»Hier kommt wieder der autoritäre deutsche Staat«

Yanis Varoufakis
DTRocks, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons

Der ehemalige griechische Finanzminister Yanis Varoufakis setzt sich für ein Ende des israelischen Militäreinsatzes im Gazastreifen ein. Aufgrund seiner geplanten Teilnahme an einer pro-palästinensischen Veranstaltung verweigerten die deutschen Behörden ihm die Einreise.

Roberto de Lapuente im Gespräch mit Yanis Varoufakis.

 

De Lapuente: Sie wollten kürzlich zum Palästina-Kongress nach Berlin fahren und durften nicht einreisen. Hatten Sie da nicht den Gedanken: Immer diese Deutschen?

Varoufakis: Nein. Denn es gibt nicht »die« Deutschen, so wie es nicht »die« Griechen gibt. Die Organisatoren des erwähnten Kongresses sind schließlich meine deutschen Freunde. Anders ausgedrückt: Es gibt in der Tat größere Unterschiede innerhalb der deutschen oder griechischen Bevölkerung als zwischen einem beliebigen Deutschen und einem beliebigen Griechen. Habe ich gedacht: »Hier kommt wieder der autoritäre deutsche Staat«? Das, muss ich zugeben, habe ich mir schon gedacht – nicht zu Unrecht, wie ich glaube.

De Lapuente: Halten Sie es für übertrieben, die »Aktion in Gaza« als einen Völkermord einzustufen?

Varoufakis: Es handelt sich um einen klassischen Fall von Völkermord – wie er vom Internationalen Strafgerichtshof definiert wird. Um das genauer auszuführen, möchte ich drei der Artikel des Römischen Statuts zitieren, mit dem der IStGH gegründet wurde. Zusammen bilden diese drei Artikel die Definition von Völkermord:

Artikel 6(c): Vorsätzliche Auferlegung von Lebensbedingungen für die Gruppe, die geeignet sind, ihre körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen — Die vollständige Belagerung des Gazastreifens und der Entzug von Elektrizität, Nahrungsmitteln und Treibstoff für die Bewohner des Gazastreifens ist ein Paradebeispiel für Artikel 6(c).

Artikel 25(3)(c): Strafbar macht sich auch, wer zur Erleichterung eines solchen Verbrechens Beihilfe oder sonstige Unterstützung bei seiner Begehung oder versuchten Begehung leistet, einschließlich der Bereitstellung der Mittel für die Begehung — Hat der israelische Staat nicht genau das getan, als er 10.000 Gewehre kaufte, um sie an israelische Siedler zu liefern, die für ihre ethnische Säuberung der Palästinenser im besetzten Westjordanland bekannt sind?[1]

Artikel 25(3)(e): andere unmittelbar und öffentlich zur Begehung von Völkermord aufstachelt — Wie sonst kann man den Satz von Yoav Gallant, Israels Verteidigungsminister, »Wir kämpfen gegen menschliche Tiere, und wir handeln entsprechend«, interpretieren?

»Die Belagerung des Gazastreifens und der Entzug von Elektrizität und Nahrungsmitteln ist ein Paradebeispiel für Völkermord«

De Lapuente: Wie bewerten Sie die Aussage, dass Israel jedes Recht haben muss, sich zu schützen im Kontext zum Vorgehen Israels in Gaza?

Varoufakis: Das Recht auf Selbstverteidigung ist unveräußerlich, aber begrenzt. Wenn jemand in mein Haus einbricht und meine Familie tötet oder zu töten versucht, habe ich jedes Recht, angemessene Gewalt anzuwenden, um ihr und mein Leben zu retten. Aber ich habe nicht das Recht, mich in mein Auto zu setzen, in die Nachbarschaft des Angreifers zu fahren, fast alle Häuser zu demolieren und alle zu erschießen, die ich sehe. Wenn ich das tue, bin ich ein Mörder. Im Falle Israels kann es unter keinen Umständen eine Entschuldigung dafür geben, jede Schule, jede Universität, jedes Krankenhaus, 70 Prozent aller Wohnungen zu zerstören, 15.000 Kinder, Hunderte von Journalisten, Patienten auf der Intensivstation zu töten, Ärzte zu entführen und zahlreiche wahllos zusammengetriebene Gefangene Tag und Nacht der Folter zu unterwerfen. Jeder, der es wagt, dieses Vorgehen als Selbstverteidigung abzutun, macht sich mitschuldig am Massenmord.

