Charly Hübner, „Mittagsstunde“ und das Schweigen zwischen den Generationen

Charly Hübner, „Mittagsstunde“ und das Schweigen zwischen den Generationen

Die Gesellschaft ist in Unruhe, vor allem auf dem Land ändert sich das Leben. Charly Hübner im Gespräch über seine Rolle als Heimkehrer im Dörte-Hansen-Film.

Der Schauspieler Charly Hübner
Der Schauspieler Charly HübnerChris Emil Janßen

Dörte Hansens Roman „Mittagsstunde“, 2018 erschienen, erhielt viel Lob und gehörte 2018 und 2019 zu den meistverkauften Büchern des Jahres. Nun gibt es eine Verfilmung durch den Regisseur Lars Jessen, mit Charly Hübner in der Hauptrolle. Hoch im Norden spielt der Film, Charly Hübner ist in Mecklenburg aufgewachsen. Wir sprachen über das Zuhausesein, ungelöste Fragen der Gesellschaft sowie altes und rechtes Denken.

Berliner Zeitung: Den Film „Mittagsstunde“ trägt ein angekratztes Gefühl der Zugehörigkeit: Ingwer Feddersen, Historiker an der Universität Kiel, kehrt zurück zum Landgasthof seiner Eltern. Was findet er, der Städter, dort – die Heimat? Die Ruine seiner Kindheit?

Charly Hübner: Die Herkunft. Ingwer geht dahin, wo die sind, die als seine Familie gelten, wo sein Leben begann. Dafür hat er Bilder und Gefühle. Er erlebt sie aber in einer Verschiebung durch die Gegenwart. Heimat zu sagen, finde ich schwierig. Das ist so ein mythologischer, beladener, letztlich unklarer Begriff, dem ich gern eine Pause schenken würde. Ich spare mir das Wort spätestens seit „Wildes Herz“.

Was hat Ihr Film über die Band Feine Sahne Fischfilet damit zu tun?

Da hieß es, es sei ein linker Heimatfilm. So etwas hatte ich nicht im Sinn. Es ist ein Film über linke Zeitgenossen, die sich in ihrem Leben, in ihrer Lebensmitte, um ihr bestmögliches Leben kümmern und dafür ackern.

Sind die Verhältnisse in „Mittagsstunde“ typisch norddeutsch?

Eher typisch ländlich. Im Schwarzwald oder in Ostfrankreich gibt es auch diese Orte, die zunehmend entseelt sind. Nicht einmal mehr Kühe stehen da herum. Der Takt des Dorfes, wenn man sich auf den einlässt, dann wird man zum Nichtstädter. Man denkt nicht mehr jeden Tag über die Garderobe nach, man ist nicht mehr in diesen bürgerlichen Kommunikationsmechanismen, man hat relativ überschaubare Wege, da ist ganz viel Natur mit im Spiel. Und dann ist da dieser Hof, der eine eigene Infrastruktur hat, da sind die viel zu kleinen Gänge in dem Haus, in dem Ingwer wie ein Riese herumwatschelt.

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Christine Schroeder
Zur Person
Charly Hübner (hier in der Rolle als Ingwer), geboren in Neustrelitz, in Feldberg-Carwitz aufgewachsen, arbeitete zunächst am Landestheater Neustrelitz, studierte an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch in Berlin, war am Gorki Theater und an der Schaubühne engagiert, am Schauspielhaus Frankfurt am Main, schließlich lange am Deutschen Schauspielhaus Hamburg, wo er 2015 mit dem Gertrud-Eysoldt-Ring geehrt wurde. Einem breiten Publikum wurde er 2006 durch den oscarprämierten Film „Das Leben der Anderen“ bekannt. Fast zwölf Jahre spielte er im Rostocker „Polizeiruf-110“ neben Anneke Kim Sarnau. Sein Dokumentarfilm „Wildes Herz“ gewann mehrere Preise.

Gibt es Ähnlichkeiten zwischen dem, was im Film von Schleswig-Holstein erzählt wird, zu Mecklenburg, wo Sie herkommen?

