4.1 Die Baumolsche Kostenkrankheit

1966 untersuchten die Wirtschaftswissenschaftler Baumol und BowenFootnote 1 erstmals umfassend die Ökonomie der darstellenden Künste inkl. des Konzertwesens. Ihre Erkenntnis: Während die Produktivität in der Wirtschaft und Produktion kontinuierlich steigt, aufgrund verbesserter Technologien, sind die Künste von diesem Trend abgekoppelt. Technischer Fortschritt beschleunigt keine Symphonie und kein Broadway-Play, die Produktivität der Arbeit bleibt konstant. Insgesamt steigen die Kosten aber durch die allgemeine Preisentwicklung, Inflation usw. Dieses Phänomen ist bekannt als die Baumolsche (Kosten-)Krankheit – Dienstleistungen lassen sich schlechter rationalisieren als die Produktion von GüternFootnote 2. Das betrifft nicht nur die Künste: Auch die Lehre, die Pflege etc. sind davon betroffen. Die Kosten steigen stetig weiter bei gleichbleibender Produktivität. Die Schere geht immer weiter auseinander.

In den darstellenden Künsten hat es Transformationen zu mehr Besucher:innen pro Veranstaltung gegeben: Lautere bzw. verstärkte InstrumenteFootnote 3, Microports für Schauspieler:innen und Sänger:innen, größere Konzerthallen etc. – die klassische Musik und das klassische Theater haben davon eher nicht profitiert.

Seine Erkenntnis damals: Die Künste müssen sich weitere neue Finanzierungsmöglichkeiten suchen, sonst sind sie auf Dauer nicht mehr finanzierbar.

Armin Klein konstatiert in seinem Buch „Der exzellente Kulturbetrieb“ Baumols Kostenkrankheit gar als „tickende Zeitbombe“Footnote 4.

Bezogen auf Deutschland heißt das, die Unterstützung für die Künste, also der notwendige Betriebszuschuss, steigt zwangsweise und permanent.

Als Beispiel mag hier das Theater Lüneburg gelten. Das Theater wird finanziert vom Land Niedersachsen, vom Landkreis (mit 74,9 % Hauptgesellschafter) und der Stadt Lüneburg.Footnote 5 Da das Land nicht mehr automatisch die Tariferhöhungen für das Theater übernimmt, wächst die Finanzierungslücke mit dem Problem der drohenden Insolvenz. Der Landkreis hat daher das Beratungsunternehmen actoriFootnote 6 mit einem Gutachten beauftragt, verschiedene Szenarien zu erstellenFootnote 7. Das Gutachten bescheinigt dem Theater, gut ausgelastet zu sein und vorbildlich zu wirtschaften. Die größte Position bei den Ausgaben seien allerdings die PersonalkostenFootnote 8. Actori stellt drei Szenarien vor:

  1. 1.

    Verkleinerung des Orchesters

  2. 2.

    Abwicklung des Orchesters

  3. 3.

    Abwicklung der kompletten Sparte Musiktheater inkl. des Orchesters

Actori schlägt keine der Maßnahmen vor, sondern bildet Szenarien ab. Die Entscheidung müsse die Politik treffen. Im Dezember 2023 ist es zu einer vorläufigen Entscheidung gekommen: Die Träger sichern vorerst den Weiterbetrieb zu, der designierte Intendant solle eigene Vorschläge machen.

Hans Abbing schreibt in seinem Buch „The Economics of Serious and Popular Art“Footnote 9 (2022) zwar nicht über den deutschen Markt, die Analogie kann aber leicht gezogen werden:

„In the late period of serious art, governments became gradually less willing to finance the ever-increasing deficits of typical ensembles incurred by ever-increasing costs and decreasing demand. Hence, the overall number of symphony orchestras continues to decline with no end in sight with the exception of the most famous orchestras because, along with famous opera and dance ensembles, they offer „excellent“ performances and perform well in the international cultural and economic arena. They continue to receive ample direct and indirect government funding and thus decreasing costs has never been a priority.“

Die Auswirkungen werden für Lübeck werden so oder so vielfältig sein. Actori hat die Folgen durchgerechnet und weiß natürlich ganz genau, dass die „nicht-monetären Auswirkungen enorm“ sein werden, egal, welchen Ausweg der Landkreis nehmen wird.

Weitere Phänomene in Deutschland sind in dieses Modell noch gar nicht eingepreist, werden aber auch den Theatern schon in naher Zukunft zu schaffen machen:

  1. 1.

    Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur ArbeitszeiterfassungFootnote 10 wird auch an den Theatern zu Veränderungen führen (müssen).

  2. 2.

    Der Arbeitskräftemangel in den technischen Berufen wird am Theater mehr durchschlagen als in anderen Sektoren, insbesondere freie Bühnentechniker:innen haben ihre Arbeit während der Pandemie verloren und sich anderen Aufgaben zugewandtFootnote 11. Das erhöht die Kosten, da auch andere Sektoren im Unterhaltungsgewerbe dringender denn je Bühnentechniker:innen suchen.

  3. 3.

    Die Erhöhung der Mindestgagen um 35,8 % im Rahmen des NV-Bühne, die die GDBA für die künstlerischen Berufe erreicht hatFootnote 12. Erste Theater warnen vor Insolvenzen, so z. B. das Mecklenburgische Staatstheater in SchwerinFootnote 13.