De Lapuente: In Deutschland ist das Thema besonders heiß. Sich für palästinensische Interessen auszusprechen, bewirkt sozialen Ausschluss. Nimmt man diese deutsche Radikalhaltung im Ausland wahr? Und wenn ja, wie bewertet man das?

Varoufakis: Die deutschen Behörden haben dem Ansehen des deutschen Staates in der Welt eine eiternde Wunde zugefügt. Es ist an der Zeit, dem wieder entgegenzuwirken, indem man aufhört, zwei völlig unterschiedliche Dinge miteinander zu vermischen: a) den Kampf gegen Antisemitismus (der mit voller Kraft fortgesetzt werden muss) und b) die fortgesetzte Verteidigung (durch das deutsche politische System) des Rechts Israels, jedes Kriegsverbrechen zu begehen, das es für richtig hält.

»Jeder, der es wagt, dieses Vorgehen als Selbstverteidigung abzutun, macht sich mitschuldig am Massenmord«

De Lapuente: Wie offen ist der Diskursraum bei diesem Thema in Griechenland?

Varoufakis: Weitaus offener als in Deutschland oder Frankreich, um ehrlich zu sein. Griechenland stand traditionell auf der Seite der palästinensischen Emanzipation gegen die israelische Besatzung. Das ist auch heute noch so, trotz der Beziehungen des griechischen Establishments zum Staat Israel und zu israelischen Unternehmen, die in den letzten fünfzehn Jahren immer enger geworden sind.

De Lapuente: Sehen Sie im Augenblick Chancen, dass die »militärische Operation« beendet werden kann?

Varoufakis: Nicht, solange Israel einen Premierminister hat, der weiß, dass er in dem Moment, in dem es zu einem Waffenstillstand und einem Geiselaustausch kommt, seine Macht verliert und sich vor den israelischen Gerichten verantworten muss.

De Lapuente: Sie waren Finanzminister eines Landes, das von der EU bedrängt wurde. Sensibilisiert das einen als Beobachter internationaler Krisen?

Varoufakis: Ich musste die Rücksichtslosigkeit exorbitanter Macht nicht persönlich erleben, um mich mit den leidenden Palästinensern solidarisch zu fühlen. Allerdings verstehe ich aufgrund meiner Erfahrungen aus dem Jahr 2015 besser, wie sich Brutalität reproduziert.

De Lapuente: Nehmen Sie das Einreiseverbot Deutschlands persönlich?

Varoufakis: Das Persönliche ist politisch, wie mich die Feministinnen gelehrt haben. Und vice versa.

 

[1] Jeremy Sharon, „Ben Gvir says 10,000 assault rifles purchased for civilian security teams“ (The Times of Israel), 10. Oktober 2023, verfügbar unter: https://www.timesofisrael.com/ben-gvir-says-10000-assault-rifles-purchased-for-civilian-security-teams/.

Yanis Varoufakis ist ein griechischer Wirtschaftswissenschaftler und Politiker. Er war Finanzminister im Kabinett von Alexius Tsipras.

Ähnliche Beiträge:

19 Kommentare

  1. Es gibt einen roten Faden des autoritären Systems. Er reicht bis weit ins 20. Jahrhundert zurück. Hierzu ein sehr interessanter Text im Online-Magazin *Inside Paradeplatz“:
    https://insideparadeplatz.ch/2024/05/13/wer-hats-erfunden-die-nazis/
    Wer hat’s erfunden? Die Nazis!
    Heikle Ursprünge und Strippenzieher des vereinigten Europas.

    Die neoliberale ist wie damals die nationalsozialistische Politik nur eine Variante eines autoritären Systems, das einzig und allein den Interessen der europäischen Oberschichten dient. Es gibt keine Demokratie zu verteidigen oder zu retten. Sie existiert nicht und hat nie existiert. Es gibt nur das autoritäre System zur Mehrung der Privilegien der Oberschichten.

      1. Eine Parteidiktatur ist per Definition autoritär. Natürlich.
        Eine Demokratie erhebt einen anderen Anspruch.
        In meinem Kommentar sprach ich vom Autoritarismus im pseudodemokratischen Wertewesten, einem Autoritarismus mit vielen Gesichtern und einem einzigen Zweck.

