FormalPara Sprache

nordamerikanisch

FormalPara Übersetzung

Roderick Hudson (1983)

FormalPara Übersetzer/in

W. Peterich

FormalPara Hauptgattung

Epik / Prosa

FormalPara Untergattung

Roman

In dem 1876 erschienenen Roman entdeckt der wohlhabende, alleinstehende Rowland Mallet in den ersten Skulpturen des blutjungen Roderick Hudson so viel künstlerische Begabung, dass er beschließt, den begeisterungsfähigen Jüngling aus der langweiligen Rechtsanwaltslehre zu befreien und nach Rom mitzunehmen. Vor der Abreise aus der puritanisch-kunstfremden Provinzstadt Northampton verlobt sich Roderick überstürzt mit der prinzipienfesten Mary Garland. Unter der Patronage des besonnenen älteren Freundes und im Feuer der ersten Begeisterung gelingen ihm in Rom einige viel versprechende Werke. Doch er ist impulsiv, eitel und ichbezogen; seine von den frühen Erfolgen geweckte Lebenslust lenkt ihn von seinen künstlerischen Ambitionen ab (eine Kontrastfigur ist der keineswegs geniale, aber hartnäckig arbeitende amerikanische Maler Singleton) und lässt ihn nach immer neuen Zerstreuungen suchen, z. B. in Baden-Baden.

Auslösendes Moment dieser Entwicklung ist Rodericks Bekanntschaft mit Christina Light, einem launenhaften Mädchen von klassischer Schönheit, der unehelichen Tochter eines heruntergekommenen Adligen und einer Amerikanerin, die für Christina ehrgeizige Heiratspläne hegt. Durch eine einseitige Erziehung an jeglicher Selbstentfaltung gehindert, erhofft sich Christina von einer starken Persönlichkeit die Befreiung aus ihren Fesseln. Während Roderick sie immer leidenschaftlicher begehrt, durchschaut sie bald seinen unsteten Charakter. In Mallet dagegen glaubt sie, mehr männliche Kraft zu erkennen, stößt bei ihm jedoch auf kaum verhohlene Verachtung. Als Mrs. Hudson und Mary Garland auf Mallets Betreiben hin Roderick in Rom besuchen, ist dessen künstlerischer und moralischer Niedergang bereits besiegelt. (James selbst erklärte später, er habe die einzelnen Phasen dieses Verfallsprozesses nicht klar genug herausgearbeitet.) Roderick vernachlässigt seine Verlobte in einem Maß, dass Mallet für seine eigene, kaum eingestandene Neigung zu Mary Hoffnung sieht.

Jetzt beobachtet er Rodericks „großes Talent zur Selbstvernichtung“, das seine hochfliegenden Erwartungen in quälende Zweifel verwandelt hat, mit einer gewissen Genugtuung. Christina, der eine glanzvolle gesellschaftliche Stellung als einziger Ausweg erscheint, heiratet den Prinzen Casamassima. (Ihr weiteres Schicksal schildert James in The Princess Casamassima, 1886; Prinzessin Casamassima, 1954). Die Wirkung auf Roderick ist vernichtend: Nach einer letzten Begegnung in den Alpen stürzt er sich von einer Klippe. Mary Garland scheint sich nach der Rückkehr nach Amerika ganz ihren romantischen Erinnerungen an Roderick hinzugeben; Mallet hingegen sieht sich um die Früchte seiner Anteilnahme betrogen.

Die Erzählperspektive dieses ersten bedeutenden Romans von James wird durchgehend von Rowland Mallets Bewusstsein bestimmt, von der „ganzen Unklarheit, Ratlosigkeit und Unruhe“ eines „ziemlich begrenzten Geistes“ (James im Vorwort zur New Yorker Ausgabe, 1907). Das Drama des ikarushaft aufsteigenden, aus echter Berufung ins Dilemma zwischen Leben und Kunst stürzenden und trotz äußeren Beistands sich selbst vernichtenden Roderick wird durch das parallel verlaufende Drama Mallets – von James als das eigentliche Thema bezeichnet – akzentuiert. Roderick ist weder dem Ansturm der Leidenschaft noch der neuen Umwelt gewachsen. Allerdings bedeutet Europa für ihn keine Bedrohung seiner amerikanischen Unschuld, wie für spätere Protagonisten von James, sondern ein offenes Feld der Prüfungen. Mallet, der parasitär aus der Substanz eines Anderen Nahrung zieht, scheitert ebenso wie sein lebensgieriger Protegé.

Darin, wie James die beiden Motive der Lebensfurcht und des Lebenshungers zueinander in Spannung setzt, wie er sie einander erhellen und ironisch kommentieren lässt, deutet sich seine verblüffend rasche Entwicklung zum Romankünstler an. In seinem ganzen Romanwerk finden sich wenige Figuren, die so scharf konturiert und so originell sind wie Christina und Roderick. Mit ihnen verglichen, wirken die anderen Figuren, besonders Mary Garland, schemenhaft – Mallets Vagheit allerdings ist durch die Perspektive einleuchtend begründet. Thematisch ist der Roman so fest im Psychologisch-Exemplarischen verankert, dass weder die Neigung zur Überbetonung melodramatischer Elemente noch die deutliche Anlehnung an andere Autoren – Nathaniel Hawthorne, Ivan Turgenev, Charles Dickens und George Sand – seine Gestaltungskraft mindern. Dank personaler Erzählperspektive und Themenparallelisierung erreicht James bereits in diesem frühen Roman jene aktive Wechselwirkung zwischen Leser und Text, um deren Intensivierung er fortan bemüht blieb.