und an bestimmten Bruchzonen zusammengeschoben werden, die sich nun als die konzeptionellen Außengrenzen einer jeweiligen Schule oder Disziplin konsolidieren. Es soll zwar nicht behauptet werden, dass Grenzziehungen zwischen Paradigmen von den Akteuren epistemologisch beliebig aus dem Nichts geschaffen werden. Aber Schmoller zum Beispiel unternahm als Wissenschaftler nur in bestimmten Arbeitsphasen Anstrengungen, in diesen Bruchzonen Divergenz zu problematisieren, in anderen nicht.

Gut zeigen lässt sich das am Konflikt um „abstrakte Theorie“. Dieser Disput entflammte in den Jahren von 1870 bis 1873 zwischen zwei – teils wissenschaftlichen, teils parteipolitischen – Netzwerken, den sozialreformerischen „Kathedersozialisten“, zu denen Schmoller gehörte, und den wirtschaftsliberalen „Manchesterleuten“ (Hentschel 1975). Zu der Kontroverse wäre viel mehr zu sagen, als an dieser Stelle möglich ist; insbesondere kann der politische Faktor, die sozialpolitische Erhitzung der Gründerjahre hier nicht behandelt werden, obwohl diese Dimension damals im Vordergrund stand (Grimmer-Solem 2003, S. 173–177; Lindenfeld 1997, S. 217–223). Akademische Kritik an der „abstrakten Theorie“ war schon Jahrzehnte früher geäußert worden, aber gebündelt mit dem politischen Vorwurf des sozialökonomischen „Laissez Faire“ erhöhte sich nun die Taktzahl der Angriffe. Zur Debatte stand eine ganze Reihe von polarisierenden Dichotomien. Gustav Schmoller zählte 1873 neben „abstrakt“ vs. „realistisch“ auf: Individuum vs. Staat und Gesellschaft; französisch-englische Anschauungen vs. deutsche Wissenschaft (d. h. Nationalökonomie); Deduktion vs. Induktion; mathematischer Verstand vs. empirische (historische, statistische und psychologische) Studien; Optimismus vs. Pessimismus; Erfahrungsbasis in der aktuellen Alltagspraxis vs. geschichtliche Beobachtungen; demgemäß das handlungstheoretische Modell eines „sich gleich bleibenden menschlichen Triebe(s)“, d. h. des Homo Oeconomicus vs. einem umfassenden, historische Wandelbarkeit einbeziehenden Menschenbild (Schmoller 1873a, S. 425 f.).

Schmoller merkte zwar richtigerweise an, dass „mannigfache Abstufungen“ möglich seien, aber faktisch blieb es bei kompromissloser Polarisierung. Die systematische Katalogisierung der „Prinzipienunterschiede“, wie Schmoller sie nannte, grenzt den Wirtschaftsliberalismus durchaus überzeugend als Paradigma ab. Derartige axiomatische Bündelungen finden sich ja nicht nur im 19. Jahrhundert, sondern in verschiedenen Varianten bis heute. Die wissenschaftslogische Nähe einiger Axiome, wie beispielsweise Mathematisierung, Deduktion, Homo Oeconomicus und Abstraktheit lässt sich zwanglos begründen. Trotzdem ist nicht leicht zu entscheiden, was an dieser Polarisierung inhaltlich naheliegend und was eher strategisch erkämpft war.

Das Gefühl von Homogenität im eigenen Lager stärkte Schmoller ab 1869 mit einer Reihe von Rezensionen vorwiegend im „Literarischen Centralblatt“, um den fachkundigen Leuten und der breiteren akademischen Öffentlichkeit die Arbeiten der befreundeten Professoren, Habilitanden und Doktoren als einheitliche Strömung vorzustellen. Stets wurden die methodischen (und politischen) Gemeinsamkeiten der „neuen“ Richtung herausgestellt. Beispielsweise Lujo Brentanos erste größere Untersuchung, seine in England gemachten Studien über Arbeitergilden, feierte Schmoller als mustergültige Monographie (Schmoller 1871, Sp. 637). In der Rezension des Bonner Mitstreiters Adolf Held verschwieg er sogar Einwände, die er privat in Briefen durchaus äußerte. Das Vorgehen in den staats- und wirtschaftswissenschaftlichen Spalten war so offensichtlich strategisch, dass kritische Zeitgenossen begannen, das „Literarische Centralblatt“ als „Unsterblichkeitsversicherungsanstalt“ zu verspotten (Herold 2019, S. 135–137).