4.2 Privattheater und Festspiele

Weitere Kapitel der Theaterstatistik beschäftigen sich mit Privattheatern und Festspielen, jeweils mit eigenen Summentabellen. Die Zahlen scheinen nicht sehr verlässlich zu sein und schwanken stark, abhängig von den Meldungen der Veranstalter oder von Sondereffekten wie die Aufnahme der Stage Entertainment Theater mit ihren Musicals in den Spielzeiten 2014/15 und 2015/16 oder der nur alle 10 Jahre stattfindenden Oberammergauer Passionsspiele (erstmals in 2021/22 aufgenommen).

Abb. 4.1 zeigt die Besuchszahlen der Privattheater seit 1980/81.

Abb. 4.1
figure 1

Besuchszahlen der Privattheater

Abb. 4.2 zeigt die Besuchszahlen der Festspiele seit 1980/81.

Abb. 4.2
figure 2

Besuchszahlen der Festspiele

Weitere Hinweise zu Daten der Privattheater finden sich im Exkurs über die Werkstatistik.

4.3 „Wer spielte was? – Die Werkstatistik des Deutschen Bühnenvereins“

Neben der jährlich erscheinenden Theaterstatistik gibt der Bühnenverein jährlich eine weitere Statistik heraus: die Werkstatistik, auch bekannt unter dem Titel „Wer spielte was?“. Die Werkstatistik erscheint schneller als die Theaterstatistik. Im Juli 2023 ist die neue Werkstatistik für die Spielzeit 2021/22 erschienen. Die aktuelle Theaterstatistik erschien im April dieses Jahres und bezieht sich auf die Spielzeit davor (Abb. 4.3).

Abb. 4.3
figure 3

Abfolge von Spielzeit, Werk- und Theaterstatistik

Diese Abfolge führt immer wieder zu einigen Verwirrungen in der Presse und bei den geneigten Lesern, da nicht allen klar ist, wie die Publikationsreihenfolge ist: Die Theaterstatistik im Frühjahr und die Werkstatistik im Sommer des gleichen Jahres beziehen sich eben auf unterschiedliche Spielzeiten.

Leider sind diese beiden Statistiken in keiner Weise miteinander vergleichbar. Während die Theaterstatistik sich auf die Zahlen der Mitglieder des Bühnenvereins bezieht, listet die Werkstatistik dem Anschein nach alle Zahlen, die ihr gemeldet werden.

In der Werkstatistik werden die Besuchszahlen pro Produktion gelistet, in der Theaterstatistik werden die Zahlen nicht nach Produktion, sondern summiert pro Sparte angegeben. Und: Die Theaterstatistik fasst die Zahlen der öffentlichen Theater, der Privattheater und der Festivals nicht zusammen, die Werkstatistik tut das seit einigen Jahren schon.

Für die Zwecke dieser Untersuchung wurden nur die Besuchszahlen analysiert.

Die Werkstatistik sammelt Daten vieler (aber längst nicht aller) Produktionen und bietet einen sehr detaillierten Überblick über die vielen Tausend Produktionen, die jedes Jahr in Deutschland an den Start gehen. Sie diskriminiert nicht nach öffentlich geförderten Häusern, Privattheatern oder kommerziellen Unternehmungen, ist aber auch in keinem Fall vollständig, weil sie davon abhängig ist, was die einzelnen Veranstalter liefern – und das tun nicht alle (rechtzeitig).

Während das kommerzielle Musical „Starlight Express“ in Bochum (BB Promotion) seit vielen Jahren mit seinen Zahlen vertreten ist, fehlen die Daten für die großen Musicals der Stage Entertainment Holding (sie meldet keine Zahlen (mehr)Footnote 14. Für 2019 werden ca. 3,5 Mio. Besuche für die Stage geschätzt, insgesamt hatte wohl „König der Löwen“ allein in 21 Jahren mehr als 15 Mio.Footnote 15 Besuche.

Auch das Harry-Potter-Musical der BB-Promotion fehlt mit ca. 300.000 Besuchen in 12 Monaten bis 5.12.2022Footnote 16.

Die meisten der genannten Einschränkungen für die Theaterstatistik gelten für die Werkstatistik, sie ist kein vollständiges Abbild des Kulturlebens, auch hier fehlen überwiegend die Zahlen der Freien Szene, der soziokulturellen Zentren und der INTHEGA-Häuser. Tab. 4.1 zeigt die Produktionen mit den höchsten Besuchszahlen für ausgesuchte Jahre seit 2010/11 – „Starlight Express“ führt bis 2019/20 diese Liste an:

Tab. 4.1 Produktionen mit den höchsten Besuchszahlen

Eine weitere Besonderheit gilt für die Spielzeit 2021/22, deren Zahlen im Juli 2023 veröffentlicht wurden. Spitzenreiter bei den Produktionen mit den höchsten Zuschauerzahlen sind die Passionsspiele von Oberammergau (416.458 Besuche), die nur alle 10 Jahre stattfinden. Normal hätten sie 2020 stattfinden sollen, sind aber Corona zum Opfer gefallen. In der Werkstatistik 2010 wurden die Passionsspiele nicht aufgenommen. In der Theaterstatistik kommen die Passionsspiele gar nicht vor.

Die Hamburger Schmidt-Theater sind in der Werkstatistik seit Jahren mit dem Erfolgsmusical „Die heiße Ecke“ vertreten, in der Theaterstatistik 2015/16 z. B. sind die Schmidt-Theater auch mit 3 Häusern vertreten, 2020/21 kommen sie nicht (mehr) vor.

