Gefälschte Kommunalwahlen 1989 verschärften Krise in der DDR
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Gastbeitrag

Gefälschte Wahlen vor 35 Jahren verschärften Krise in der DDR

Schwerin / Lesedauer: 4 min

Burkhard Bley, Landesbeauftragter für Mecklenburg-Vorpommern für die Aufarbeitung der SED-Diktatur, mahnt zum Jahrestag, freie Wahlen als Privileg und Verpflichtung zu sehen.
Veröffentlicht:07.05.2024, 07:14

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„Wenn Wahlen etwas ändern würden, wären sie verboten.“ Diese angebliche Volksweisheit könnte so als Grundsatz im Praxishandbuch von Wahlleitern aller Diktaturen stehen. So wie auch vor 35 Jahren in der DDR, als am 7. Mai 1989 Kommunalwahlen stattfanden, die natürlich nichts ändern sollten.

Zentrale Forderung der Friedlichen Revolution 1989

In naher Zukunft haben Bürgerinnen und Bürger in Mecklenburg-Vorpommern am 9. Juni 2024 eine wirkliche, ein allgemeine, freie und geheime Wahl: Sie können nämlich unter zahlreichen Kandidatinnen und Kandidaten für die kommunalen Vertretungen und das Europaparlament entscheiden. Dieses Recht war eine der zentralen Forderungen der Friedlichen Revolution von 1989. Es war aber auch zuvor schon eine Forderung der Aufständischen vom 17. Juni 1953 und noch früher in der Revolution von 1848/49.

Um dieses Recht wurde hart und unter vielen Opfern gerungen ‒ so wie in vielen Ländern heute immer noch. Das Wahlrecht ist nicht selbstverständlich, es ist ein Privileg und auch eine Verpflichtung.

Wahlbenachrichtigung von 1989
Wahlbenachrichtigung von 1989 (Foto: privat)

Ein Blick zurück: Egon Krenz verkündete im Mai 1989 in der „Aktuellen Kamera“, dass sich bei einer Wahlbeteiligung von 98,77 Prozent der Stimmberechtigten 98,85 Prozent der Wählerinnen und Wähler für die Kandidaten der Nationalen Front entschieden hätten. Viele ahnten schon damals, dass diese Ergebnisse nicht stimmen konnten. Bürgerrechtler nahmen an Auszählungen teil und konnten Manipulationen belegen. Statt ihren Anzeigen und Eingaben nachzugehen, wurden sie von der Staatsmacht verfolgt.

In den 1990er Jahren wurden die Wahlfälscher gerichtlich überführt und verurteilt. Die von der SED-Spitze inszenierte Wahllüge vom Mai 1989 verschärfte die tiefe Krise im Land. Im Herbst 1989 wurde in einer Friedlichen Revolution die SED entmachtet. Eine durch die ersten und letzten freien Wahlen in der DDR am 18. März 1990 legitimierte Regierung stellte die Weichen für die deutsche Einheit.

Dialog-Veranstaltung in Kongresshalle Schwerin am 11.11.1989
Dialog-Veranstaltung in Kongresshalle Schwerin am 11.11.1989 (Foto: Herbert Kewitz/SVZ-Archiv)

Die Deutsche „Demokratische“ Republik hatte in ihrer Verfassung die führende Rolle der SED festgeschrieben. Bei allen Wahlen trat eine Einheitsliste der Nationalen Front an, in der unter Führung der SED auch Blockparteien und Massenorganisation vereint waren. Die Zahl der Sitze in den Vertretungen ergab immer eine deutliche Mehrheit für die SED und der von ihr direkt abhängigen Kandidaten. Welche Optionen hatte dann der Wähler?

Drei Optionen: Falten, streichen, schwänzen

Erstens: Zettelfalten. So wählte der überzeugte DDR-Bürger, aber auch alle anderen, die keinen Ärger bekommen wollten. Als Erstwähler mit 18 und kurz vor dem Abitur ging ich am 6. Mai 1984 ins Wahllokal. Ich bekam den Wahlzettel mit der Einheitsliste in die Hand, faltete ihn und steckte ihn brav in die Wahlurne. Damit hatte ich die Kandidaten der Nationalen Front gewählt.

Zweitens: Durchstreichen. Noch vor dem eigentlichen Wahltermin zur Volkskammerwahl am 8. Juni 1986 ging ich in ein Sonderwahllokal. Um eine Gegenstimme abzugeben, musste ich alle Kandidaten auf dem Wahlzettel einzeln durchstreichen. Dazu wollte ich eine Wahlkabine aufsuchen. Die gab es, sie stand aber in einer Ecke und so dicht an der Wand, dass ich mir durch Verrücken Zugang verschaffen musste. Die letzte Illusion eines Wahlgeheimnisses machte das Geräusch zunichte, welches beim Streichen der Kandidaten durch den harten Stift auf einer weichen Sperrholzplatte verursacht wurde. Allen im Wahllokal musste klar geworden sein, dass ich kein braver Wähler war. Ob und wie das registriert und weitergemeldet wurde, ist mir nicht bekannt. Schwierigkeiten bekam ich deswegen nicht. Zumindest sind mir keine bewusst geworden.

Drittens: Wegbleiben. „Stell dir vor, es ist Wahl und keiner geht hin.“ Dieser Spruch war im Frühjahr 1989 öfter zu hören und sogar zu sehen. Das machte die Stasi nervös. Viele DDR-Bürger benutzten die Drohung, nicht zur Wahl zu gehen, weil sie bei der Lösung alltäglicher Probleme nicht mehr weiterkamen, zum Beispiel bei der Versorgung mit einer Wohnung. Wer aber wirklich nicht zur Wahl ging, bewies aus Sicht der Staatsmacht seine feindlich-negative Haltung. Ich bin am 7. Mai 1989 nicht mehr zur Wahl gegangen, weil ich dieser DDR meine Zustimmung verweigern wollte.

Wahl-O-Mat kann Orientierung geben

Wenn ich bald am Wahlsonntag, am 9. Juni 2024, meine Wahlzettel in die Hand bekomme, werde ich mich bei der Vielzahl der aufgestellten Kandidatinnen und Kandidaten der vielfältigen Parteien und Initiativen sicher etwas überfordert fühlen. So viele Programme, so viele Menschen, zu denen ich Informationen bräuchte, um eine fundierte Entscheidung zu treffen. Da könnte vorher ein Blick ins Internet helfen oder in die Zeitung. Auch der Wahl-O-Mat kann Aufschluss geben. Ganz ohne Sympathie und Bauchgefühl wird es auch nicht gehen.

Im Mai 1989 hatten wir in der DDR keine wirkliche Wahl. Die Wahl, die ich jetzt in einer Demokratie habe, lasse ich mir nicht mehr nehmen.

Hinweis:
Bürgerberatung zu SED-Unrecht beim Landesbeauftragten
Tel. 0385/734006
Mail [email protected]
Internet www.landesbeauftragter.de