„Warum sollten Kühe anders empfinden als wir?“ | Greenpeace
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Mehrere Kühe stehen nebeneinander in Anbindehaltung
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„Warum sollten Kühe anders empfinden als wir?“

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Auf einem Milchviehbetrieb beschloss Claudia Preuß-Ueberschär als Kind, Tierärztin zu werden. Im Interview erzählt sie, wie sich die Haltung von Milchkühen verändert hat und was die Tiere brauchen.

Tierärztin sitzt an einem Schreibtisch

Claudia Preuß-Ueberschär, arbeitet in ihrer eigenen Praxis für Tierpathologie. Außerdem ist sie ehrenamtlich tätig als 1. Vorsitzende des Vereins "Tierärzte für verantwortbare Landwirtschaft e.V". Und Sprecherin des Tierschutznetzwerks "Kräfte bündeln".

Greenpeace: Die Milchindustrie vermittelt gerne das Bild von glücklichen Kühen auf der Weide. Dabei stehen die meisten Milchkühe im Stall, jede zehnte sogar in Anbindehaltung. Doch was ist Anbindehaltung überhaupt?

Claudia Preuß-Ueberschär: Anbindehaltung ist eine Form der Stallhaltung, bei der die Rinder an einem bestimmten Platz stehen und mit einem Gurt oder einer Kette festgebunden sind. Diese Kette oder der Gurt sind nur so lang, dass die Tiere fressen, trinken und sich ablegen können. Mehr können sie nicht machen. Ihr ganzes Leben lang. Zumindest, wenn wir von ganzjähriger Anbindehaltung reden.

Greenpeace: Das hört sich grausam an. Was bedeutet die Anbindehaltung für die Tiere?

Preuß-Ueberschär: Jedes Tier hat angeborene Verhaltensmuster, nach denen es frisst, sich bewegt und gegenüber seinen Artgenossen verhält. Bei Herdentieren wie den Rindern gibt es Rangordnungen. Oft wollen sich Tiere absondern, weil sie sich mit den anderen nicht so gut verstehen. So geht es uns auch, wir mögen ja auch nicht jeden. Diese ganzen Verhaltensmuster sind völlig unterbunden, wenn die Tiere immer nur an einem Platz stehen und festgebunden sind. Das führt zu einem enormen Stress bei den Tieren, weil sie das, was sie tun müssten, nicht tun können. Und es führt zu Leiden.

Greenpeace: Was für Leiden sind das?

Preuß-Ueberschär: Da sind zum einen die psychischen Schäden. Diese Tiere können keine Freundschaften schließen, ihr normales Mutter-Kind-Verhältnis nicht ausleben und nicht so kommunizieren, wie sie es normalerweise täten. Hinzu kommen gesundheitliche Schäden, wie Zitzenverletzungen und -entzündungen, Klauenverletzungen, Abschürfungen durch die Ketten, andere Infektionskrankheiten. Das hat viel mit Hygiene zu tun. Die Ställe, die ich in der Anbindehaltung gesehen habe, sind hygienisch sehr bedenklich.

Greenpeace: Wieso gibt es überhaupt eine Anbindehaltung?

Preuß-Ueberschär: Die Anbindehaltung gibt es schon sehr lange. Aber früher war alles viel kleiner. Auf den alten Bauernhöfen haben die Leute mit in dem Haus gewohnt. Man ging durch die Tür und war im Stall. Auf dem Bauernhof in Bayern, auf dem ich vor 65 Jahren das erste Mal war, hatten sie zwölf Kühe, die jeden Tag gepflegt wurden. Jede Kuh hatte einen Namen, wenn sie verdreckt waren, wurden sie gestriegelt. Sie standen auf Einstreu, in den Sommermonaten kamen sie ganztags raus auf die Weide und nur zum Melken rein. Ich habe dort aus Interesse mitgeholfen, dieser Bauernhof war ein ausschlaggebender Punkt, warum ich Tierärztin geworden bin. Die Tiere sahen gut aus, waren gesund und wurden, wenn nötig, tierärztlich versorgt.

Greenpeace: Was ist seitdem passiert?

Preuß-Ueberschär: Heute haben die Landwirt:innen immer mehr Tiere und immer weniger Platz. Außerdem waren die Rassen, die früher in Anbindehaltung lebten, viel kleiner. Die Tiere werden immer größer, aber die Ställe sind so geblieben wie vor 100 Jahren.

Greenpeace: Was hat das für Auswirkungen?

Preuß-Ueberschär: Bei der Anbindehaltung ist vorne der Futtertrog, dann kommt ein Stück Liegefläche und dahinter die Mistrinne. Da soll der Mist reinfallen, damit er nicht auf die Liegefläche fällt. Doch die Tiere passen nicht mehr in die Ställe, das heißt, sie stehen eigentlich immer mit den Hinterbeinen auf dieser Kante. Oder liegen darauf. Zusammen mit dem Dreck ist das eine mögliche Quelle für Verletzungen und Infektionen.

Greenpeace: Jeder Laie würde sagen: Das kann doch nicht so bleiben.

Preuß-Ueberschär: Ja, das geht auch nicht mehr. Zumal wir heute viel mehr über die Tiere und ihr Verhalten wissen. Wenn wir dieses Wissen integrieren, können wir nicht mehr so handeln, wie wir vor 100 Jahren gehandelt haben.