In den Jahren nach dem Konflikt (spätestens nach dem Streit mit dem Historiker Heinrich von Treitschke 1875/1876) begann Gustav Schmoller aber, die bis dahin für seine wissenschaftliche Arbeit so ausschlaggebende Kluft wieder zu nivellieren. Das lässt sich ausgerechnet im Umgang Schmollers mit Carl Menger (1840–1921) beobachten. Diese Behauptung kann irritieren, weil die beiden in der Literatur als klassische Kontrahenten gelten (vgl. aktuell Loužek 2011; differenziert Hansen 1968). Aber Menger hatte in seinem Erstlingswerk Grundsätze der Volkswirtschaftslehre von 1871 noch keinen Widerspruch zur deutschen („historischen“) Nationalökonomie erwähnt, sondern suchte Anschluss namentlich an deren älteren Hauptvertreter Wilhelm Roscher. Auch Schmoller übersandte er sein Buch mit einem anerkennenden Begleitschreiben. Ihre Differenzen deckte erst Schmoller in einer knappen Abkanzlung auf, die zur beschriebenen strategischen Rezensionsflut zu rechnen ist, die er im Konfliktmodus zwischen 1869 und 1873 produzierte. Menger sei Vertreter des „abstracten, eingehenden Überdenkens einfacher Vorgänge“, seine Stärke liege in mathematischen Formeln. Das ähnele dem Ansatz David Ricardos, nicht der „heute in der deutschen Wissenschaft herrschenden Richtung“ (Schmoller 1873b, Sp. 143). – Einige Jahre später hatten beide die Seiten getauscht. Menger, merklich verbittert, aber zugleich wissenschaftstheoretisch sensibilisiert, arbeitete sich in seinen Untersuchungen über die Methode der Socialwissenschaften (1883) an der Abgrenzung zwischen „realistischer“ (historischer) und „exakter“ (isolierend-deduktiver) Ökonomie und zahlreichen wissenschaftslogischen Grundproblemen ab. Schmoller hingegen gab sich in seiner neuerlichen, ausführlichen Rezension trotz eines teilweise scharfen polemischen Grundtons prinzipiell versöhnlich. Seit kurzem Professor an der Berliner Universität, konnte er von einer wissenschaftspolitisch starken Position aus ohnehin großzügig und integrativ auftreten. Er sah trotz aller zugegebenen Unterschiede „keine unüberbrückbare Kluft“ mehr zwischen Empirie und abstrakter Theorie, betonte ihre Komplementarität und gab „nur graduelle, keine fundamentalen“ Differenzen zu. Die Bruchzone wurde (wieder) nivelliert. Seine eindeutig distanzierte Bewertung theoretischer Deduktion aus der früheren Rezension nahm Schmoller zurück. Er beklagte immer noch das Produzieren von „abstrakten Schemen“ seitens des älteren Wirtschaftsliberalismus und bewertete den Empirismus der historischen Schule als heilsame Reaktion, begrüßte aber mit Menger „gesunde Ansätze zu neuen theoretischen Gestaltungen“, denen er durchaus wissenschaftliche Zukunftsfähigkeit bescheinigte. Dass durch die Konzentration der Akademiker auf empirische (historisch-statistische) Forschung „zeitweise ein Theil der Kräfte abgehalten wird an der Theorie fortzuarbeiten“, liege „im Wesen wissenschaftlicher Arbeitstheilung“ (Schmoller 1883, Zitate S. 977 f., S. 982; vgl. auch Lavranu 2007, bes. S. 183). Insofern ging es ihm nicht um konkurrierende Prinzipien, sondern nur um Gewichtungen, die je nach Kontext neu austariert werden mussten. Die entdifferenzierende Argumentation Schmollers sicherte die eigene Position, entzog aber zugleich einer Fortführung des Paradigmenstreits die Grundlage.

Die gegenüber Menger zur Schau gestellte locker-joviale Herangehensweise an methodologische Problemstellungen verdankte sich gewiss nicht Interesselosigkeit, im Gegenteil. Schmoller, der sich bereits in jungen Jahren intensiv mit John Stuart Mill und Lorenz (von) Stein auseinandergesetzt hatte, wandte sich genau in der Zeit um 1880 dem Plan zu, die Grundlage seiner sozialwissenschaftlichen Nationalökonomie systematisch auszubreiten. Ein Grund für Schmollers pragmatische Konzilianz ist nach vorliegender These vielmehr das sukzessive Einrastern eines pluralistischen Wissenschaftsmodus in der „nachrevolutionären“ – und insofern also normalwissenschaftlichen – Arbeitsphase der historischen Nationalökonomie. Im Methoden-„Streit“ beklagte Schmoller ganz unabhängig von Fragen der Richtigkeit und Unrichtigkeit der einzelnen Positionen, dass Carl Menger nur „ein Eckchen des großen Gebäudes unserer Wissenschaft“ besetze. „Nicht daß sein Eckchen kein Recht habe, behaupten wir, sondern nur daß man von hier aus das Ganze nicht genügend übersehe.“ (Schmoller 1883, S. 987) Diese Äußerung wirkt auf den ersten Blick wie eine beiläufige Spitze. Aber man stößt in Gustav Schmollers Rezension von 1883 und anderen Texten auffallend häufig und in unterschiedlichen Kontexten auf eine Aversion gegen das „Eine“, das dem Ganzen nicht gerecht wird. Im Folgenden soll die Vermutung, in dieser Haltung – unter anderem – auf einen pluralistischen Impuls zu stoßen, in drei Zusammenhängen erhärtet werden: erstens Multikausalität, zweitens Methodenpluralismus und drittens methodologische Perspektivität.

  1. 1.

