„Hidden Valley Road“: Das Rätsel der sechs kranken Söhne

„Hidden Valley Road“: Das Rätsel der sechs kranken Söhne

Sechs Söhne der Familie Galvin aus den USA erkrankten an Schizophrenie. Forscher studieren die Galvins seit Jahrzehnten. Nun erzählt ein Buch ihre Geschichte.

Don und Mimi Galvin mit allen zwölf Kindern bei der Promotionsfeier des Vaters, 1969.
Don und Mimi Galvin mit allen zwölf Kindern bei der Promotionsfeier des Vaters, 1969.mit freundlicher Genehmigung von Lindsay Galvin Rauch und Margaret Galvin Johnson

Als Erster wird der älteste Sohn krank. Donald, der immer alle Erwartungen seiner Eltern erfüllt hatte, in der Schule, im Sport, in der Kirche. Und seine jüngeren Brüder verprügelt. Aber das, redeten sich die Eltern ein, war doch normal. Gerade in einer so großen Familie. Zehn Jungs, die sich eben mal in die Haare bekommen, und zwei Mädchen. Sie leben im mittleren Westen der USA.

Die jüngste Tochter ist noch ein Kleinkind, Mitte der 1960er-Jahre, als Donald in der Uni in ein Lagerfeuer läuft. Mitten hinein. Er zerschmettert Geschirr, verfällt in religiöse Monologe, die auch in einer katholischen Familie keinen Sinn ergeben. Er hört Stimmen. Die Ärzte vermuten, dass er an Schizophrenie leidet. Auch das wollen die Eltern erst nicht glauben. Als Nächster wird Jim psychisch krank, ihr zweitältester, dann Brian, der wie ein Filmstar aussieht. Dann drei weitere Brüder. Der jüngste Sohn, Peter, erleidet seine erste Psychose schon mit 14.

Schizophrenie gilt heute nicht mehr als eine Erkrankung. Sondern als Sammelbegriff für eine ganze Reihe von psychischen Leiden, die mit ähnlichen, schweren Symptomen einhergehen. Betroffene durchleben Wahnvorstellungen, Halluzinationen, Verzerrungen der Wahrnehmung, verbunden mit Angstzuständen, begleitet von Depressionen. Noch immer haben Forscher kaum verstanden, was dabei im Gehirn passiert, warum es passiert. Man kann die Symptome mit Medikamenten dämpfen, aber die Nebenwirkungen sind heftig. Es gibt ein erbliches Risiko, man kennt inzwischen eine ganze Reihe beteiligter Gene.

Der Reporter bekommt Zugang zu allen Akten

Man kennt sie, unter anderem, weil die Familie von Donald und seinen erkrankten Brüdern seit Jahrzehnten mit Forschern zusammenarbeitet. Nun haben sie dem Reporter Robert Kolker ihre Geschichte erzählt. Ihm Zugang zu Krankenakten, Tagebüchern, Briefen gegeben. Auch Geschwister, die nicht an Schizophrenie erkrankt sind, haben Jahrzehnte der Therapie hinter sich. Kolkers Buch „Hidden Valley Road“ ist gerade auf Deutsch erschienen. Er nannte es nach der Straße in Colorado Springs, in der die Familie lange lebte.

Die Galvins waren schon eine auffällige Familie, bevor die Söhne erkrankten. Die Eltern lernen sich als Teenager kennen, beide sind ehrgeizig und sehen gut aus. Der Vater Don ist erst bei der Navy und macht dann bei der Air Force Karriere, die Mutter Mimi hört Opern, spielt Klavier, malt. Neben dem Kochen, Backen, Nähen. Und den ständigen Schwangerschaften, jede von heftiger Übelkeit begleitet. Ihre zwölf Wunschkinder bekommt sie zwischen 1945 und 1965. Bis ihr Gynäkologe sagt, bei der nächsten Schwangerschaft müsse sie sich einen anderen Arzt suchen, er könne es nicht mehr verantworten. Und dann sind da noch die Falken; die Familie hält und trainiert Raubvögel.

Kolker erzählt packend, aber nie voyeuristisch von diesen Menschen, den guten und den schrecklichen Zeiten, verschränkt die Familiengeschichte mit der Geschichte der Erforschung schizophrener Psychosen. Auch die Blutproben und Genanalysen der Galvins haben bisher nicht zu einem Durchbruch in der Therapie geführt.

Die Krankheit der Söhne zerrt an der Familie, führt bei einigen zu Gewaltausbrüchen, sexuellen Übergriffen, ein Bruder fügt seinen Schwestern unfassbares Leid zu. Ein anderer erkrankt still. Die Psychosen des jüngsten lassen sich auch durch Medikamente kaum mildern. Aber all das zerstört die Familie nie ganz. Die Mutter kämpft um die Behandlung ihrer Söhne, bis zu ihrem eigenen Tod im hohen Alter. Heute kümmert sich Mary, die jüngste Tochter, um ihre drei psychisch kranken Brüder, die noch am Leben sind.

Robert Kolker: Hidden Valley Road. Im Kopf einer amerikanischen Familie. Aus dem Amerikanischen von Henning Dedekind. Penguin, München 2021. 512 Seiten, 22 Euro.