Die Werkstatistik bietet eine Vielzahl von Übersichten an: die meisten Inszenierungen pro Stück, die meistgespielten Autor:innen, die erfolgreichsten Uraufführungen – und das meist für alle Genres: Oper, Operette, Musical, Schauspiel, Kinder- und Jugendtheater, Tanz, Revue/Singspiel und Performance (die Genres wurden über die Jahre immer weiter ausdifferenziert).

Die vorstehenden Erläuterungen zeigen, dass auch die Daten der Werkstatistik kein vollständiges Abbild liefern und die Zahl der Meldungen von Jahr zu Jahr abweicht. Jahresvergleiche sind also mit großer Vorsicht zu genießen, die Abweichungen sind manchmal erheblich. Trotzdem folgen hier einige zeitliche GegenüberstellungenFootnote 17.

Tab. 4.2 zeigt, welche Privattheater in der Theater- und welche in der Werkstatistik vertreten sind:

Tab. 4.2 Hamburger Privattheater TS/WS

Anm.: Die Stage wechselt je nach Erfolg der Produktionen immer wieder mal neue (oder alte) Produktionen aus. Da „Hamilton“ hinter den Erwartungen zurückgeblieben ist, wird die Produktion durch das altbewährte „Tanz der Vampire“ ab November 2023 ersetzt.

Um beispielhaft an einer Spielzeit zu zeigen, wie hoch die Unterschiede zwischen den beiden Statistiken sein können, zeigt Tab. 4.3 die Top 20 der meistbesuchten Produktionen 2021/22 mit Angaben zu den Kapiteln in der Theaterstatistik des Vorjahres (ÖT, PT, FS).

Tab. 4.3 Werkstatistik 2021/22: Top-20-Produktionen

Insgesamt stellen die Top-20-Produktionen 2.596.412 Besuche, aber nur 932.222 davon werden vermutlich in der Theaterstatistik für diese Spielzeit enthalten sein (sie erscheint wahrscheinlich im März 2024). Die Differenz von 1.664.190 Besuchen steht immerhin für 13 % der gesamten Besuche.

Tab. 4.3 zeigt die Besuchszahlen in der Werkstatistik 2021/22 über alle Sparten (mit Angabe, ob die Veranstalter in der aktuell verfügbaren Theaterstatistik 2020/21 enthalten sind):

Erläuterung: In der Theaterstatistik enthalten sind ÖT = Öffentliche Theater, PT = Privattheater, FS = Festspiele (jeweils mit eigenen Summentabellen ohne Zusammenfassung). Keine Angabe bedeutet, dass die Veranstalter Zahlen für die Werkstatistik gemeldet haben. DBV heißt: Mehrere Veranstalter, die in der Theaterstatistik enthalten sind. Die Positionen 9 und 15 kommen mehrfach vor, da die gleiche Produktion auf unterschiedlichen Bühnen gespielt wurde, die teils öffentlich, teils privat waren.

In den folgenden Abbildungen werden die Besuchszahlen der Werkstatistiken seit 2015/16 gezeigt. 2015/16 und der letzten vollständigen vorpandemischen Spielzeit 2018/19 sind die Besuchszahlen der Werkstatistik nahezu identisch, daher beziehen sich die folgenden Angaben auf die Spielzeit 2015/16. Eine Einbeziehung der Zahlen aus 2010/11 ist leider nicht möglich, da damals noch keine Gesamt-Besuchszahlen angegeben wurden.

Abb. 4.4 zeigt die Besuche (Balken) mit der Differenz in Prozent zum Vorjahr (Linie). Die Prozentzahlen sind dramatisch, sowohl im Rückgang als auch in der Steigerung von 404 % 2021/22 gegenüber dem Vorjahr.

Abb. 4.4
figure 4

Besuche Differenz zum Vorjahr

In Abb. 4.5 zeigt die Linie die Differenz zu 2015/16 an. 2018/19 verzeichnet einen minimalen Rückgang, in 2020/21 sehen wir einen Verlust von 89 % und die 404 % aus der obigen Grafik verwandeln sich in ein Minus von immer noch − 44 % gegenüber der letzten vollständigen vorpandemischen Saison. Auch 2021/22 war noch von Corona-Maßnahmen betroffen, die Theater waren noch lange nicht im Vollbetrieb. Wir werden möglicherweise erst in ein oder zwei Jahren wirklich Bilanz ziehen können, wie sich Corona langfristig auf die Besuche ausgewirkt hat (oder die Inflation, der Krieg gegen die Ukraine, der Klimawandel, die Diskussion um das Heizenergiegesetz, das Verbot des Bundesverfassungsgerichts, die Corona-Gelder umzuwidmen in einen Klimafond etc.).

Abb. 4.5
figure 5

Besuche Differenz jeweils zu 2015/16

Dieses Buch soll keine Untersuchung der Werkstatistik werden, das erfordert weitere Studien. Trotzdem sei noch ein Blick auf die Liste der Top-25 Opern und ihre Komponisten erlaubt. Tab. 4.4 zeigt die Besuchszahlen für 2021/22:

Tab. 4.4 Top 25 der meistbesuchten Opern 2021/22

Tab. 4.5 zeigt die Anzahl der Werke in den Top 25 und das Todesjahr der beteiligten Komponisten:

Tab. 4.5 Werkstatistik 2021/22: Komponisten der Top 25 Opern

Der jüngste Komponist ist vor 99 Jahren gestorben, im Mittel sind die Komponisten seit 147 Jahren tot und es handelt sich nur um MännerFootnote 18.