    Schon in Notizen aus den frühen 1860er Jahren – also noch vor der ersten Professur – sind Überlegungen zu finden, mit denen Schmoller sich in der Mitte zwischen der Theorieskepsis älterer historistischer Vertreter der Nationalökonomie und einem positivistischen Gesetzes-Determinismus zu positionieren versuchte. Theorie sei nicht an sich mangelhaft, sondern nur dann, „wenn sie die verwickelten Erscheinungen des Lebens auf ein Gesetz zurückführen will; während dieselben das Produkt verschiedener stets in einander wirkender Gesetze sind, die freil[ich] alle wieder ihren höhern Mittelpunkt haben müssen“ (zit. in Herold 2019, S. 41). In seinen jungen Jahren scheint Schmoller, hauptsächlich in Anschluss an Lorenz (von) Stein, kurzzeitig tatsächlich ein Interesse daran entwickelt zu haben, auf einer höheren Abstraktionsebene solche zentralen Gesetze oder Ordnungsprinzipien aufzufinden. Aber generell findet sich in seinem Werk kaum ein – eigentlich kein – ernsthafter Versuch, über Konzepte mittlerer Reichweite hinaus zu einer hoch aggregierten begrifflichen Synthese durchzustoßen. Stattdessen festigte sich eine charakteristische ambivalente Position, die später noch genauer zu besprechen ist. Festzuhalten bleibt ein Sinn für Multikausalität (näher dazu Nau 1998, S. 32 f.), der von Schmoller auch Menger gegenüber nachdrücklich verteidigt wurde (Schmoller 1883, S. 979–981 u. ö.). Diese Verteidigung der Vielfalt konnte an John Stuart Mills Wissenschaftslogik der „Moral Science“ geschult werden, musste als Qualitätsmaßstab für fachwissenschaftliche Theoriebildung aber eher abschreckend wirken. Die aus der Priorisierung eines multikausalen Verstehens resultierende Verständnislosigkeit gegenüber notwendiger theoretischer Komplexitätsreduktion bot zwar Kritikern wie eben Carl Menger mit seinem Gegenvorschlag einer „isolierenden“ Methode eine Angriffsfläche, aber Schmoller lieferte zugleich ein Argument, dass prinzipiell auch heute als soziologische Grundsatzkritik des methodologischen Individualismus (Lehner 2011, S. 45 f.) und im Plädoyer für einen Theorienpluralismus gebraucht wird (Brühl 2017, S. 4).

  2. 2.

    Eine Konsequenz, die Schmoller aus der multikausalen Vielschichtigkeit zog, bestand in der Ausweitung der Nationalökonomie in das „große Gebäude“ einer Wissenschaft vom Menschen, die eben nicht einen, sondern möglichst viele Faktoren in die Analyse sozialer Phänomene einbeziehen sollte (Harnisch 1994, S. 562). Gerade weil sich Schmoller im Gegensatz zu Menger nicht für eine möglichst präzise zugeschnittene Disziplin, sondern für ein relativ grenzenloses sozialwissenschaftliches Forschungsfeld verantwortlich fühlte, konnte sich bei ihm ein Verständnis für das Fragmentierte und Heterogene wissenschaftlicher Forschung festigen. „Die Schwierigkeit uns[erer] Wissensch[aft] liegt darin, daß sie so weit ausgreifend ist, so verschiedene Gebiete berührt, daß sich keine einheitlich geschlossene Methode in ihr entwickeln kann, rsp. für die einzelnen Zweige noch nicht entwickelt hat“, schrieb er 1873 an Lujo Brentano (Goetz 19381941, 29, S. 155). Methodischer Pluralismus war zwar keine zwangsläufige Konsequenz, die man aus der Pluralität eines weiten Zuständigkeitsbereichs ziehen musste, lag für Schmoller jedoch näher als das „Singularisierungsunternehmen“ (Marquardt 1981, S. 110) eines sozialphilosophischen Großentwurfs.

  3. 3.

    Ein solches „Phantom einer Universaltheorie der sozialen Erscheinungen“ (Carl Menger, zit. in Schmoller 1883, S. 981) musste ohnehin auf Vorbehalte stoßen, weil Schmoller stets die ideologische Perspektivität der Theoriebildung im Auge behielt. In einer Hallenser Vorlesung über Politik – der Lehrauftrag Politik gehörte damals zur Staatswissenschaft und fiel somit häufig in die Zuständigkeit der Nationalökonomen – kritisierte er an den „sog[enannten] Staatstheorien“, dass „irgend1 großer bedeutender allg[emeiner] Gedanke vorangestellt u[nd] daraus alles übrige deducirt wird“. Alle diese Konzeptionen seien „Produkt 1 Parthei, 1 Zustands, 1 Revolution“ (zit. in Herold 2019, S. 227). Das machte diese Theorien für ihn nicht nutzlos, sondern vielleicht gerade in der Disparität ihres Nebeneinanders wertvoll. Schmoller nahm die Vorlesung über politische Theorien nicht ohne Grund über viele Jahre in sein Standardrepertoire auf. „Wir sterbliche Menschen können nur durch Einseitigkeit etwas leisten“, hatte er Carl Menger gegenüber geäußert, um mit diesem Eingeständnis die notwendige Komplementarität empirischer und theoretischer Forschungsansätze zu unterstreichen (Schmoller 1883, S. 978). Aber für die historische Relativität und gesellschaftliche Bedingtheit der Ideen von Wissenschaftlern besaß der politisch engagierte und kritische Historist höchste Sensibilität. Wird das theorienpluralistische Eingeständnis einer grundsätzlich perspektivischen Sicht mit dem Eingeständnis der Komplexität sozialer Realität in Verbindung gebracht, bildet das wiederum ein starkes Argument des Methodenpluralismus (Brühl 2017, S. 4 f.).

