Berlinguers Credo: Die Linke muss offen für neue Bewegungen sein
  1. Startseite
  2. Politik

Berlinguers Credo: Die Linke muss offen für neue Bewegungen sein

KommentareDrucken

Enrico Berlinguer, Chef der italienischen Kommunistischen Partei
Die Biographie über Enrico Berlinguer erklärt auch, warum die Linke in Italien in zahlreiche Gruppen zersplittert ist. © Dietz Verlag

Die erste deutschsprachige Biografie des früheren KPI-Chefs Enrico Berlinguer ist das Buch der Stunde zur Wahl in Italien

Was wäre gewesen, wenn? Wenn Enrico Berlinguer nicht am 7. Juni 1984 nach einer Wahlkampfrede zusammengebrochen und kurze Zeit später gestorben wäre. Hätte der Generalsekretär der Kommunistischen Partei Italiens (KPI) sein Projekt einer Zusammenarbeit mit den bürgerlichen Parteien fortsetzen können, eines „Dialogs mit dem Klassenfeind“? Zum ersten Mal ist jetzt eine Biographie des kommunistischen Politikers auf Deutsch erschienen, „Der eigenartige Genosse Enrico Berlinguer“, geschrieben von der renommierten italienischen Journalistin Chiara Valentini, die ihn über Jahrzehnte begleitete. Der offizielle Anlass: Der 100. Geburtstag des Sarden am 22. Mai 2022. Doch tatsächlich ist es das Buch der Stunde zur politischen Situation im Italien von heute, kurz vor der Parlamentswahl am 25. September 2022.

Um zu verstehen, woher das heutige, unendlich zersplitterte politische System Italiens kommt, muss man es lesen. Und Valentinis spannende, eher romanhafte Arbeit gibt auf knapp 500 Seiten Hinweise darauf, wie sich eine politische Linke in Italien heute wieder vereinen und an Dynamik gewinnen könnte. Und das wäre unbedingt nötig: Denn derzeit droht nicht weniger als eine ultrarechte Regierungsmehrheit nach dem 25. September, angeführt von den offen postfaschistischen „Fratelli d‘ Italia“ (Brüder Italiens) von Georgia Meloni. Sie könnte Italiens künftige Regierungschefin werden.

Berlinguer verkündete schon früh, dass die italienischen Kommunisten Sozialismus und Pluralismus vereinen wollten

Valentinis Buch gibt Geschichtsunterricht. Nur wenige wissen heute noch, dass die KPI bei den Europawahlen am 17. Juni 1984, kurz nach Berlinguers Tod, zum ersten und einzigen Male stärkste politische Kraft in Italien wurde. Mit 33,32 Prozent lag sie knapp vor den Christdemokraten (DC), die 32,96 Prozent errangen.

Berlinguer war einen langen und steinigen, heftig umstrittenen Weg gegangen, um die Kommunisten dorthin zu führen. 1949 hatte er zunächst die Führung des Kommunistischen Jugendverbandes übernommen, war so ins Zentralkomitee der KPI aufgerückt. 1969 ließ er zum ersten Mal weit über Italien hinaus aufhorchen, als er auf einem Kongress in Moskau erklärte, es gebe nicht nur ein Modell einer sozialistischen Gesellschaft. Die KPI wolle Demokratie und Pluralismus.

Die französische Tageszeitung „Le Monde“ kommentierte damals: „Der Samen des Zweifels ist gesät.“ 1973 unterbreitete Berlinguer, inzwischen seit einem Jahr Generalsekretär der KPI, sein Modell eines „historischen Kompromisses“, einer Zusammenarbeit von Kommunisten und Christdemokraten in Italien.