Es ist härter, rauer als bei uns. Der Süden Mecklenburgs hat etwas Verwunschenes durch die Seen, die Hügelkuppen und Wälder, das ist viel weicher. Die Geest nördlich von Husum, wo wir gedreht haben, ist eine ganz gerade geschnittene Platte, direkt unterm Wind. In dieser Gegend, in der Dörte Hansen mich auch herumführte, herrscht eine gewisse Schroffheit, die ist nicht unherzlich, aber es ist alles singulärer. 

Kann man die Sprache vergleichen, das Plattdeutsch?

Das ist ganz anders als das, was meine Mutter sprach, hat eine andere Syntax, mehr Teilsätze. Muttern hat mit ihrer Herkunftsfamilie komplett Platt geschnackt. Und oben auf Hiddensee, bei der Nenntante, war es ein anderes Platt. Die mussten sich manchmal auf Hochdeutsch die Wörter erklären. Aber beides ist viel einfacher und langsamer als das, was im Nordwesten gesprochen wird. Die Sätze werden ganz schnell weggejagt.

„Mittagsstunde“: Dr. Ingwer Feddersen (Charly Hübner, r.) kommt in die Kneipe des alten Sönke (Peter Franke), wo er aufgewachsen ist. Ein Stammgast ist da: Paule Bahnsen (Dieter Schaad, l.).
„Mittagsstunde“: Dr. Ingwer Feddersen (Charly Hübner, r.) kommt in die Kneipe des alten Sönke (Peter Franke), wo er aufgewachsen ist. Ein Stammgast ist da: Paule Bahnsen (Dieter Schaad, l.).Christine Schroeder

Wie war das, dieses Platt für die Rolle zu lernen? 

Wie ein Lied, so, wie man Songs übt. Dörte Hansen hat uns alles in Audiodateien vorgeführt, danach haben wir gelernt. Wir wollten zuerst auf Platt drehen, weil man die Szenen anders spürt, wenn man in dieser schnellen Sprache unterwegs ist. Man kommt man da in eine Art Akrobatik rein.

Wurde also jeder Take zweimal gedreht?

Ja, wir haben praktisch zwei Filme gemacht.

War das nicht sehr anstrengend?

Nee, für mich nicht. Normalerweise macht man ja ohnehin vier, fünf Takes pro Einstellung. Ich habe Spaß an Sprache. Nach dem dritten Tag hatte ich mich da eingefunden, sie war wie mein innerer Soul.

Was bedeutet es Ihnen, dass es eine Romanverfilmung ist?

Das hat ja letztlich nur Auswirkung auf den Arbeitsprozess. Ich kannte zuerst das Drehbuch – Catharina Junk hat sich für Ingwer in der Gegenwart als Haupterzählstrang entschieden. Die Struktur ist klassisch griechisch-tragisch, innerhalb dessen gibt es den Erinnerungsraum. Der Roman funktioniert ganz anders, mit einer Zweigleisigkeit von Marret und Ingwer. Wie eine Sphinx erzählt eine säuselnde Stimme, bei Ingwer sanft ironisch, bei Marret eher mit Anteilnahme, zwischen Geist und Emotion wandelnd, die Verwerfungen des 20. Jahrhunderts im Westen. Es ist viel, was da alles auftaucht: der Krieg, die Gefangenschaft in Magnitogorsk, die heimliche Verbindung mit dem Lehrer, aus der ein Kind entsteht, das dann seltsam wird. Dann kommt dieser Amerikanismus nach dem Krieg und eines Tages die Flurbereinigung, die Veränderungen in der Landwirtschaft. Das knüpft Dörte Hansen wie ein großes Wandbild, wie einen Teppich, und stellt dabei eine Melancholie her. Das hat mich sehr beeindruckt.

War das eine Hilfe, dieser Rolle mit relativ wenig Text mehr Tiefe zu geben?