          1. Was glaubt ihr eigentlich, warum die deutschen Schriftsteller Heinrich Heine, Ludwig Börne, Georg Büchner und Georg Herwegh sowie Marx und Engels im 19. Jh. ins Ausland emigrierten? Oder warum Bebel, Liebknecht und Luxemburg z.T. lange vor der Oktoberrevolution und den Nazis in deutschen Knästen landeten?

            Oder der deutsche Dichter Christian Friedrich Daniel Schubart, der 10 Jahre lang in würtembergischen Verliesen schmorte. F*cking Friedrich Schiller hatte bereits mit zarten 23 Jahren „Publikationsverbot“ in Würtemberg und machte sich auf die Flucht – und das, obwohl seine heimischen Behörden nicht einmal wussten, dass die bereits anonym publizierten „Räuber“ von ihm stammten.

            Pardon, aber habt ihr überhaupt eine ansatzweise Vorstellung von den gesellschaftlichen Zuständen VOR dem 20. Jahrhundert, also vor den einigermaßen (!) durchgesetzten bürgerlichen Freiheiten, wenn ihr euch streitet, ob „das autoritäre System“ entweder die Nazis oder die Kommunisten erfunden hätten?

            Grotesk.

            1. Du hast offenbar meinen Beitrag eher emotional als faktisch zur Kenntnis genommen. Ich hab der allgemeinen Aussage „die Nazis habens erfunden“ mit einem früheren Beispiel widersprochen und sie dadurch widerlegt.

              Mehr war da nicht in meinem Beitrag.

    1. „Die neoliberale ist wie damals die nationalsozialistische Politik nur eine Variante eines autoritären Systems, das einzig und allein den Interessen der europäischen Oberschichten dient.“

      Schön wäre es, wenn das noch so wäre. Aber erstens sind nicht nur neoliberale sondern alle „Kartellparteien“ Teil des Problems und zweitens scheinen es primär die Interessen der US Oligarchen zu sein, die bedient werden!

      1. Wer am meisten zahlt, der darf anschaffen…. Überlegen sie mal was eine vdLeyen für einen Milliarden Vertrag, ohne irgendwelche Gewährleistung was das „Produkts“ angeht, von Pfizer geerbt haben muss…

    2. Von einem roten Faden autoritärer Systeme würde ich nur insofern sprechen, als dass politische Systeme, die ja immer auch mit dem Phänomen „Herrschaft“ zu tun haben, ganz allgemein und grundsätzlich dazu neigen, autoritär zu sein oder es wieder zu werden. Es handelt sich also um einen Zusammenhang, der im Grunde immer und überall wirksam ist. Immer und überall wird es Reiche und Mächtige geben, die versuchen, sich vom Rest der Bevölkerung abzugrenzen und die politischen Strukturen so autoritär zu gestalten, dass sie ihnen nutzen und Kritiker/Konkurrenten abwehren.

      Ebenso regelmäßig wird es dagegen aber auch Widerstand und Revolte geben, sodass es auf lange Sicht – und zumindest seit dem 18. Jahrhundert – ein Hin und Herr ergibt. Natürlich sind auch die jeweiligen technischen Vorzussetzungen und Wirtschaftsordnungen zu berücksichtigen.

      Das Problem liegt heute nun darin, dass die technische und wirtschaftliche Entwicklung in mehrfacher Hinsicht dazu geführt hat, dass die einfache Bevölkerung gegenüber den Mächtigen an Druckmitteln verloren hat. Die logische Konsequenz ist ein erneuter autoritärer Schub. Allerdngs nicht nur in Deutschland, sondern weltweit.

      Die Annahme, dass es so etwas wie eine geschichtliche Regelhaftigkeit in Richtung auf den Abbau von Herrschaft, die Entschärfung autoritärer Strukturen, die Zunahme von individueller Freiheit und sozialer Gleichheit geben müsse, ist daher ebenso ideologisch wie illusionär. Ich schreibe das durchaus mit Bedauern und ohne mich darüber zu freuen. Wogegen ich mich wende, ist lediglich die hoffnungsvolle Ansicht, dass es diesen Trend geben könnte.

