Der Ekel, Sonderausgabe: Roman. Mit einem Anhang, der die in der ersten französischen Ausgabe vom Autor gestrichene Passagen enthält von Jean-Paul Sartre bei LovelyBooks (Literatur)

Der Ekel, SonderausgabeRoman. Mit einem Anhang, der die in der ersten französischen Ausgabe vom Autor gestrichene Passagen enthält

4,1 Sterne bei

Neue Kurzmeinungen

Positiv (212):
V
Vera-Seidl
vor einem Jahr

Der gottwerdende Mensch

Kritisch (22):
Ein LovelyBooks-Nutzer
vor 4 Jahren

Das ewige Analysieren und Selbstreflektieren mag seinen Reiz haben, hier habe ich mich aber doch sehr gelangweilt

Auf der Suche nach deinem neuen Lieblingsbuch? Melde dich bei LovelyBooks an, entdecke neuen Lesestoff und aufregende Buchaktionen.

Inhaltsangabe

Für Antoine Roquentin, Einzelgänger und Außenseiter in einer Provinzstadt, verliert das Leben plötzlich seine Selbstverständlichkeit. Unnachsichtig um Selbsterforschung bemüht, versucht er seinem immer stärkeren Ekel vor Dingen und Menschen auf den Grund zu gehen.
Dieser erste und bedeutendste existenzialistische Roman - ein faszinierendes erzählerisches Meisterwerk des großen französischen Schriftstellers und Philosophen - ist insofern auch ein philosophischer Roman, als bestimmte Erfahrungen, Empfindungen, Intuitionen, ja Offenbarungen, Halluzinationen des Romanhelden anstöße zu einer neuen Lebensphilosophie gaben, die seither von vielen Lesergenerationen als ihre eigene innerste Lebenserfahrung wiedererkannt wurde.

Buchdetails

Aktuelle Ausgabe
ISBN:9783499235924
Sprache:Deutsch
Ausgabe:Taschenbuch
Umfang:249 Seiten
Verlag:Rowohlt TB.
Erscheinungsdatum:01.01.2004

Rezensionen und Bewertungen

4,1 Sterne
Filtern:
  • 5 Sterne106
  • 4 Sterne106
  • 3 Sterne42
  • 2 Sterne18
  • 1 Stern4
Sortieren:
V
Vera-Seidlvor einem Jahr
Kurzmeinung: Der gottwerdende Mensch
Der gottwerdende Mensch

Da sitzt sie, die Melencolia, reglos, den Kopf auf ihre Hand gestützt, kann sich trotz ihrer Flügel nicht erheben, das Handwerkszeug um sich herum nicht ergreifen. 

Hört sie das Läuten der Glocke über sich? Sieht sie die Jakobsleiter, die zum Licht mit seinem Regenbogen führt?

 

Mehrmals hatte ich Jean-Paul Sartres "Der Ekel" angefangen zu lesen. Aber die Sichtweise seiner Hauptfigur, Antoine Roquentin, auf die Welt stieß mich zu sehr ab, verursachte einen Ekel in mir.

 

Im Gegensatz zum Ich-Erzähler ergab ich mich nicht der Selbstreflexion in Form eines Tagebuchs, sondern forschte zunächst in der Entstehungsgeschichte des Romans, insbesondere in Sartres Biografie.

 

In seiner Kindheit war Sartre einem Wechselbad von Bezugspersonen ausgesetzt. 

Sein rechtes Auge erblindete nach und nach. Die visuelle Wahrnehmung erfolgte also fortan stärker über die rechte Gehirnhälfte, über die Gefühle. "Le petit homne", das Männlein, wurde er von seinen Freunden genannt, weil er nur 1,53 m groß war.

Seine erste Liebe lernte er auf einer Beerdigung kennen. Die Treffen mit ihr frustrierten ihn. 

Ein Heiratsantrag, der einer anderen Frau galt, wurde abgelehnt.

Nach Reisen am Anfang der dreißiger Jahre unterrichtete Sartre in Le Havre, wo die Wirtschaftskrise für eine gedrückte Stimmung sorgte.

Seine Doktorarbeit über die Vorstellungskraft konnte er nicht beenden. Das Meskalin, das er sich spritzen ließ, linderte seine Depressionen nicht, sondern verstärkte sie begleitet von Wahn- und Panikphasen.

Als das Manuskript seines Romans "Melancholia" 1936 abgelehnt wurde, war Sartre zwar enttäuscht, ließ sich aber nicht entmutigen. In der Fortsetzung seiner belletristischen Arbeit wurde er von seiner Lebenspartnerin Simone de Beauvoir bestärkt.

1938 erschien das Buch schließlich unter dem Titel "La Nausèe" und wurde zum Erfolg.

 

Mit diesem Hintergrundwissen fiel mir der Zugang zum Buch viel leichter. 

 

Der Historiker Antoine Roquentin lässt sich nach einer mehrjährigen Forschungsreise in der fiktiven Stadt Bouville nieder. 

Er arbeitet nicht an seiner Doktorarbeit, sondern forscht über einen Adligen namens Marquis de Rollebon. Daneben beginnt er ein Tagebuch, weil ihn bestimmte Ereignisse und Veränderungen verstören.

 

Gegenstände und Menschen lösen plötzlich eine Art Angst bei ihm aus. Ein Kieselstein, ein Stück Papier, selbst seine eigene Hand werden zu einer diffusen Bedrohung. "Ich sehe meine Hand, die sich auf dem Tisch ausbreitet. Sie lebt - das bin ich. Sie öffnet sich, die Finger spreizen und strecken sich. Sie liegt auf dem Rücken. Sie zeigt mir ihren fetten Bauch. Sie sieht aus wie ein umgefallenes Tier. Die Finger, das sind die Beinchen."

 

Hier hörte ich Klänge von Franz Kafkas "Verwandlung". Zwei Seiten weiter, als Roquentin seine Hand mit dem Messer attackiert, erinnerte ich mich daran, dass Vincent van Gogh sein Ohr oder ein Teil davon abgeschnitten hatte.

 

"Sein Hemd aus blauer Baumwolle hebt sich fröhlich von einer schokoladenfarbenen Wand ab. Auch das verursacht den Ekel. Oder vielleicht: das ist der Ekel." Immer wieder spielen Farben eine Rolle im Roman. Eine Wirkung des Meskalins, wie ich nachgelesen habe.

 

Im Stilmittel der Beschreibung werden Edmund Husserl und auch Martin Heidegger transparent, mit denen sich Sartre 1933 in Berlin beschäftigt hatte. Auch andere Denker schimmern in seinen philosophischen Überlegungen durch. Vor allem aber nimmt Sartre an diesen Stellen sein theoretisches Hauptwerk "Das Sein und das Nichts" vorweg.

 

"Es gibt jetzt also Leute, die mich erkennen, die denken, nachdem sie mich scharf angesehen haben: 'Der da gehört zu uns'", schreibt er auf Seite 107 im Roman. Fünf Jahre später heißt es: "Wenn es einen andern gibt, wer er auch sei, wo er auch sei, was immer seine Bezüge zu mir sein mögen, auch wenn er auf mich nicht anders als durch das bloße Auftauchen seines Seins einwirkt, ich habe ein Außen, ich bin eine Natur; mein Sündenfall ist die Existenz des anderen; und die Scham ist – wie der Stolz – die Wahrnehmung meiner selbst als Natur, wenn auch eben diese Natur mir entgeht und als solche unerkennbar ist."

 

Auf Seite 159 erlebte ich, wie Sartre die Gedanken René Descartes und die von Martin Heidegger weiter vorantrieb beziehungsweise berichtigte.