Unbedingt. Für mich war das der Aufhänger, und dafür brauchte ich den Roman. Er lieferte sozusagen das Panorama. Es gibt so eine Szene, in der Ingwer es nicht schafft, einen Einkaufswagen beim Supermarkt zu nehmen, erinnern Sie sich?

Er ruckelt da wütend herum, ja.

Die habe ich mir als Nachdreh gewünscht. Es ist eine der zwei Szenen im ganzen Roman, in denen Ingwer aggressiv ist. Sie funktioniert als Symbolbild: Bitter und melancholisch wirkt das, wie er in seinem unterdrückten Ärger derart falsch zupackt, dass sich alles verhakt. Ingwers Schulfreund Heiko kommt mit dem Pick-up vorbei und fragt gemütlich: Naa, alles klaar? Nichts ist klar. Er ist seit einem halben Jahr da und nichts läuft. Und was sagt Ingwer? – „Weißt ja!“

Das würde so nicht in Berlin spielen können.

Erfahrungsgemäß eher nicht, da würde viel mehr Sprache eingesetzt, vermute ich: „Scheiße mit den Körben hier, wa. Und die Alten sitzen nur rum und meckern, ick kann dir sagen, eh.“ – Aber auch in jeder anderen Großstadt würde das über Worte laufen.

Neben den Stadt-Land-Unterschieden trägt der Film die Frage des Umgangs mit den alten Eltern als zweites großes Thema mit sich. Ist es ein Problem von Ingwers Generation, der heute um die 50-Jährigen, oder eher ein Problem der Gesellschaft?

Ein Problem der Gesellschaft, ein Riesenthema, bei dem man erst einmal entscheiden muss, welchen Aspekt man debattieren will. Im konkreten Fall habe ich Ingwer dafür bewundert, wie er sich aus einem unterbewussten Schuldgefühl dafür entscheidet, zu den Alten zu gehen. Da handelt er fast wie Ödipus, der sich dem Fluch entgegenstellen will.

Wie Ödipus, weil Sie sagten: klassisch griechisch-tragisch? Ich hatte den Eindruck, dass es eine bewusste Entscheidung ist: Er hat den Ort einst verlassen, wo er den Gasthof übernehmen sollte, nun sitzen die Alten hilflos da.

D’accord, er entscheidet sich bewusst. Aber er hat dieses Grundbauchweh, das ihm zusetzt, und er ahnt, das eine könnte mit dem anderen zu tun haben. Mit 18 hat er gesagt, er geht zum Studieren nach Kiel. Dann ist er geblieben und mümmelte sich 30 Jahre weg. Fragen wir jetzt: Liegt es an der Leistungsgesellschaft, warum die Großfamilien nicht mehr funktionieren? Ich denke, erst einmal muss das jeder für sich selbst herausfinden, wie weit er Verantwortung übernehmen kann. Was ich auf der philosophischen Ebene vermisse, ist der Dialog mit den Alten. Gerade jetzt, da die Verwerfungen in der Gesellschaft so deutlich werden. Und wieder ein Krieg herrscht, gar nicht so weit weg von uns, und wieder Ideologie versus Individualität gestellt wird.

Verstärkt das Norddeutsche noch die Sprachlosigkeit? Diese Leute, die glauben, mit einem Murmeln ist schon viel gesagt, die diskutieren doch nichts aus.

Im Sinne des Klischees stimmt das schon. Dieses Schroffe hat Dörte Hansen ja sehr beschäftigt, und wir wollen es auch zeigen. Aber in mir sträubt sich viel dagegen, das Problem nur bei den Nordis zu sehen. Das Schweigen zwischen den Generationen treffen wir genauso in anderen Regionen.

Bleiben wir im Norden: Gerade jährte sich zum 30. Mal der Anschlag auf das Ausländerwohnheim Sonnenblumenhaus in Rostock-Lichtenhagen. War das eine Erschütterung, aus der die Leute gelernt haben? Oder zeigt Ihre Erfahrung mit der Regie des Films über die linke Band Feine Sahne Fischfilet, dass weiter viele Vorurteile existieren?