In allen drei angesprochenen Varianten steht hinter der vordergründigen Theorieskepsis nicht einfach eine pauschale Ablehnung von Theorie. Dem alten Vorwurf einer naiven Theorieferne Schmollers hat die Forschung nachdrücklich und oft genug widersprochen (z. B. Kaufhold 1988, S. 237–240; Priddat 1995, S. 18; Goldschmidt 2008, S. 294 f.), obwohl ein ausgeprägter empiristischer und historistischer Einschlag natürlich unbestreitbar ist. Die hier vorgebrachte These hebt dagegen bei ihm den Impuls hervor, die Einschränkungen einseitiger Ansätze durch ein pluralistisches Grundverständnis von Wissenschaft zu überwinden. Dieses blieb zwar eher implizit, wurde nicht ausdrücklich diskutiert oder gar programmatisch gefordert, aber besaß das Potential, in Schmollers Umfeld um 1880 eine andere akademische Stimmung zu schaffen, als in den Konfliktjahren von 1870. Die zuvor wirksam inszenierte und für die Beteiligten handlungsleitende Vorstellung zweier in sich homogener Parteien, die an einer klaren Front aufeinander treffen, wurde revidiert. Disparität und Differenzen zwischen Forschungsansätzen wurden auch außerhalb des Konfliktmodus nicht ignoriert, aber sollten nicht gebündelt und als „unüberbrückbare Kluft“ präsentiert werden. Von anderen Wissenschaftlern betriebene Versuche, neue paradigmatische Fronten zu errichten, fanden wenig Resonanz. Man konnte solche Vorstöße in der neu geschaffenen Arbeitsatmosphäre leicht ins Leere laufen lassen. Dieser Modus trägt zum eigenartigen Schillern der „historischen Nationalökonomie“ bei, die einerseits als einheitliche Forschungsrichtung angesprochen wird, andererseits jedoch viele Forschungsansätze tolerieren und integrieren konnte, die nicht leicht auf einen gemeinsamen (aussagekräftigen) Nenner zu bringen sind.

3 Frühe Soziologie und Nationalökonomie: Soziale Differenzierung als Schnittstelle

Wenn man dem im vorigen Abschnitt verdichteten Eindruck pluralistischer Offenheit mancher tonangebender Nationalökonomen beistimmt, wirft das ein anderes Licht auf die Geschichte der Soziologie im 19. Jahrhundert? Der historische Status der Soziologie als – ex post – Protodisziplin ist in der Zeit vor 1890 schwierig zu bestimmen. Aufgrund der fehlenden Institutionalisierung des Fachs an den Universitäten und Akademien machen die Entwürfe bekannter Soziologen wie Auguste Comte, Herbert Spencer und im deutschsprachigen Bereich unter anderem Albert Schäffle, Ludwig Gumplowicz und Paul von Lilienfeld rezeptionsgeschichtlich auf den ersten Blick einen episodischen Eindruck, jedenfalls in Deutschland (vgl. differenzierter Acham 2020). Die Soziologie konsolidierte keine kontinuierliche Forschungstradition, sondern schien eher von sporadischen Einzelimpulsen unbestimmter intellektueller Wirkung zu selektiven Neuaneignungen zu stolpern. Speziell im wilhelminischen Kaiserreich wird eine Ursache dafür in der Besetzung des sozialwissenschaftlichen Raumes durch die historische Nationalökonomie zu finden sein, die durch ihren staatswissenschaftlichen Lehrauftrag an den Universitäten zusätzliches Gewicht erhielt (Sala 2017, S. 575 f.). Methodologisch gesehen erscheinen historische Nationalökonomie und frühe Soziologie vor 1890 als zwei grundsätzlich verschiedene Paradigmen, die um einen gemeinsamen Gegenstandsbereich konkurrierten. Das eine Fach war historistisch-empirisch, das andere positivistisch-theoretisch aufgestellt. Ersteres war einem ökonomischen Bezugsrahmen verpflichtet, letzteres hantierte mit naturwissenschaftlichen, in der zweiten Jahrhunderthälfte überwiegend biologischen und physiologischen Begriffen. Die Frage ist, wie die Zeitgenossen die Unterschiede zwischen Nationalökonomie und Soziologie wahrnahmen und im Einzelnen mit ihnen umgingen. Gustav Schmoller setzte sich Ende der 1870er Jahre eingehend mit dem soziologischen Hauptwerk Albert Schäffles (1831–1903) auseinander, dem mehrbändigen Bau und Leben des socialen Körpers (18751878).

Albert Schäffles zeigte in seiner soziologischen Werkphase auffallende Gemeinsamkeiten mit Herbert Spencer: Beide Verfasser schrieben als anerkannte, aber freie Schriftsteller außerhalb des Universitätsbetriebs an ihren monumentalen Werken, ihre Bemühungen erfolgten in etwa zeitgleich in den 1870er Jahren – wobei Spencer mit seinem fachlich weiter ausgreifenden System schon früher begann und später länger beschäftigt war – und beide verfolgten den Anspruch einer überdisziplinären, vereinheitlichenden Sprachschöpfung. Sie ließen sich dabei in einem vorher und nachher selten übertroffenen Maß von biologischen Kategorien und Erkenntnissen inspirieren. Schäffles sozialer Körper bestand nicht nur aus Zellen, Gewebe und Organen, sondern terminologisch viel verfeinerter aus Interzellularsubstanz, sozialer Bewegungserregung und dergleichen. Obwohl Schäffle die Studien Spencers zumindest aus zweiter Hand kannte, scheinen sich die beiden weitgehend unabhängig voneinanderFootnote 3 innerhalb eines größeren Diskursraums bewegt zu haben, an dem wechselseitig Gesellschaftstheoretiker wie auch Evolutionsbiologen partizipierten (auf die Gegenseitigkeit dieses Austausches wies bereits Schäffle 18751878, Bd. 2, S. 46 selbst hin; vgl. auch Wittkau-Horgby 1998, S. 130 f. und Heilbron 2003, S. 51 f.). – Nachdem Schäffle seinen Entwurf in mehreren Bänden ab 1875 auf den Markt gebracht hatte, fiel die Reaktion aus seiner Sicht so niederdrückend aus, dass er später hauptsächlich Anstrengungen unternahm, das System der Soziologie so zu revidieren, dass man „die Krücken der biologistisch-psychologischen Analogien“ – wie er im Nachhinein selbst formulierte – „völlig wegwerfen“ konnte. Die Kritik, von der Schäffle sich getroffen fühlte und die er sukzessive teilweise akzeptierte, richtete sich demnach gegen die biologisch gefärbte Sprache, gegen eine Verwechslung von Analogien und Homologien und gegen einen als revitalisierte Naturphilosophie aufgefassten Spencerianismus (Schäffle 1906, S. 1–6; Zitat S. 1 f.). Viele der Kritikpunkte hatte Schäffle bereits selbstreflektiert in seiner Einleitung zum ersten Band andiskutiert, aber das half augenscheinlich wenig (vgl. zur Rezeption aber Prisching 2020, S. 425).

Die Rezension, die Gustav Schmoller Schäffles Werk (und Person) widmete, lässt sich durchaus als repräsentatives Beispiel dieser Kritik lesen. Er verschwieg nicht seine Vorbehalte gegenüber einem zu spekulativen Einsatz naturwissenschaftlicher Analogien, vor allem, wenn die hoch aggregierten Begriffe über eine fehlende empirische Fundierung hinwegtäuschten. Und selbstverständlich störten ihn Dinge wie „die eine große Flamme der auslesenden Daseinskämpfe, die Alles allein klar machen soll“ (Schmoller 1879, Sp. 901; Kursivsetzung J. H.). Wo Schäffles einheitliches Begriffssystem den Eindruck erweckte, Forschung zum Abschluss zu bringen oder überflüssig zu machen, meldete Schmoller regelmäßig Zweifel an. Überdies markierte der Nationalökonom sorgfältig Schäffles Position abseits des regulären Wissenschaftsbetriebs. – Jedoch allein der Umfang der überlangen Besprechung deutet darauf hin, dass es sich nicht um eine axiomatische Abfertigung handeln konnte. Der Rezensent sandte durchaus positive Signale, die allerdings oft eher beiläufig vorgetragen wurden und je nach Lesart als rein rhetorische Kompensation grundsätzlicher Abweisung verstanden werden können. In dieser Art merkte Schmoller an, „über die historische Entwickelung des socialen Körpers im Ganzen vom Standpuncte der Daseinskämpfe manches beachtenswerthe im zweiten Bande“ gefunden zu haben (Schmoller 1879, Sp. 901). Das klingt nicht besonders euphorisch, aber das Signalwort ist hier „historische Entwicklung“.

Die klare Front zwischen Naturwissenschaft und Historismus, die sich auf wissenschaftslogischer Ebene herauspräparieren lässt und in Schmollers Kritik konkret beobachtbar wird, löste im Einzelnen oft Verwirbelungen aus, in der sich beide Richtungen abstoßen, aber auch überlagern konnten. Auf Begriffe wie „naturgemäß“ oder „Naturgesetz“ reagierte Schmoller nicht nur als Historist, sondern als engagierter Reformpolitiker immer dann kritisch, ja gereizt, wenn die Rede über die „Natur der Sache“ auf eine Unveränderlichkeit gesellschaftlicher Institutionen abzielte und damit sowohl das Interesse für deren Geschichte als auch jeglichen politischen Gestaltungswillen ersticken konnte. Aber in Schäffles Entwurf entdeckte Schmoller eine den historischen Wandel herausstellende Komponente, nämlich das eng an die Evolutionsbiologie angelehnte „Gesetz der socialen Entwicklung“. Der komplette zweite Band Schäffles widmete sich unter diesem Titel der gesellschaftlichen Differenzierung. Die differenzierungstheoretische Fundierung der Gesellschaftsanalyse, ein Kernthema von späteren soziologischen Klassikern wie Georg Simmel und Émile Durkheim im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts (Schimank 2007, S. 25–70), bildete somit bereits ein gemeinsames Grundanliegen Schäffles und Schmollers in den 1880er Jahren. Beide waren – wie schon ihre gemeinsame Bezugsperson Wilhelm Roscher und andere Nationalökonomen des Kaiserreichs – hauptsächlich an institutionellem Wandel, sozialökonomischen Entwicklungsstadien und ähnlichem interessiert (vgl. Düe 2001; Takebayashi 2003, S. 78–154). Bloß dass Albert Schäffle 1879 eben den Anschluss an die Evolutionstheorie und insbesondere Darwin suchte (Bernart 2003, S. 99–105), während Gustav Schmoller bis dahin überwiegend die ökonomische Terminologie der „Arbeitsteilung“ verwendete (Giouras 1994) und somit in einer Traditionslinie zu verorten ist, die üblicherweise auf die schottischen Sozialphilosophen Adam Smith und Adam Ferguson zurückgeleitet wird (Sun 2012). Soziale Differenzierung als Forschungsschwerpunkt besaß so gesehen das Potential, entweder bittere Zuständigkeitsdebatten zwischen zwei differierenden Herangehensweisen zu entzünden, oder als produktive Kopplungs- und Transferzone zwischen Historismus und Naturwissenschaft zu dienen. Die Frage ist, ob die Beteiligten ihre begriffliche Disparität als gegenseitiges Unverständnis beziehungsweise Inkommensurabilität (im weitesten Sinne) wahrnehmen, oder ob sie die fachsprachliche Vielfalt akzeptieren und bereitwillig Übersetzungs- und Integrationsversuchen unterwerfen.

Schmoller nahm keine prinzipielle Abgrenzung vor. In seinen ausführlichen Aufsätzen über Arbeitsteilung, die, aufeinander aufbauend, 1889 und 1890 erschienen (Giouras 1994, S. 51 f.), wird der biologische Begriff der „Differenzirung“ synonym mit „Arbeitsteilung“ verwendet und in einem einleitenden Forschungsüberblick die Produktivität biologistischer Perspektiven besonders gewürdigt (vgl. dazu auch Schmoller 1883, S. 984 f.). Auch den Arbeiten Herbert Spencers scheint Schmoller sich in den 1890er Jahren verstärkt zugewandt zu haben (Nau 1998, S. 30 f., Anm. 84). Anziehend für ihn war die Ausweitung der Perspektive über die rein wirtschaftlichen Dimensionen gesellschaftlicher Abhängigkeit, obgleich er einer Überbetonung der funktionalen Determiniertheit der Individuen als „Zellen“ reserviert gegenüberstand (Giouras 1994, S. 56) – ein kaum überraschender Einwand politischer Bürgerlichkeit. Da er nicht das Bedürfnis hatte, den evolutionsbiologischen Ansatz im Verhältnis zu seiner eigenen Perspektive abschließend zu diskutieren, bleiben seine Ausführungen theoriegeschichtlich eher unspektakulär. Aber durch die Praxis des kongenialen Erwähnens wurde fachliche Heterogenität an sich toleriert. Und Schmollers Aufsätze wurden ihrerseits von Soziologen wie Simmel und Durkheim zur Kenntnis genommen; eine rezeptionsgeschichtliche Brücke, die zumindest im Fall Durkheims noch genauer als bisher überprüft werden könnte (zu Simmel vgl. Dahme 1993; Schullerus 2000; zu Durkheim Notizen in Herold 2019, S. 290).

Auch in seinen Vorlesungen über allgemeine Nationalökonomie in den 1880er Jahren, in denen „Arbeitsteilung“ und „Organbildung“ neben den gesellschaftlichen Institutionen selbstverständlich zu den konzeptionellen Kernthemen gehörten, wies der Berliner Professor die Studenten wiederholt auf das Werk Schäffles hin (Schmoller 1882, S. 12, S. 36 u. ö.). Damit trug die Nationalökonomie, jedenfalls an der hauptstädtischen Universität, zumindest ein wenig zur Kontinuität der Soziologie bei, statt sie einfach als universitärer Platzhirsch zu verdrängen. Soziologische Versatzstücke wurden vorgeführt, Autoren und Bücher mehr als nur beiläufig erwähnt. Schmollers Zustimmung zu Schäffles Entwurf scheint in den nächsten Jahren sogar noch gestiegen zu sein. In einer erweiterten Fassung seiner Rezension über den Bau und Leben des socialen Körpers ergänzte er im Jahr 1888: „Weder die deutsche, noch die ausländische Wissenschaft hat dem Werke zur Zeit etwas Ebenbürtiges zur Seite zu stellen“ (Schmoller 1888, S. 231).

So unscheinbar solche Vorgänge im Großen und Ganzen bleiben; im Prinzip wurde das genaue Gegenteil von „Inkommensurabilität“ getan, nämlich an einer gemeinsamen Schnittstelle die Terminologie diskussionslos verdoppelt und überlagert. Die wissenschaftliche Praxis war eher eine Collage als ein System (nach Feyerabend, zit. in Hoyningen-Huene 2013, S. 168). Warum sollte auch eine einzelne theoretische Perspektive die Dinge besser erklären können, als beide zusammen (dazu allg. Giere 2008, S. 268). Dass Albert Schäffle teilweise ähnlich undogmatisch mit Begriffen umgehen konnte wie Schmoller, wurde bereits im eingangs wiedergegebenen Zitat deutlich, in dem der Verfasser seine Sprachschöpfung auf die Funktion von „Krücken“ reduzierte, die man gut und gerne auch wegwerfen konnte, ohne das Essentielle des soziologischen Konzepts zu gefährden. Eine Rückübersetzung der Begriffe schien ihm kein unmögliches Unterfangen zu sein und wurde in späteren Jahren teilweise zu realisieren versucht (Schäffle 1906). Zu einer schroffen Bündelung und epistemologischen Verhärtung der konzeptionellen, aus heutiger Sicht sogar disziplinären Disparität kam es nicht, sondern der Diskursraum gewann an Heterogenität (vgl. allg. Lehner 2011, S. 412–414).

4 Pluralismus kontra Systematik

Durch die Inklusion von Disparität schadet Pluralismus – nicht nur im geschilderten Fall – der Systematizität von Wissenschaft. Wenn man Systematik als Hauptmerkmal oder jedenfalls als Mindeststandard akzeptiert, mittels dessen Wissenschaftler ihre Forschungsergebnisse vom Alltagswissen abheben und legitimieren (Hoyningen-Huene 2013), entsteht ein Spannungsfeld zwischen Heterogenität und Kohärenz, das für Schmoller auch persönlich fühlbar wurde und mit dem er sich auseinandersetzen musste.