      Autoritäre Strukturen oder den Versuch, freiheitlichere politische Verhältnisse wieder zugunsten bestimmter mächtiger und einflussreicher Kräfte ins Autoritäre abgleiten zu lassen, hatte und hat man doch überall in der Welt und längst nicht nur in Deutschland oder im 19., 20. oder 21. Jahrhundert.

      Natürlich hat @ Besdomny recht, wenn er auf den Unterdrückungsapparat der deutschen Fürstenstaaten im 19. Jahrhundert hinweist. Allerdings müsste man dann auch auf recht ähnliche Unterdrückungsmaßnahmen etwa in Russland, Österreich-Ungarn oder Spanien hinweisen – von außereuropäischen Ländern wie Japan, Mexiko oder dem Osmanischen Reich mal ganz zu schweigen.

      Der geringere autoritäre Druck in den damaligen USA und den westeuropoäischen Ländern Großbritannien und Frankreich erklärt sich lediglich daraus, dass in diesen Ländern die alten adligen Eliten revolutionär entmachtet worden waren oder aber, dass – wie in Großbritannien – die Herrschenden so absolut fest im Sattel saßen, dass ihnen die Kritik irgendwelcher Freigeister herzlich egal sein konnte. Dann fällt es eben leicht, liberal zu sein. Über gewisse autoritäre Züge der amerikanischen Demokratie (hoher Anpassungsdruck) hat zudem schon Tocqueville im 19. Jahrhundert geschrieben.

      Von daher scheint mir die Behauptung, dass autoritäres Denken nun in ganz charakteristischer Weise ein deutsches Problem sei, überhaupt nicht bewiesen und daher irreführend.

  2. Ein Staat hat jedes Recht einem die Einreise zu verwehren, aber ein Staat innerhalb eines gemeinsamen Verbundes wie die EU, vertritt nicht die gleichen beschlossenen Grundsätze!
    Damit würde ich meinen,das das illegal ist.

    Warum heisst man illegale Personen als willkommen und legale Personen als unwillkommen?

    1. Du schreibst es eigentlich selbst: jeder Staat hat das Recht. Und nun kommt die Illusion von Demokratie und Rechtsstaat an sein Ende und Staat funktioniert, wie schon immer in der Geschichte. Ich darf meinen Lieblingsautoren Joseph Heller zitieren: „ Sie haben das Recht alles zu tun, woran wir sie nicht hindern können.
      Sieht so aus, als wenn das eine ganze Menge ist, woran wir sie nicht hindern können. Mit Tendenz zu mehr.

    2. Weil er das falsche sagen wollte, die nicht legale Haltung hat.
      Es ist doch längst wieder soweit, wir leben im Faschismus.

  3. Wie meistens, sagt er das Richtige….

    Ist es nicht eigenartig, dass fähige ehrlich und offene Politiker in unserer Welt keinen Platz haben?

    Sehr zu empfehlen, sein Buch „Adults In The Room“. Seine Erlebnisse als griechischer Finanzminister , mit sehr interessanten Details zu Schäuble, der als extrem widerliche Person entlarvt wird !
    Am wichtigsten: Im Vorwort: Varoufakis Unterhaltung mit Larry Summers!

    Gibts auch als ausgezeichneten Film…

    1. Die Fähigen werden von den intriganten Mittelmäßigen weggebissen und weggemobbt. War schon immer die Spielstrategie der durchschnittlich Unbegabten.

      Die deutsche Reaktion hätte Varufakis nach den Erlebnissen beschrieben in seinem Buch auch vorhersehen können. Aber war natürlich schön die Innenansichten von solchen Verhandlungen zu lesen. Es bestätigte mir, was ich sowieso schon vermutet hatte, wie es bei solchen Verhandlungen zugeht.j

      1. „Die Fähigen werden von den intriganten Mittelmäßigen weggebissen und weggemobbt. War schon immer die Spielstrategie der durchschnittlich Unbegabten.“

        Ich bin berüchtigt dafür, dass ich genau dies nicht für richtig halten!
        Denn das Problem besteht darin, dass der Urnenpöbel, also die Massenmenschen, schlicht und einfach zu dumm, teilweise natürlich auch zu korrupt sind, um Leute zu wählen, die tatsächlich „fähig“ wären.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert