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Keane – Kritik

Aus radikaler Nähe verfolgt Lodge Kerrigan die Odyssee eines psychisch zerrütteten Vaters durch die Straßen von New York. Mit Keane ist ihm ein drastisch situatives Kinostück gelungen, das dem Zuschauer genauso wenig Halt gewährt wie seiner fragilen Hauptfigur.

Keane

William Keane (Damian Lewis) entspricht einem Figurentypus, den man im filmischen Kosmos von Lodge Kerrigan immer wieder antrifft. Die Werke des New Yorkers beschäftigen sich stets mit einem am Rande der Gesellschaft wandelnden Einzelgänger, einer verlorenen Seele, die in private Traumata verstrickt ist und von ihnen verschluckt zu werden droht. Clean, Shaven (1993), Kerrigans Debüt, war das markerschütternde Porträt eines Schizophrenen, der auf der Suche nach seiner Tochter vielleicht oder vielleicht nicht zum Kindermörder wird. Die Prostituierte aus Claire Dolan (1998) kämpft beharrlich gegen die eigene Betäubung, der die sterilen architektonischen Oberflächen New Yorks fortwährend Ausdruck verleihen. Kerrigans Charakteren mangelt es im geistigen wie im sozialen Leben an Fixpunkten, die ihre Existenz und ihren Realitätsbezug stabilisieren könnten. Es sind Figuren, denen man im Alltag und wohl auch im Kino selten derart nahe kommt und womöglich gar nicht allzu nahe kommen möchte. Kerrigans Filme jedoch stoßen den Zuschauer auf unterschiedliche, höchst intensive Weise in eine kompromisslose Intimität mit ihnen und verweigern jegliche Sicherheit einer Distanz.

Keane

Kerrigans dritter Spielfilm Keane (2004) knüpft thematisch an seinen Erstling an und schleudert uns gleich zu Beginn mitten in eine Szene am New Yorker Busbahnhof Port Authority: William Keane sucht seine Tochter, die dort vor einem halben Jahr unter seiner Obhut verschwand. Fieberhaft vorangetrieben hält er Passanten an, attackiert sie fast mit einem Zeitungsartikel, in der Hoffnung, jemand könne das Mädchen gesehen haben. Recht schnell verdeutlicht sich das ganze Ausmaß der psychischen Labilität des Mannes, die aber nie pathologisiert wird. Zwiegespräche wechseln sich ab mit explosivem Kontrollverlust, dann wieder verfällt er in stumme Lethargie.

Geradezu mechanisch zieht es Keane im Film immer wieder an den Ort des vermeintlichen Verbrechens, an dem er die Geschehnisse zu rekonstruieren versucht. Gleichsam erfährt man denkbar wenig über seine Vergangenheit, zweifelt die Existenz der verlorenen Tochter zeitweise sogar an. Kerrigan psychologisiert nicht, unsere Annahmen über Keane bleiben so instabil wie sein Geisteszustand und fallen wiederholt in sich zusammen. Keane ist Situationskino im besten Sinne: Ein unberechenbares filmisches Erlebnis, das sich auf einzelne Momente konzentriert, deren Davor und Danach erst einmal eine untergeordnete Rolle spielt.

Keane

Kerrigan lässt die mentale Verfassung seiner Hauptfigur zudem den Rhythmus des Films diktieren. Die Handkamera ist Keanes ständiger Begleiter, jagt ihm unablässig hinterher und reproduziert seine Rastlosigkeit, gibt aber niemals vor, in den Kopf, den nahezu jede Einstellung anvisiert, eindringen zu können. Fanden die Bewusstseinsstörungen des Protagonisten aus Clean, Shaven noch auf der Bild- und Tonebene ihre Entsprechung, so dass sich der Zuschauer geradewegs im Innern der gepeinigten Psyche wieder fand, bleibt man hier außen vor. Dementsprechend übernimmt die Kamera in Keane so gut wie nie eine subjektive Perspektive.

Maßt sich Kerrigan niemals an, den psychischen Zustand des Protagonisten aus der ersten Person erfahrbar machen zu können, so mündet seine Strategie, sich lediglich entschlossenen, unverwandten Blickes an Keanes Fersen zu heften, keinesfalls im Voyeurismus, noch zielt sie auf Affekte. Für den Zuschauer steht die erdrückende Nähe zu der Hauptfigur in einem stetigen Spannungsverhältnis zu der Zweifelhaftigkeit von Keanes Charakter, der sich wiederholt leichter Identifikation versperrt. Kerrigans künstlerisches Konzept besitzt demnach eine ethische Dimension, erstickt er doch jegliche Bildung von Werturteilen über den Protagonisten im Keim und akzeptiert diesen in seiner ganzen Undurchlässigkeit. Eine Haltung des Filmemachers, die ebenso die Fundamente seiner rigorosen Ästhetik bestimmt.

Keane

Trotz aller Entfremdung hält sich im letzten Teil des Films das Misstrauen des Zuschauers gegenüber Keane die Waage mit einer gewissen Form von Empathie, wenn der Protagonist in einem vorläufigen, wenngleich stabilisierend wirkenden Familiengefüge die fürsorgliche Vaterrolle für ein junges Mädchen (Abigail Breslin) übernimmt. Und wie zuvor in den Filmen Kerrigans verweist ein Kind am Ende auf die Aussicht nach einer potentiellen Erlösung oder Absolution. Was zuletzt in Keane noch ganz nebenbei bleibt, ist ein Eindruck der urbanen Wirklichkeit von New York, die sich als genauso gnadenlos erweist wie das zerrüttete geistige Labyrinth des Protagonisten. Kerrigans meisterhafte Version einer filmischen Tour de Force sucht im zeitgenössischen amerikanischen Kino ihresgleichen.

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