Er löste die KPI von Moskau

Welche Gegenkräfte das mobilisierte, wie gefährlich das war, zeigte sich noch im gleichen Jahr, als der Politiker ein Attentat in Sofia kaum verletzt überlebte. 1976 sprach der kommunistische Führer bei einer Kundgebung in Paris erstmals den Begriff „Eurokommunismus“ aus. Es ging ihm um eine europäische sozialistische Gesellschaft, die sich durch Presse- und Meinungsfreiheit, durch Pluralität der Parteien auszeichnen sollte.

In der UdSSR reagierte Parteichef Leonid Breschnew schockiert. 1981 ging Berlinguer noch einen Schritt weiter und verkündete offen den „Riss“ mit der Sowjetunion. Er öffnete die Kommunistische Partei Italiens für die neuen sozialen Bewegungen, die überall an Bedeutung gewannen (Frauen, Umwelt, Frieden). In der italienischen Innenpolitik tolerierte die KPI 1978 sogar für kurze Zeit eine von den Christdemokraten tolerierte Minderheitsregierung.

Die Ermordung Aldo Moros zerstörte alle Hoffnungen auf einen historischen Kompromiss

Doch dann wurde der Parteiführer der DC, Aldo Moro, von den „Roten Brigaden“ entführt und ermordet. Es war das Ende aller Hoffnungen auf den „historischen Kompromiss“. Bereits 1979 ging die KPI wieder in die Opposition. In der Kommunistischen Partei waren Berlinguers Positionen immer umstrittener. 1983 erlitt er eine heftige Niederlage, als er Vertreterinnen der unabhängigen Frauenbewegung Positionen auf der offiziellen KPI-Liste einräumen wollte. Auch die von ihm geplante weitere Annäherung an die Sozialistische Partei gelang nicht. Es gab organisierte Proteste, als er beim Kongress der Sozialisten sprach. Makabererweise zeigte sich aber nach seinem Tod, wie populär Berlinguer war. Mehr als 1,5 Millionen Menschen nahmen am 13. Juni 1984 an den Begräbnisfeierlichkeiten in Rom teil.

Was lässt sich für heute lernen aus dem politischen Kampf dieses außergewöhnlichen Kommunisten, nicht nur für die Linke in Italien? Die KPI erlebte nach seinem Tod einen Niedergang, benannte sich nach dem Ende der Sowjetunion Anfang 1991 in Partito Democratico della Sinistra (PDS) um. Die ging dann 2007 mit anderen Gruppen in der Partito Democratico (PD) auf. Das politische System Italiens zerfiel in immer neue Bewegungen, die traditionsreichen Christdemokraten verschwanden.

Berlinguers Leitsatz hieß: „Wir müssen Konservative und Revolutionäre sein.“ Also offen für Veränderungen. Nur wenn es der Linken gelinge, neue soziale Bewegungen zu integrieren, werde sie überleben und gestärkt werden. 1983 begrüßte er die Frauenbewegung als „neue historische Kraft“ und kritisierte den „Machismo“ in der KPI.

Er nahm Kontakt nach allen Seiten auf - auch zur Industrie

Er plädierte für einen Dialog mit anderen demokratischen Kräften, suchte das Gespräch mit dem mächtigen Industrieverband. Zugleich plädierte er für kämpferische Gewerkschaften und griff den sozialistischen Ministerpräsidenten Bettino Craxi scharf an, als der 1984 Löhne und Gehälter nicht mehr an den Anstieg der Lebenshaltungskosten koppeln wollte.

International trat der KPI-Chef als entschiedener Gegner von Krieg und Aufrüstung auf, grenzte sich von UdSSR wie USA als imperialen Mächten ab. Klar wandte er sich 1979 gegen den Einmarsch der UdSSR in Afghanistan, sprach im Februar 1980 vor 200 000 Menschen bei einer Friedenskundgebung. Noch 1983 versuchte er, eine internationale Abrüstungskonferenz zu organisieren. Eine geplante Reise in die USA kam nicht mehr zustande. Doch das politische Erbe von Enrico Berlinguer bleibt wichtig.

Auch interessant

Kommentare