Ich glaube, man hat nichts gelernt. Und ich glaube auch, dass das keine Vorurteile sind, sondern Überzeugungen. Die gehen zum Teil weit zurück, in die Nachkriegszeit, als die Entnazifizierung doch für viele nur formal ablief. Wir waren damals, 1992, mit dem Neustrelitzer Theater gerade in Mecklenburg auf Tournee und waren total geschockt. Obwohl Neustrelitz selbst eine krasse Neonaziszene hatte. Und als ich mit Sebastian Schulz die Dokumentation gedreht habe, überlegten wir auch, wie wir das zeigen. Es waren nicht nur die sogenannten Glatzen, die da standen und grölten. Es waren auch Bürger in Fußballtrikots, eben noch ganz normale Fans, die sich auf diesem Nationalismus-Gedanken festgeritten haben, die fordern, ihr deutsches Land soll nur den Deutschen gehören. Und diese Haltung hat sich nicht aufgelöst.

In Mecklenburg gibt es mehrere Ortschaften mit rechten Siedlern, Bernhard Schlink hat das in seinem Roman „Die Enkelin“ thematisiert. Warum gerade dort?

Ist das so? Die findet man doch auch in Nordhessen, Niedersachsen und in Thüringen. Vielleicht fällt es in Mecklenburg besonders auf, weil da weniger Menschen leben. Es war ein Prinzip der NPD und der anderen rechten Gruppierungen, nach dem Mauerfall in die strukturschwachen Gegenden zu gehen, um dort Graswurzelpolitik zu betreiben. Man erreicht ja viel schneller etwas, wenn man sich auf dem Land niederlässt und mit den Leuten in Kontakt kommt, als wenn man in einer Großstadt an die Türen klopfen muss.

Die West-Importe der Rechtsradikalen in den 90er-Jahren beschreibt auch der Schriftsteller Clemens Meyer. Da muss ich noch kurz nach dem Kinofilm fragen, in dem Sie zum Jahresende zu sehen sein werden, „Die stillen Trabanten“ nach Erzählungen von ihm. Geht es da auch um Herkunft?

Ich habe den Eindruck, dass es Clemens um ein Zeugnisablegen darüber geht, was Biografie ausmacht, auch die eigene. Er erzählt von seiner erlebten Zeit. Bei dem Film war ich sehr froh, dass Figuren vorkommen, die sonst in den mittelständischen und großbürgerlichen Kontexten der Unterhaltungsindustrie nicht auftauchen dürfen, nämlich Nachtwächter, Reinigungskräfte, Kioskbesitzer und diese „Geister“ der Emigration, die in unser Land reinkommen. Die einen sagen, das ist doch schon immer so, die Menschen mischen sich eben. Und andere sagen, die haben hier nichts verloren.

Mit „Wildes Herz“ porträtierten Sie eine Band aus dem Norden. Inwieweit setzt die Serie über das Wacken-Festival, an der Sie jetzt arbeiten, das fort?

Da spiele ich ja nur mit. Und es ist eine fiktionale Geschichte. Interessant finde ich daran, wie es passieren konnte, dass in der BRD Ende der 80er-Jahre in einem der kleinsten Dörfer dieses Landes so ein großes Heavy-Metal-Festival entstand. Man konnte dort Angestellter bei Edeka werden und bis zur Rente bleiben. Oder man wollte Party und Liebe machen und mit lauter Musik die Leute beglücken. Eine Frage der Entscheidung.

Letztlich rettet jener Schulfreund Heiko in „Mittagsstunde“ auch mit Musik und dem Line Dance den Gasthof.

Ja. Das ist als Sinnbild so toll: Vor 70 Jahren kamen die Briten und Amerikaner, am Ende ist es wieder die amerikanische Kultur, die noch mal was Neues bringt. Worüber ich immer stolpere bei den Gesprächen zur „Mittagsstunde“, ist diese Wehmut nach hinten. Es muss auch mal etwas vergehen können. Wo säßen wir ohne Veränderung?