Möglicherweise hat dieser KanonFootnote 19 auch etwas mit dem Rückgang der Besuchszahlen in der Oper zu tun.Footnote 20

Peter Gelb, der Intendant der Metropolitan Opera in New York, äußert sich zum Problem mit dem Repertoire und den dramatisch gesunkenen Besuchszahlen an der Met:

„Classical music and opera suffered greatly suffered greatly, because everyone was asleep the wheels.“Footnote 21

Fun Fact: Kennzeichen der deutschen Theaterlandschaft sind lt. dessen ehemaligem Geschäftsführer Rolf Bolwin Repertoire und Ensemble. Repertoire heißt, dass Vorstellungen von Produktionen verteilt über den Spielplan gegeben werden, auch verteilt über Spielzeiten hinweg. Besonders erfolgreiche Produktionen können so eine lange Lebensdauer haben. OperabaseFootnote 22 unterhält eine Website über Operninszenierungen in aller Welt, darunter auch eine Statistik-Seite mit Überblicken über Werke und Komponisten (Spitzenreiter bei den Vorstellungen sind die Zauberflöte, La Traviata und CarmenFootnote 23). Daten liegen überwiegend ab 1996 vor. In der Datenbank enthalten sind aber einige viel ältere Inszenierungen. 2015 hatte ich auf Anfrage einige Datensätze vom Betreiber erhalten und für diese Publikation geprüft, welche davon für 2023 oder 2024 immer noch auf dem Spielplan stehen. Alle die nachgenannten Inszenierungen sind in den aktuellen Spielplänen der Häuser enthaltenFootnote 24 (Tab. 4.6):

Tab. 4.6 Die ältesten Inszenierungen Deutschlands, die 2023/24 noch gespielt werden

Von diesen neun Inszenierungen laufen alleine sechs in der Deutschen Oper Berlin, zwei in der Bayerischen Staatsoper München und eine im Mannheimer Nationaltheater. Der Verkauf von Karten für die Vorstellungen schein ja zu funktionieren, die Inszenierungen haben aber sicher einen eher musealen Charakter.

Die Werkstatistik ist ein jährlich erscheinendes ausführliches Zahlenwerk des Deutschen Bühnenvereins der Theaterproduktionen in den Ländern Deutschland, Österreich und der Schweiz. Für die Zwecke dieser Untersuchung wurden nur die Besuchszahlen analysiert.

Die Werkstatistik enthält natürlich sehr viel mehr Daten als in diesem kurzen Exkurs angesprochen. Manche Einordnungen könnten hinterfragt werden, z. B. wann ist ein Stück „zeitgenössisch“ und wann nicht. Für den Bühnenverein heißt „zeitgenössisch“ = nach 1945 entstanden – das sind fast 80 Jahre. Interessant ist auch der Einblick in die Inszenierungs- und Besuchszahlen von Ur- und Erstaufführungen. Aber: Das alles sind Themen für ein anderes Buch.

Die Werkstatistik ist allerdings ebenso wenig ein vollständiges Abbild des Theaterlebens der Bundesrepublik wie die Theaterstatistik des Deutschen Bühnenvereins.

4.4 Theaterlose Städte/INTHEGA

Die theaterlosenFootnote 26 Städte sind nur einmal in der Theaterstatistik aufgeführt: Im vergleichenden Überblick 1987 gibt es zwei Tabellen, einmal Veranstaltungen und Besuchen in absoluten und einmal in prozentualen Anteilen. Neben Musik- und Sprechtheater scheint es noch weitere, dort nicht angegebene Sparten zu geben, deswegen entspricht die Summe der beiden nicht der Gesamtzahl. Der Zuwachs verläuft stetig und beträgt 1983/84 immerhin 101,6 %.

Abb. 4.6 wirft einen Blick auf die Besuche zwischen 1953/54 und 1983/84:

Abb. 4.6
figure 6

Besuche bei Gastspielen in theaterlosen Städten

Einen hervorragenden Überblick über Geschichte und Bedeutung der INTHEGA liefert die Dissertation von Silvia Scholz.Footnote 27

Die Veranstaltungen hatten im gleichen Zeitraum mit 147 % einen noch höheren Zuwachs (Abb. 4.7).

Abb. 4.7
figure 7

Veranstaltungen bei Gastspielen in theaterlosen Städten

Daten für die Folgejahre sind nicht bekannt. Es besteht wohl der Plan, eine eigene Theaterstatistik für die INTHEGA-Mitglieder zu entwickeln, erste Ansätze wurden in 2023 unternommen.

Anm.: Nicht alle Sparten können angezeigt werden. Daher ergibt sich wohl die Abweichung von Linie (100 %) und Flächen.

4.5 Kommerzielle Anbieter

Musicals wie König der Löwen, Wicked, Tina etc. sind am Markt extrem erfolgreich. In den USA werden die Zahlen zu den Broadway-Musicals wöchentlich veröffentlicht.

Abb. 4.8 zeigt die Verkaufserlöse („grosses“)Footnote 28, Besucher:innen („attend“)Footnote 29 und Auslastung („% cap“)Footnote 30 zu den zehn erfolgreichsten Produktionen:

Abb. 4.8
figure 8

Die ersten 10 Einträge der Broadway-Produktionen (Woche vom 31.3.2024)

Ein Teil dieser Musicals ist auch in Deutschland erfolgreich. Sie werden überwiegend in Lizenz von Unternehmen wie der Stage Entertainment betrieben.

„Das Musical ‚Der König der Löwen‘ ist dabei eines der erfolgreichsten Musicals an allen Standorten. Am Broadway und im West End gehört es zu den Musicals mit den meisten Aufführungen aller Zeiten und ist mit einem Umsatz von rund 1,7 Mrd US-$ aktuell das umsatzstärkste Musical am Broadway. In Hamburg wird die deutschsprachige Version des „Der König der Löwen“ im Stage Theater im Hafen seit mittlerweile fast 20 Jahren aufgeführt. Seitdem wurde das Stück über 7000-mal aufgeführt und von rund 13 Mio. Zuschauern gesehen.“

Stage Entertainment schreibt dazu:

„Statistisch hat jeder sechste Deutsche das Erfolgsmusical Disneys ‚Der König der Löwen‘ im Hamburger Stage Theater im Hafen gesehen.“

In Deutschland betreibt die Stage eigene Theater im Stagione-Betrieb mit insgesamt 13.110 Plätzen. Für Deutschland gibt die Stage für das Geschäftsjahr 2019 an: 3,6 Mio. Besuche mit einem Umsatz von € 310 Mio. Würde die Produktionen der Stage in der Theaterstatistik mitgezählt werden, käme sie für 2018/19 auf einen Besuchsanteil von ca. 15 % (s. Kapitel „Werkstatistik“).

Neben der Stage gibt es noch die Mehr-BB-Entertainment GmbH, die u. a.mit dem Harry-Potter-Musical in Hamburg erfolgreich ist sowie mit dem Rollschuh-Musical „Starlight Express“, das seit 35 Jahren in Bochum in einer Dauerschleife rolltFootnote 31 (neben zahlreichen weiteren, meist Tournee-Produktionen). Die Theaterzeitschrift des DBV, die Deutsche Bühne, schreibt zwar über Produktionen wie „Starlight Express“Footnote 32, in der Statistik kommt sie trotzdem nicht vor, obwohl dort neben den Sparten Oper, Schauspiel, Tanz und Kinder- und Jugendtheater auch die Sparte Musical existiert. Aber Musicals im Stadttheater sind eben etwas anderes.

Daten wie vom Broadway gibt es nicht.

4.6 Auswertung der digitalen Angebote 2020/21

„Ihr wißt, auf unsern deutschen Bühnen

Probiert ein jeder, was er mag.“

Johann Wolfgang von Goethe:

Faust, Vorspiel auf dem Theater

Erstmals aufgenommen hat der Bühnenverein in der Ausgabe 2020/21 Daten zu den digitalen Angeboten (Streaming), die während der Pandemie entstanden sind.

Streaming-Produktionen werden vom DBV so definiert:

„Unter Streaming-Produktionen sind ausschließlich komplette Opern- oder Schauspiel- oder Tanzproduktion, sowie Konzerte angegeben. Nicht umfasst sind Wiederaufnahmen, Streamings von Ausschnitten oben genannter Produktionen und Kurzstreamings zu z. B. Marketingzwecken.“

Streaming-Produktionen sind in diesen Formen gezeigt worden:

  • Live vor der Kamera ohne Publikum

  • Live, teilweise mit Publikum oder

  • Als Aufzeichnung in einem der beiden Formate

Die freie Szene hat daneben auch noch neue Produktionsformen entwickelt, z. B. Zoom-Theater, bei denen die Schauspieler:innen und die Zuschauer:innen sich in Zoom begegneten und teils interagierten.

Im Report „Digitalität und digitale Transformation im Kulturbereich“ (10/2023) der Kulturminister-Konferenz heißt es dazu:

Viele digitale Angebote von Kultureinrichtungen, die während der Corona-Pandemie genutzt wurden, werden als nicht sonderlich gelungen wahrgenommen“Footnote 33

Streaming während der Pandemie

Schon wenige Wochen nach dem ersten Lockdown begannen die ersten Theater damit, Aufzeichnungen von Aufführungen oder Proben im Internet anzubieten. Schnell kamen neue künstlerische Formate wie Zoom-Theater et al. hinzu. Diese hatten das Ziel, das Publikum mit Angeboten während der theaterlosen Zeit zu versorgen.

Ich habe mich damit ausführlich in meinem Blog „Kulturstreaming“Footnote 34 befasst und eine kleine Untersuchung dazu auch auf nachtkritik.deFootnote 35 veröffentlicht.

Mein Fazit: Die Angebote waren überwiegend nicht sonderlich erfolgreich, die Formate konnten die Besucher:innen online i. d. R. kaum länger als 10 Min binden, die Zahlungsbereitschaft war äußerst niedrig und damit auch die in der Theaterstatistik verzeichneten Erlöse. Wirtschaftlich nachhaltig waren die Angebote nicht. Im Vergleich zu voll besetzten Aufführungen in großen Sälen war der Erlös mickrig. Die meisten Angebote sind mit der Öffnung der Theater wieder eingestellt worden.

Leider haben sich bei der Erfassung oder der Verarbeitung Fehler eingeschlichen. Die Zahlen für das Deutsche Theater Berlin und das DNT Weimar sind um Größenordnungen falsch. Die telefonische Rücksprache im April 2023 mit beiden Häusern hat das bestätigt. Der Bühnenverein recherchiert, erste Vermutungen stehen im Raum: Es wurden wohl die Anzahl von Produktionen und Besuchen versehentlich vertauschtFootnote 36.

Einige Beispiele für digitale Produktionen aus der aktuellen Theaterstatistik (Tab. 4.7):

Tab. 4.7 Streamingproduktionen nach Bundesländern

Hier einige Highlights aus der Statistik unter der Annahme, dass diese Zahlen korrekt erfasst wurden. Gezeigt wird die Anzahl digitaler Veranstaltungen (Tab. 4.8):

Tab. 4.8 Ausgewählte Theater mit Streamingproduktionen

Die Besuchszahlen für die Spielzeit betrugen insgesamt 2.170.996, die 128.126 Nutzer:innen digitaler Angebote stellen damit 5,9 % aller Zuschauer:innen (aka Haushalte) im Berichtszeitraum.