Greenpeace: Warum tut sich dann nichts?

Preuß-Ueberschär: Das ist vor allem eine finanzielle Frage. Meine Meinung ist: Wenn wir schon Rinder halten, um Milch oder irgendwann Fleisch zu haben, was man unter ethischen Gesichtspunkten durchaus hinterfragen muss – dann müssen wir sie wenigstens so halten, dass sie keine Schmerzen leiden und Schäden davontragen. Das bedeutet aber, dass neue Ställe gebaut werden müssen, in denen die Tiere nicht ständig fixiert sind, wo sie sich frei bewegen können, Einstreu haben, Licht und Luft genießen können und Zugang zur Weide haben. Diese Ställe sind teuer. Kleine Betriebe können sich das eventuell nicht leisten. Sie können nicht groß investieren. Das ist sicherlich ein Hauptgrund.

Greenpeace: Werden diese Ställe denn wenigstens regelmäßig überprüft?

Preuß-Ueberschär: Es gibt Eigenkontrollen, der Tierhalter ist per Gesetz dazu verpflichtet, jeden Tag seine Tiere anzuschauen. Zweitens gibt es ja nach wie vor Hoftierärzte, die geholt werden, wenn man einen Tierarzt braucht. Und dann gibt es die Betriebskontrollen vom Veterinäramt. Die sind risikoorientiert. Sie finden eigentlich nur statt, wenn irgendwelche Mängel gemeldet wurden. Eine regelmäßige Kontrolle findet in Bayern, glaube ich, alle 42 Jahre statt. Das ist ja der Punkt, es wird nicht so kontrolliert, dass man das gut im Griff hätte.

Greenpeace: Das heißt, die Landwirt:innen können machen, was sie wollen und haben ein relativ geringes Risiko, dass da jemand guckt.

Preuß-Ueberschär: Ja, so würde ich es einschätzen. Wenn Betriebe sich für bestimmte Qualitätsmerkmale zertifizieren lassen wollen, dann kommt da schon noch mal einer vorbei. Aber bei diesen Zertifizierungen geht es mehr darum, die Produktion von Nahrungsmitteln tierischer Herkunft für den Menschen so gesund wie möglich zu machen. Das Tierwohl steht da weniger im Fokus.

Greenpeace: Als wir vor einem Jahr Kühe auf die Reichstagswiese gestellt haben, kamen Jugendliche vorbei, die zum ersten Mal eine Kuh in echt gesehen haben. Haben wir uns so weit von den Tieren und der Herstellung der Lebensmittel entfernt?

Preuß-Ueberschär: Das kann schon sein. Früher mussten die Bauern mit ihren Rindern durch das Dorf laufen, um auf die Weide zu kommen. Heute sind die großen Betriebe so versteckt in der Landschaft, da muss man ganz gezielt hingehen und schauen, wo kommen denn unsere Nahrungsmittel tierischer Herkunft her. Was ist denn der Ursprung. Es ist auch eine Bildungsfrage. Wenn die Eltern daran kein Interesse haben, lernen es die Kinder auch nicht.

Greenpeace: Also ist noch viel Aufklärungsarbeit nötig?

Preuß-Ueberschär: Man müsste den Tierschutz schon in den Schulunterricht implementieren. Tiere sind unsere Mitgeschöpfe. Wir wissen heute, dass Tiere sich nur wenig von uns unterscheiden. Wir haben dasselbe Nervensystem, wir haben dasselbe endokrine System, das ist evolutionär bedingt. Warum also sollten Tiere anders empfinden als wir.

Greenpeace: In Umfragen geben Verbraucher:innen oft an, sie würden mehr Geld für Produkte bezahlen, wenn Tiere besser gehalten würden.

Preuß-Ueberschär: Solange auf den Packungen nicht gezeigt wird, wie das Produkt wirklich entstanden ist, ist es eigentlich Verbrauchertäuschung. Die Leute fühlen sich verunsichert und denken, wenn es sowieso nicht stimmt, kann ich auch das billige Produkt kaufen.

Greenpeace: Würden Bilder von Kühen in Anbindehaltung auf den Packungen helfen?

Preuß-Ueberschär: Ja, wie bei den Zigaretten, wenn man diese Bilder sieht, da überlegt man sich schon, ob man noch eine Zigarette nimmt oder nicht.

Greenpeace: Es wird sich also erst was ändern, wenn wir einen politischen Prozess haben?

Preuß-Ueberschär: Von den Landwirt:innen kommt da nichts. Die wehren immer nur alles ab, aber machen keine Vorschläge. Es ist eine politische Aufgabe, das jetzt voranzutreiben. Man kann dieses Thema nicht allein dem Verbraucher überlassen. Wenn es nur noch tiergerechtere Produkte gäbe, die dann teurer wären, dann würden die auch gekauft werden.

Greenpeace: Dann kommt wieder das Argument, so gehen die Höfe kaputt.

Preuß-Ueberschär: In dem Tal, in dem der Bauernhof meiner Kindheit steht, da haben sich zwei, drei zusammengetan und einen neuen Stall gebaut. Es ist machbar.

Greenpeace: Und wenn nicht?

Preuß-Ueberschär: Dann müssen wir vielleicht dahin kommen, Tiere nur noch da zu halten, wo sie einigermaßen artgerecht leben können. Und das ist da, wo das Grünland ist.

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