Wie oben bereits erwähnt, begann der Nationalökonom in der Zeit um 1880, in der er sich mit Schäffle und Menger auseinandersetzte, ein „System“ – wie er es selbst nannte – auszuarbeiten, das sein sozialwissenschaftliches Verständnis von Nationalökonomie in Hand- und Lehrbüchern sowie propädeutischen Vorlesungen repräsentieren sollte. Eng damit verzahnt – wenn auch nicht identisch – war die teleologische Frage, ob die zunehmend spezialisierte und arbeitsteilige Forschung, die Schmoller organisierte, zukünftig in einer einheitlichen Synthese zusammengefasst werden konnte. So sehr „exacte Detailarbeit noth thut, so sehr ist auch die Zusammenfassung der Bruchstücke von socialer Wissenschaft, die wir bis jetzt haben, zur Einheit am Platze“, schrieb er in der Rezension über Bau und Leben des socialen Körpers und bescheinigte der Soziologie Schäffles, „daß das Buch auf dem Wege liegt, den die Sozialwissenschaften zu wandeln haben“ (Schmoller 1879, Sp. 900). Zwar beschäftigte er sich im nachfolgenden Abschnitt der Rezension überwiegend skeptisch mit den Schwierigkeiten einer „einheitlichen Weltanschauung“, insistierte auf die Notwendigkeit „exakter“ Spezialforschung und wies überdies dem Problem menschlicher Perspektivität eine prominente Stelle zu, als er mit der Aufforderung schloss, „daß die Schriftsteller sich jederzeit bewußt bleiben, ob sie als Parteimänner für gewisse Ideale eintreten und ein ‚Sollen‘ fordern, oder ob sie als schlichte Gelehrte ein Werden aus Ursachen erklären“ (Schmoller 1879, Sp.903). Doch trotz aller Vorbehalte gegenüber der Einseitigkeit des Systems: Synthese als Ziel der Wissenschaft aufzugeben, hieß auch für Schmoller in letzter Konsequenz, Wissenschaft zu unterminieren. Schmoller ist nicht nur im Fall Schäffles auf dieses Dilemma gestoßen und hat früh – um einen komplexen Sachverhalt etwas simplifizierend abzukürzen – eine Art Hinhaltetaktik entwickelt. Das Ziel der einheitlichen Synthese wurde als wissenschaftliches Ideal beibehalten, aber teleologisch in eine Zukunft hinausgeschoben, die zwischen realistischem Horizont und hoffnungsverheißender Utopie schwankte. Aus der Ambivalenz resultierte eine charakteristisch vage Rhetorik Schmollers, für die eine Menge Belege beigebracht werden können. Einige wurden weiter oben schon zitiert, etwa wenn Brentano gegenüber konstatiert wurde, dass eine einheitliche Methode entweder „nicht“ oder „noch nicht“ existiere. Die Möglichkeit einer kohärenten Synthese wurde immer wieder angedacht, aber nicht energisch zu erreichen versucht (vgl. z. B. Schmoller 1883, S. 981). Die Teleologie der Synthese blieb eine „methodologische Maxime“, die man auch aufrechterhält, wenn man nicht vollends von ihr überzeugt ist (allg. Giere 2008, S. 36, zu Schmoller Nau 1998, S. 34–36).

Auf eine fast offensive Unklarheit der Formulierungen Gustav Schmollers stößt man nicht nur hier, sondern in unterschiedlichsten Zusammenhängen. In gewissem Sinn hat der Nationalökonom die Unvereinbarkeit von System und Pluralismus, die für ihn auf begrifflicher Ebene nicht handhabbar war, auf der Ebene persönlicher Disposition gelöst: Durch konsequente Inkonsequenz, die das Disparate und Widersprüchliche pluraler Kontexte in die Person des Wissenschaftlers inkorporierte. Das fiel schon den Studenten auf. Hermann Bahr – ein Schriftsteller, der zeitgleich mit Werner Sombart in Berlin Nationalökonomie studiert hat – spottete über seinen ehemaligen Professor, „wie bedächtig und behutsam er jede Sache zu wenden und zu deuten wußte, bis jedesmal am Ende sich Für und Gegen glich und man die Entscheidung noch etwas verschieben mußte, weil die Frage augenscheinlich noch nicht reif war. So haben wir bei dem Meister der historischen Nationalökonomie sehr viel gelernt, bis wir zuletzt gar nichts mehr wußten.“ (Bahr 1894, S. 33) Wissenschaftshistoriker, die sich mit Schmoller beschäftigen, haben ähnliche Eindrücke geäußert (Schäfer 1971, S. I; Bruch 1980, S. 344 f.). Besteht die Attraktion, die von kohärenzverpflichteten Systematikern wie Hegel, Marx, Parsons oder Luhmann ausgeht, nicht zuletzt darin, die Eingangshürde exklusiver Sprachschöpfungen zu meistern, um an ihren begrifflichen Mehrwert heran zu kommen, so übte Gustav Schmoller eine unangenehmere Form von Sperrigkeit ein. Er schrieb unprätentiös, leicht verständlich, umgangs- bis bildungssprachlich, ließ jedoch durch abwägende bis vage Formulierungen jeden Versuch scheitern, ihn eindeutig auszulegen und als Referenzperson in die Pflicht zu nehmen. „Er beginnt jeden Satz mit ‚Vielleicht‘; für ‚Nicht‘ wird ‚Kaum‘ gesagt und ‚Etwa‘ darf nicht fehlen“, monierte Bahr. Für ihn bildete diese kompromissbereite Unverbindlichkeit offensichtlich eine Strategie der historischen Schule: „Das ist doch ungemein nützlich, während es mit den unabänderlichen Gesetzen der exakten Dogmatiker leicht Verdruß giebt.“ (Bahr 1894, S. 33 f.)