Die Einnahmen aus den digitalen Angeboten sind nur bei den Angaben zu den einzelnen Theatern angeführt, in der Summentabelle zu den Betriebseinnahmen sind sie nicht gesondert ausgewiesen.

Wenn man die Posten einzeln summiert, wurden insgesamt € 530.000 an Erlösen erzielt. Bezogen auf die Nutzer:innen ist damit pro Ticket eine rechnerische Einnahme von € 4,14 erzielt worden.

Die Spielpläne für die Spielzeit 2022/23 weisen kaum noch digitale Angebote aus, man wird daher sehen müssen, ob die Spalte zu digitalen Angeboten bzw. Nutzer:innen auf Dauer Bestand haben wird.

Ergänzung: Die European Theatre Convention ETC hat im Juni einen Bericht zu den digitalen Angeboten während der Pandemie veröffentlichtFootnote 37. Leider haben nur 19 Theater aus 17 Ländern die Umfrage beantwortet (und das auch nur teilweise), sodass die Ergebnisse weder für die einzelnen Länder noch insgesamt für digitale Theaterangebote stehen können.

Besuche, Tickets etc. können nicht mit letzter Sicherheit benannt werden, es fehlten insbesondere zu Beginn der Pandemie technische Voraussetzungen, Skills und finanzielle Möglichkeiten. Auch waren nicht alle Leitungsteams vom Nutzen digitaler Angebote überzeugt:

„74,3 % of theatres that did not produce digital theatre attributed this to a ‘lack of interest’ from their creative team.“Footnote 38

Der Bericht endet mit einer sehr kritischen Einschätzung von einer der teilnehmenden Kultureinrichtungen:

„Many theatres see digital (in the most general sense) to be the opposite of “live” theatre, and even as an existential threat“Footnote 39.

4.7 Zirkus und Varieté

Zwei Bereiche der öffentlichen Unterhaltung sind nicht Teil dieser Untersuchung, sollen aber auf jeden Fall erwähnt werden:

  • Zirkus und

  • Varieté.

Zirkus und Varieté mag der geneigte Leser eher nicht mit dem Theater in Verbindung bringen, zumindest das Varieté ist in der Theaterstatistik vertreten.

Der Autor war 1981 Mitglied des Organisationskomitees für das erste „Theater der Welt“Footnote 40 in Köln unter der Leitung von Ivan Nagel. Eingeladen zum Festival war der Circus Roncalli mit seinem Programm „Die Reise zum Regenbogen“Footnote 41, der damit in Deutschland quasi die „höheren Weihen“ empfing.

Die finnische Theaterstatistik umfasst die vier Sparten Oper, Schauspiel, Tanz und CircusFootnote 42.

Der Friedrichstadtpalast in Berlin bietet Varieté im weitesten Sinne und wird in der Theaterstatistik unter den öffentlichen geförderten Theatern geführt, weil er vom Land Berlin betrieben wird. Das Varieté Chamäleon Theater, ebenfalls in Berlin, wurde in 2023 mit dem Theaterpreis des Bundes ausgezeichnetFootnote 43. Das Chamäleon Theater ist unter den Privattheatern der Theaterstatistik aufgeführt. Varietés gibt es in zahlreichen Städten der Bundesrepublik: z. B. in Frankfurt, Stuttgart, Hannover, Bremen und Berlin.

4.8 Theater im Fernsehen

„Theater im Fernsehen, das ist wie Sex ohne Anfassen.“

Wolfgang BergmannFootnote 44, von 2001–2010 Leiter des ZDFtheaterkanals,, seit 2011 Geschäftsführer arte Deutschland

Hier ist nicht der Platz für eine Geschichte des Theaters im Fernsehen. Dafür ist das Thema zu umfangreich.

Daher folgt hier nur ein sehr kurzer und unvollständiger Abriss. Weiterführende Literatur findet sich in den Fußnoten.

4.8.1 Die Erfindung des Fernsehens und seine Einführung 1953–1959

Das Fernsehen gab es im Experimentierstadium schon seit den 30er-Jahren. Eingeführt wurden Geräte am Markt ab Ende 1952. Diese Zuschauerzahlen liegen für die Bundesrepublik für den Zeitraum bis Dez. 1956 monatlich vor, danach gibt es nur wenige weitere Zahlen. Man kann feststellen, dass in einem Zeitraum von 4 Jahren (Jan 1953 bis Dez 1956) 3 Mio. Fernsehzuschauer erreicht wurden, z. T. über öffentliche Vorführungen in Kneipen, insbesondere bei besonderen Anlässen wie der Krönung von König Elisabeth II. von England. Der Siegeszug des Fernsehers in die deutschen Wohnstuben war unaufhaltsamFootnote 45 (Abb. 4.9).

Abb. 4.9
figure 9

Fernsehzuschauer seit Betriebsaufnahme 1953

Die Sendezeit entsprach zu Beginn in keiner Weise dem heutigen Programm. Es gab nur einen Kanal mit einer auf wenige Stunden pro Tag begrenzten Sendezeit. Vor amerikanischen Verhältnissen (dort war das Fernsehen schon ca. 15 Jahre auf Sendung) mit ganztägigen Programmen wurde ausdrücklich gewarnt. Vermutlich waren um die 1.000 Geräte zur Betriebsaufnahme empfangsbereit.Footnote 46

Hier das Programm des ersten offiziellen SendetagesFootnote 47 des Norddeutschen Rundfunks, noch gab es kein gemeinsames ARD-ProgrammFootnote 48 (Tab. 4.9):

Tab. 4.9 TV-Programm des ersten Sendetages 25.12.1952

Der Original-Beitrag in der HÖRZU findet sich im Anhang auf S. 196.