"Mein Denken, das bin ich: deshalb kann ich nicht aufhören. Ich existiere, weil ich denke ... und ich kann mich nicht daran hindern zu denken. Sogar in diesem Moment - es ist gräßlich, wenn ich existiere, so, weil es mich graut zu existieren. Ich bin es, ich bin es, der mich aus dem Nichts zieht, nach dem ich trachte ..."

 

Als Roquentin schließlich im Park eine Wurzel erblickt, erkennt er die Sinnlosigkeit der Existenz: "Das Wesentliche ist die Kontinguenz. Ich will sagen, daß die Existenz ihrer Definition nach nicht die Notwendigkeit ist. Existieren, das ist dasein ... Alles ist grundlos, dieser Park, diese Stadt und ich selbst ... Wie lange dauerte die Faszination? Ich war die Wurzel des Kastinienbaums. Oder vielmehr, ich war ganz und gar Bewußtsein ihrer Existenz. Noch losgelöst von ihr - da ich mich ihrer ja bewußt war - und dennoch in ihr verloren, nichts anderes als sie."

 

Dass Roquentin nach dieser Erkenntnis nicht mehr in der Schlammstadt sein Leben als Historiker fortsetzen wollte, konnte ich gut nachvollziehen. Am Ende (er)findet er sich neu als Romancier.

 

Albrecht Dürers Melencolia und Sartres Roquentin sind gezwungen innezuhalten. Niedergedrückt, aber mit wachem Blick erkunden sie nun die Phänomene dieser Welt. Sie stellen Fragen und finden Antworten. Die Erde ist keine Scheibe mehr. Vor der Melencolia liegt eine Kugel. Ein großer Polyeder trennt Himmel und Erde. Eine Wurzel ist nicht mehr Funktion, sondern grundlos existent wie der Mensch. 

Roquentin ergreift am Ende die Feder, um seiner Existenz einen Sinn zu geben. Ob es der Melencolia mit ihrem Zirkel gelingen wird, einen Kreis um die geteilte Welt zu ziehen, um so Himmel und Erde zu versöhnen?

 

Vera Seidl

 

 

 

 

 

The iron butterflys avatar
The iron butterflyvor 14 Jahren
Rezension zu "Der Ekel" von Jean-Paul Sartre

Die Lektüre E. M. Ciorans "Vom Nachteil, geboren zu sein" hat mich auf die grandiose Idee gebracht wieder einmal Jean-Paul Sartres "Der Ekel" aus dem Regal zu nehmen. Fasziniert habe ich nach wenigen Sätzen festgestellt, dass dieser philosophische Roman über den Historiker Antoine Roquentin für mich nichts an Intensität verloren hat. Antoines Tagebucheinträge sind auch nach zwanzig Jahren, so lange ist es her, seit ich "Der Ekel" zuletzt gelesen habe, fesselnd und erstaunlich frisch. Sartre hat seine Philosophie des Existenzialismus in eine unkomplizierte Sprache verpackt..."es war einmal ein armer Kerl, der hatte sich in der Welt geirrt. Er existierte, wie die anderen Leute, in der Welt der Parks, der Kneipen, der Handelsstädte, und er wollte sich einreden, er lebe woanders, hinter der Leinwand der Gemälde, mit den Dogen Tintorettos, mit den ernsten Florentinern Gozzolis, hinter den Seiten der Bücher, mit Fabrice del Dongo und Julien Sorel, hinter den Grammophonplatten, mit den langen, spröden, klagenden Jazzmelodien. Und dann, nachdem er lange genug den Idioten gemacht hat, hat er verstanden, hat er die Augen geöffnet, hat er gemerkt, daß es da ein Versehen gab: er saß in einer Kneipe, ausgerechnet, vor einem Glas lauwarmem Bier..." für mich immer noch eines der besten Bücher, die ich je gelesen habe. Absolut empfehlenswert.

