Sigrid Undset: Nobelpreisträgerin aus Norwegen von 1928 – Frauen-Kultur-Archiv

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Literatur-Nobelpreisträgerinnen 1909-1989

Sigrid Undset: Nobelpreisträgerin aus Norwegen von 1928

Kindheit, Jugend und früher Werdegang

 

Sigrid Undset wurde am 20. Mai 1882 in Kalundborg, Dänemark geboren. Als sie zwei Jahre alt war, bekam der Vater, ein anerkannter Historiker und Archäologe, eine Berufung an die Universität in Oslo und die Familie zog dorthin. Dem Vater stand sie sehr nahe, er erschloss ihr die geheimnisvolle skandinavische Vorgeschichte. Nach langer Krankheit starb er früh, im Jahr 1893, da war sie elf Jahre alt. Die Familie geriet in finanzielle Probleme, die inzwischen drei Undset-Kinder erhielten jedoch durch eine engagierte Schulleiterin Schulgeldfreiheit. Das Mädchen Sigrid war in der Schule nicht glücklich und entschied sich mit 14, nicht das Abitur anzustreben, sondern in eine Handelsschule zu wechseln und als Angestellte zu arbeiten. Sie arbeitete 10 Jahre lang bei einer großen Firma in Oslo, um ihre Familie unterstützen zu können. In ihrer Freizeit beschäftigte sie sich mit den Literaturen und Kulturen Skandinaviens und sie schrieb selbst. Noch während ihrer Arbeit als Büroangestellte erschienen zwei Bücher von ihr.

Moderne Beziehungsromane

Sigrid Undsets literarisches Debüt ist der 1907 erschienene Roman „Fru Martha Oulie“, dessen Titelheldin ein außereheliches Verhältnis beginnt, um ihrer tristen und unbefriedigenden Ehe zu entfliehen. Die Hoffnungen, die die Protagonistin an dieses Verhältnis knüpft, werden aber enttäuscht. In dieser Frauengestalt lässt sich ein Muster für viele weitere Undset-Romane erkennen.
Die auf ihren Erstlingsroman folgenden Werke wie z.B. „Jenny“ (1911) und „Vaaren“ (1913, „Frühling“) spielen in der Gegenwart stellen den Menschen in all seinen Gefühlsnuancen dar. Der Mensch ist handelndes Subjekt und für sein Lebensglück verantwortlich, das er Undsets Meinung nach erreichen kann, wenn er sich einem größeren Ganzen aus freiem Willen unterordnet. Sie bricht damit mit der bisherigen norwegischen Tradition des Naturalismus, der den Menschen im Wesentlichen als durch Herkunft und Umwelt determiniert angesehen hatte. In keinem anderen Roman als in „Frühling“ gelingt das Liebesglück in der Ehe ohne die Preisgabe von eigenen, elementaren Wünschen. Die Romane fanden ein großes Lesepublikum, da sie in der Darstellung der Wünsche und Interessen moderner Frau sehr klar und einfühlsam war.

Neues Genre: Mittelalter-Romane mit moderner Psychologie

In den Romanen zwischen 1920 und 1925 war sie dem Historismus verpflichtet, der ein gesteigertes Interesse an der Geschichte Skandinaviens entwickelt hatte, bedingt durch die norwegisch-schwedische Unionsauflösung von 1905.  Diese Romane siedelte sie im 13. und in der 1. Hälfte des 14. Jahrhunderts an und religiös begründete Werte wie Ehrfurcht und Treue wurden zu Leitmotiven. Das psychologisch-feinfühlige Darstellen der Personen war für Undset in diesen Romanen genauso entscheidend wie in ihren zeitgenössischen Werken. Auch die innere Problemwelt der Charaktere in der Romantrilogie „Kristin Lavransdatter“ (1920-1922, „Kristin Lavranstochter“) und in „Olav Audunssøn i Hestvikken“ zusammen mit „Olav Audunssøn Og Hans Børn“ (1925) ist unverändert geblieben. Sigrid Undset geht davon aus, dass besonders zwischen Mann und Frau immer schon die gleichen Probleme existierten.
Kristin Lavranstochter, die Protagonistin der Romantrilogie, erfährt die Ehe als eine Institution fernab der Liebe und des Aufgehobenseins und wird schließlich Nonne, die ihr Leben bei der Bekämpfung der Pest opfert. Kristins tragisches Schicksal wird durch ihren Tod für andere im Rahmen ihrer Tätigkeit als Nonne erst als sinnvoll bewertet. Da sich ihr Leben in den katholischen Bezugsrahmen einordnen lässt, macht dieses rückwirkend einen Sinn. Der Katholizismus ist in diesem Werk wie in „Olav Audunssøn“ die zentrale sinnstiftende Instanz.
Auch die Figur Olav Audunssøn findet den Weg von einem Heiden zu einem gläubigen Christen. Treue ist im heidnischen Wertesystem wie im christlichen Glauben verankert, jedoch wird diese von seiner Frau, indem sie sich von einem anderen Mann verführen lässt, gebrochen und Olav sieht sich veranlasst, am Verführer Rache zu nehmen. Das zu dieser Zeit für die skandinavischen Länder neue Christentum bedeutet für Olav, dass er sich durch den Mord mit Schuld belädt. Erst im Erkennen dieser Schuld und in seiner Sühne kann er eine Form der ‚Wiedergutmachung‘ erreichen.

Die Romane vollziehen eine Gratwanderung zwischen höchster Genauigkeit in geschichtlicher Darstellung und Kenntnis vom konkreten gesellschaftlichen Zusammenleben auf der einen Seite und subtilem Verständnis für Gefühle ihrer Protagonisten auf der anderen Seite. Dass Undset in den im Mittelalter spielenden Romanen teilweise sehr moderne Problemfelder darstellt, wie das Ringen von Frauen um Selbstbestimmung, wurde als dem Genre historischer Roman nicht angemessen bewertet.

Nobelpreis 1928

Sigrid Undset bekam 1928 im Alter von 46 Jahren den Literatur-Nobelpreis für ihr Gesamtwerk, die psychologischen Beziehungsromane und die Mittelalter-Romane und war damit nach Selma Lagerlöf (1909), die 2. Skandinavierin, der der Nobelpreis zuerkannt wurde. Sie setzte sich gegen die in dem Jahr auch erwogene Ricarda Huch, gegen Concha Espina aus Spanien und gegen Olav Duun, ebenfalls aus Norwegen durch. (1)

 

Die Schwedische Akademie hob die bestechende Genauigkeit der Charakterdarstellung und ihren so überbordenden Erzählstil positiv hervor. Es entfalte sich eine große Spannbreite der Darstellung zwischen den feinfühligen, nuanciert poetisch komponierten Charakteren und deren drückender und herber Lebenswelt. in der sie angesiedelt sind. Darin liege die Bedingung für den Kompromiss zwischen Gegenwart und Vergangenheit. Undset gelinge es, menschliche und religiöse Themen eindringlich in den monumentalen Epen darzustellen.

 

Der Laudator Per Hallström, der Präsident des Nobelkomitees, führt in seiner Verleihungsrede aus, dass die Verknüpfung von geschichtlich fundierter und genauer Beschreibung früher gesellschaftlicher Zustände mit der Einfühlung in die Gefühlswelt der Protagonisten aus dem Horizont der Moderne gelungen und preiswürdig sei. Allerdings sei es unhistorisch, für das Mittelalter die „Frauenfrage“ mit heutigen Aspekten zu behandeln. Demgegenüber erscheint ihm „das religiöse Leben <…> mit ergreifender Wahrheit dargestellt“. (2) Zusammenfassend lautet das Urteil der Akademie: „Auf der vollen Höhe ihres Talents empfängt Sigrid Undset den Nobelpreis für Literatur und die Ehrung gilt einem poetischen Genie, das seine Wurzeln nur in einem wahrhaft großen und mit ungewöhnlicher Kraft ausgestatteten Geist haben kann.“ (3)

Inhaltliche Rückkehr zum modernen Menschen

Nach dem Abschluss der umfangreichen Mittelalter-Romane wandte sich Sigrid Undset wieder dem modernen Menschen zu. Das Religiöse spielt wie schon in den historischen Romanen nun eine wichtige Rolle; sie war 1924 zum Katholizismus konvertiert. So befindet sich der Protagonist ihrer beiden Werke „Gymnadenia“ (1929) und „Den Braendende Busk“ (1930, dt. „Der brennende Busch“), Paul Selmer, als Agnostiker auf dem Weg zum aktiven Glauben an Christus. Undset setzt sich in beiden Romanen auch mit der Frage auseinander, welche Position die Kirche gegenüber dem beherrschenden Fortschrittsglauben der Moderne einnehmen sollte.

 

Exil und Rückkehr

In ihrem Aufsatz „Fortschritt, Rasse, Religion“ von 1935 setzte sich die Autorin kritisch und kämpferisch mit dem Nationalsozialismus auseinander. Die Besetzung Norwegens durch die Nazis im Frühjahr Jahr 1940 zwang sie 58jährig mit ihrem jüngsten Sohn zum Teil auf Skiern über die Berge nach Schweden zu fliehen. Von dort gelangte sie über Russland in die USA, wo sie bei Zeitungen und für den norwegischen Informationsdienst aktiv gegen das Dritte Reich tätig war. So versuchte sie dem Nordischen Mythos des Nationalsozialismus die historische Grundlage zu entziehen. In ihrem Buch „Return to the Future“ (1942) berichtet sie von ihrer Flucht vor den Deutschen.
Am 25.10.1945 veröffentlichte sie in der „Neuen Zeitung“ einen Artikel, in dem sie u. a. von der Kollektiv-Schuld des deutschen Volkes in dezidierter Form sprach. Für Karl Jaspers bedeutete ihr Beitrag einen Anstoß, sich öffentlich an der Diskussion um die Kollektivschuld der Deutschen zu beteiligen. Er widersprach Undset in dem Artikel „Die Antwort an Sigrid Undset“ vom 4.11.1945 ebenfalls in der „Neuen Zeitung“. Mit einer Kollektivschuld könne kein Volk überleben.
Nach fünfjährigem Exil kehrte sie erschöpft nach Norwegen zurück und konnte auf literarischem Gebiet nur noch die Biographie über Katharina von Siena fertig stellen, die sie in den USA verfasst hatte. 1949 ehrte sie der norwegische König Haakon VII. durch die Verleihung des Großkreuzes des Ordens des Heiligen Olav. Sigrid Undset starb wenig später am 10. Juni 1949 im Alter von 67 Jahren in Lillehammer.

 

(1) Vgl. Kjell Strömberg: Kleine Geschichte der Zuerkennung des Nobelpreises an Sigrid Undset. In: Sigrid Undset: Frühling. Nobelpreis für Literatur 1928 Norwegen. Zürich: Coron-Verlag o. J., S. 10.

(2) Aus der Verleihungsrede von Per Hallström, gehalten am 10.12.1928. In: Sigrid Undset: Frühling. Nobelpreis für Literatur 1928 Norwegen, a.a.O. S. 19.

(3) Ebd. S. 22.