Am 1.4.1963 startete das Zweite Deutsche Fernsehen ZDF, vom damaligen CDU-Bundeskanzler Adenauer bewusst positioniert gegen den „Rotfunk“ der SPD-Regierungen in vielen Bundesländern mit ihren eigenen Landesrundfunkstalten, die die ARD bildeten (Tab. 4.10).

Tab. 4.10 Programm des Zweiten Deutschen Fernsehens am 1.4.1963

Auch in der DDR hat sich das Fernsehen rapide ausgebreitet, allerdings mit Zeitverzögerung. In einer Übersicht des MDR heißt esFootnote 49:

  • 1955 sind 13.600 Geräte eingeschaltet. 15 h die Woche wird gesendet.

  • […]

  • 1960: Jeder zehnte Haushalt hat ein TV-Gerät, Sendezeit: 57 h pro Woche.

4.8.2 Theater auf dem Bildschirm

Die Geschichte des Deutschen Fernsehens ist eng mit dem Theater verknüpft. Noch im Versuchsbetrieb wurde 1951 Goethes „Vorspiel auf dem Theater“Footnote 50 in der Inszenierung von Hanns FarenburgFootnote 51 ausgestrahlt. Der reguläre Fernsehbetrieb des ZDF startete am 1.4.1963 ebenfalls mit dem „Vorspiel auf dem Theater“ aus Goethes FaustFootnote 52,Footnote 53,Footnote 54.

Die Zeitschrift „Theater heute“ widmet ihre Ausgabe 9/1973 dem Thema ‚Fernsehen und Theater‘. Henning Rischbieter, der Herausgeber, listet in seinem Beitrag eine stattliche Anzahl von Theaterstücken im Fernsehen:

„Das ist also, alles in allem, im Oktober/November/Dezember insbesondere, ein Schwall von Theater im Fernsehen. Wobei von den Dritten Programmen noch nicht die Rede war. Da wird, zuerst im westdeutschen, Thomas Bernhards «Der Ignorant und der Wahnsinnige» zu sehen sein in der Salzburger Uraufführungsinszenierung, Regie Claus Peymann, mit Bruno Ganz als Doktor. Im süddeutschen dritten Programm (SDR/SWF/SR) wird von September bis Januar gleich eine ganze Staffette von Dürrenmatt- Stücken gezeigt: zehn Werke, von «Romulus der Große» bis «Porträt eines Planeten», in Filmversionen, Fernsehstudioinszenierungen und in Aufzeichnungen von Theateraufführungen.“Footnote 55

Das Theater schien damals sogar für einen kurzen Moment erfolgreicher zu sein als das Fernsehen selbst, Rischbieter führt das auf TV-Stars in Tourneeproduktionen zurück:

„Mit diesen – zugegeben – simplen Formeln läßt sich vielleicht auch die Jahre andauernde Debatte darüber schließen, ob denn der Besucherrückgang beim Theater vom Fernsehen verursacht sei. Der Theaterbesuch nimmt wieder zu (ca. 4,5 % von 1971/72 auf 1972/73), die durchschnittlichen Einschaltquoten des Fernsehens sind gesunken (bei der ARD von 34 auf 30 Prozent, beim ZDF von 29 auf 26 Prozent). Mitverursacht hat das Fernsehen das Aufkommen einer tückischen Konkurrenz des öffentlichen Theaters, das Aufkommen des Tourneetheaters (dessen «Stars» häufig von Fernsehpopularität zehren).“Footnote 56

Walter Schmieding, viele Jahre Moderator der Kultursendung „Aspekte“ im ZDF, war sogar von der HÖRZU mit der Goldenen Kamera geehrt worden (1967) für die Vermittlung „eines allgemeinverständlichen Zugangs zu Theater, Musik, Kunst, Literatur, Kino und Kulturpolitik“.Footnote 57

Theater im Fernsehen wandelte sich stark. 1995 gab es eine Veranstaltung zum Thema, im Tagungsband, in dem die schwierige Beziehung beider thematisiert wurde. Die Regeln für Theater im Fernsehen wurden dort von Helmut Schanze so charakterisiert (Nummerierung vom Autor dieses Buches):

„Im Anfang der Fernsehgeschichte des Theaters (wie auch der Literatur) stand die Transposition die Übernahme eines Theaterabends in Form einer Fernsehübertragung (1). ‚Übertragung‘ ist der Produktionskanon des Rundfunks. Möglichst zeitgleiche Aufnahme und Sendung machen seine Aktualität aus, die Produktion findet am Ereignisort statt. Zeitliche Trennung von Aufnahme und Wiedergabe gelten tendenziell als Verstoß gegen die Aktualitätsregel. Insofern ist der ‚Film‘, bzw. das ‚Video‘, bei dem Aufnahme und Wiedergabe getrennt ist im ‚Rundfunkfernsehen‘ nur ein Hilfsmedium. Im Zuge des Wandels vom ‚Rundfunkfernsehen‘ zum ‚Filmfernsehen‘ bis zum kommerziellen 'Film-Film-Fernsehen' aber wandelte sich die Fernsehprogrammatik zum 'Filmischen' hin. In den siebziger Jahren wurden Verfahren der Adaption der theater- und literaturnahen Verfilmung verfolgt (2). Seit Beginn der achtziger Jahre herrschten Verfahren der filmischen Transformation (3) – der Umsetzung des theatralen Sujets mit Mitteln des Films, das aber als Ausgangspunkt erkennbar blieb. Im ‚reinen Film‘ (4) verschwindet das konkrete Sujet ‚Theater‘ ganz; es wird nur noch der Mythos des Theaters zum Vorwurf genommen. Man kann hier von Verfahren der Transfiguration sprechen.“Footnote 58

Der Dramaturg Volker CanarisFootnote 59 (später u. a. stellvertretender Intendant am Schauspiel Köln unter Jürgen Flimm, danach Intendant des Düsseldorfer Schauspielhauses) hatte 1971 für den WDR die Betreuung der Theatersparte übernommen, konstatierte aber 1975 den Versuch, Theater ins Fernsehen zu bringen, als gescheitertFootnote 60, allen Transformationen zum Trotz.

1994 schrieb Peter von Becker in „Theater heute“ einen neuen Abgesang auf Theater im Fernsehen.

„Muß es denn sein? Natürlich wirkt das Theater im Fernsehen erst einmal als Bastard. Ist dazu auch ein Krüppel – es hinkt und stolpert, bewegt sich wie ein Fremdkörper; selbst Schauspieler, die der Fernsehzuschauer eben noch in einer Talk-Show oder im «Tatort» gesehen hat, scheinen plötzlich wie ausländisch zu tönen. Und tatsächlich sprechen sie eine andere Sprache.“Footnote 61

Hintergrund der zunehmend weniger produzierten Theatersendungen ist auch der Abfluss von Werbegeldern an die Privatsender, die seit 10 Jahren in Deutschland auf Sendung waren. Der damalige Leiter der Schauspielredaktion beim ZDF, Siegfried Kienzle, geht von ca. 350 Mio. DM Mindereinnahmen aus. Zudem wurden die meisten Theatersendungen auf die Zeit nach 22 Uhr verschoben, was zusätzlich zum Zuschauerschwund beitrugFootnote 62.

Die Beziehung war also schon längst zerrüttet, als die o. a. Tagung „Theater und Fernsehen“ 1995 stattfand. Es ging um Zuschauerzahlen, die den TV-Sendern zu wenig geworden waren. Moderator August Everding trifft dann im Podiumsgespräch die entsprechende Aussage:

„Richtig, aber Herr Stolte [damals Intendant des ZDF, Anm. des Verfassers] hat bei meiner letzten Diskussion ganz klar gesagt, sehr ehrenwert: ‚Es waren nur noch 200.000, die zuschauten.‘“ (August Everding)Footnote 63

Wolfgang Bergmann schreibt 2008 in seinem Rückblick auf Theater im Fernsehen mit Blick auf die Einführung des Privatfernsehens Anfang der 80er-Jahre:

„Mit flinker Sichel wurden ‚notwendige Einschnitte‘ ins Programm vorgenommen. Theaterübertragungen standen senderübergreifend auf Platz 1 der Todeslisten programmoptimierender Direktoren. […]

Denn das Theatersterben in den öffentlich-rechtlichen Programmen ARD, ZDF und dann auch in d en Dritten Programmen der ARD ging noch schneller voran, als zu befürchten war. Der Quotendruck übernahm Regie. Das 1Redakteurfernsehen‘ hatte weitgehend ausgedient, von einer bildungsbürgerlich-pädagogisch durchwirkten Programmstrategie konnte fortan keine Rede mehr sein.“Footnote 64

Mit dem Satellitenfernsehen wurde ein neuer Versuch unternommen, das ZDF gründete den ZDFtheaterkanalFootnote 65, der 1999 den Betrieb aufnahm. Da die Zuschauerzahlen auch dort zu niedrig waren, wurde der Kanal 2011 umgetauft in ZDFkultur Footnote 66 und sendete mit einem stark erweiterten Kulturbegriff. 2016 wurde der Betrieb eingestellt. 2016 beendete der WDR eine fast 60-jährige Partnerschaft mit dem Kölner Millowitsch-Theater, aus dem 1953 die erste Fernsehübertragung eines Theaterstücks ausgestrahlt worden war („Der Etappenhase“ mit Willy Millowitsch). Peter von Becker hat diesem Ende einer Ära einen Nachruf im Tagesspiegel gewidmet, der auch die zahlreichen weiteren Volkstheater benennt, die regelmäßig im Fernsehen zu sehen waren und sind, darunter auch das Ohnsorg-Theater in Hamburg und das Komödienstadel in München (immer noch auf Sendung).Footnote 67

Theater ist heute im wesentlich ausgelagert in die Kabel- und Satelliten-Sender 3sat und arte. 3sat bringt jedes Jahr drei der zehn ausgewählten Inszenierungen des Berliner TheatertreffensFootnote 68 nach Regel 3 der filmischen Transformation. Und „arte concert“Footnote 69 steht für einen bunten Reigen von Konzertaufzeichnungen der unterschiedlichsten Provenienz – „Elektro, Pop, Rock, Metal, Hip Hop, Jazz und Klassik – über 900 Liveübertragungen im Stream und im Replay“, wie es auf der Website heißt.

Gerne hätte ich an dieser Stelle noch eine Übersicht über die Sendestunden pro Jahr seit 1953 gebracht, diese Daten liegen aber nicht vor.