PaulTemples avatar
PaulTemplevor 14 Jahren
Rezension zu "Der Ekel" von Jean-Paul Sartre

Bücher sind für mich immer dann besonders bereichernd, wenn man über das Gelesene ausgiebig nachdenken und auf sein eigenes Leben übertragen kann. Diese Kriterien erfüllt Sartre mit "Der Ekel" im hohen Maße.
Der philosophische Grundgedanke der Sinnlosigkeit und des Hinterfragens der eigenen Existenz wird von Sartre leichtverdaulich in einen Roman eingebettet. Dessen Protagonist, der dahinvegetierende Autor Antoine Roquetin, fühlt sich nach dem Scheitern seines letzten Schreibprojekts seiner Existenzberechtigung beraubt und hinterfragt zunehmend den Alltag, vor dem er sich mehr und mehr ekelt. Ihm fehlt die Strenge und strikte Abfolge von Befindlichkeiten, an deren Stelle oft nur eine zähe, teigige Masse ohne genaues Ziel getreten ist. So fühlt sich der Autor hilflos ins Leben geworfen, ohne einen direkten Sinn für seine Existenz vorzufinden. Doch letztlich scheint es einen Hoffnungsschimmer zu geben...

Ausgesprochen gut geschrieben und ein Klassiker der Literaturgeschichte!

Ein LovelyBooks-Nutzervor 15 Jahren
Rezension zu "Der Ekel" von Jean-Paul Sartre

Wer sich für Philosophie interessiert, aber schwere Kost nicht verträgt, ist bei diesem Buch absolut richtig. Nach einigen Werken von Nietzsche war Sartres "Ekel" wie Urlaub. Einfach geschrieben, wie aus dem Leben gegriffen und dennoch sehr präzise und schön formuliert. Es ist eines der besten Philosophie-Bücher, die ich je gelesen habe. Obwohl es ein Roman ist, versteckt sich sehr viel Existentialismus hinter der Fassade. Und das Ende des Buches fand ich einfach genial.

O
ottomanpaschavor 16 Jahren
Rezension zu "Der Ekel" von Jean-Paul Sartre

sehr gut

Ein LovelyBooks-Nutzervor 16 Jahren
Kurzmeinung: Dieser Roman zeigt in seiner ganzen Fülle die erdrückende Wirklichkeit, die die Wahrnehmung und das Verständnis des Menschlichen sprengende ...
Rezension zu "Der Ekel" von Jean-Paul Sartre

Eines der Bücher, welches mich noch lange im Nachgang beschäftigt hat.
Die Sichtweise auf die Welt, diese existenzialistische, auch minimalistische Sicht, die sich im Ekel widerspiegelt hat mich fasziniert und ist ein Paradebeispiel für das emotionale Nachempfinden dessen, was Existenzialismus bedeuten könnte.

S
Suza77vor 4 Jahren
Kurzmeinung: Großartig!
Ein LovelyBooks-Nutzervor 4 Jahren
Kurzmeinung: Das ewige Analysieren und Selbstreflektieren mag seinen Reiz haben, hier habe ich mich aber doch sehr gelangweilt
Vinschens avatar
Vinschenvor 5 Jahren
Kurzmeinung: Was ist Existenz? Antoine Roquentin hinterfragt jegliches Tun und Handeln bis ins kleinste Detail.
M
Milkjugvor 7 Jahren
Kurzmeinung: Ein Rausch!

Community-Statistik

in 525 Bibliotheken

auf 58 Merkzettel

von 26 Leser*innen aktuell gelesen

Was ist LovelyBooks?

Über Bücher redet man gerne, empfiehlt sie seinen Freund*innen und Bekannten oder kritisiert sie, wenn sie einem nicht gefallen haben. LovelyBooks ist der Ort im Internet, an dem all das möglich ist - die Heimat für Buchliebhaber*innen und Lesebegeisterte. Schön, dass du hier bist!

Mehr Infos

Hol dir mehr von LovelyBooks