Die Frage wäre, ob die Inkorporierung von Disparität, auf die jemand wie Bahr nur mit Verachtung reagierte, sich einfach aus einer persönlichen Disposition Schmollers ergab, oder ob sie auch als normalwissenschaftlicher Arbeitsmodus von Akademikern verstanden werden kann. Durch einen solchen Arbeitsmodus, der rein habituell Kompromissbereitschaft und pragmatische Skepsis in den Vordergrund stellt, kann ein anderer akademischer Umgangston geschaffen werden, als durch einen Modus, der paradigmatische Geschlossenheit und Kohärenz priorisiert. Methodenfragen werden anders bewertet, Forschungsthemen anders aufgenommen, divergierende Meinungen anders behandelt, Konflikte – falls sie überhaupt entstehen – anders ausgetragen. Natürlich war Schmoller kein Verfechter eines „Anything goes“, sondern setzte als Wissenschaftsorganisator in seinem Umfeld klare Forschungsschwerpunkte (Neugebauer 2000). Aber am Berliner Seminar nahmen neben Historikern wie Otto Hintze und Kurt Breysig auch Georg Simmel, Werner Sombart, Alfred Weber, Leopold von Wiese und einige andere Soziologen teil, im Verein für Sozialpolitik gehörte Max Weber zu den engagiertesten Mitgliedern und auch ein Ferdinand Tönnies bewegte sich in Schmollers Einflussbereich. Das war ein breites intellektuelles Spektrum. Wenn man den Neuansatz der Soziologie um 1900 einzuordnen versucht und nach den Kontinuitäten und Diskontinuitäten zur „Historischen Nationalökonomie“ fragt, wird die pluralistische Haltung des Berliner Nationalökonomen – wenn man denn von ihr überzeugt ist – ein fachgeschichtlich beachtenswerter Faktor. Gustav Schmollers konsequente Inkonsequenz machte es jedenfalls Max Weber und anderen außerordentlich schwer, in methodologischen Kontroversen oder im Programm der Deutschen Gesellschaft für Soziologie entschiedene Abgrenzungen vorzunehmen – obgleich es an Vorstößen nicht mangelte (allg. Takebayashi 2003, S. 155–163 u. ö.; Dörk et al. 2019). Die Soziologiegeschichte könnte noch an Konturen und Kontrast gewinnen, wenn sie jenseits des Gründungsszenarios um 1900 die Genealogie der Soziologie in die pluralistische Atmosphäre der Nationalökonomie zurückverfolgt und dabei nicht nur nach grundsätzlicher Differenz, sondern auch nach fein ziselierter Disparität Ausschau hält (vgl. Kruse 1990).Footnote 4

5 Zusammenfassung

Der vorliegende Aufsatz ist recht hoch aggregierten Hypothesen am Beispiel der Einzelperson Gustav Schmollers nachgegangen. Obwohl das nicht mehr als ein Tastversuch sein kann, soll abschließend versucht werden, die Ergebnisse möglichst generalisierend zusammenzufassen: Der Ausgangspunkt war, ein pluralistisches und ein monistisches Wissenschaftsverständnis gegenüberzustellen. Begriffe wie „Paradigma“, „Inkommensurabilität“ und „wissenschaftliche Revolution“ spiegeln vor allem einen spezifischen Umgang mit Disparität wider, der als solcher konkret im Verhalten von Wissenschaftlern beobachtet werden kann. Aktive Ausräumung, Bündelung oder sogar nachträgliche Einebnung von Differenzen durch die Akteure spielen bei der Konstituierung von Paradigmen eine Rolle. „Wissenschaftliche Revolutionen“ werden von den Beteiligten mal performativ forciert (und inszeniert), mal durch Resonanzentziehung verhindert.

Pluralistische Wissenschaft muss weniger als Konzept verstanden werden, das von Akademikern begrifflich aufbereitet wird, sondern vor allem als persönlicher Impuls oder Arbeitsmodus, der sich mittelbar in unterschiedlichen Zusammenhängen beobachten lässt. Skepsis gegenüber zu einheitlichen Theorieangeboten verband sich bei Gustav Schmoller oft mit einer pragmatischen Kompromissbereitschaft (die je nach Situation aber auch zurückgenommen werden konnte). Der Einfluss dieses Modus wurde als Faktor im komplexen Verhältnis von historischer Nationalökonomie und früher Soziologie diskutiert.

Dass der pluralistische Modus zugleich Systematizität gefährdet – also ein Kernelement wissenschaftlichen Wissens –, wurde im Fall Schmollers nicht nur in seinem Verhältnis zur Forderung nach einem einheitlichen „System“ oder einer „Synthese“ spürbar, sondern auch in einem rhetorischen Habitus, der Widersprüche in die Person inkorporierte, ohne dass man dem Nationalökonomen so leicht methodologische Unbeschlagenheit vorwerfen könnte. Seine inkohärente Position wurde von Gustav Schmoller – mit Blick auf das Gesamtwerk – konsistent durchgehalten und verteidigt.