Grüne Mobilität in Berlin: Wie ein ungenutzter Weg zum Begegnungsraum wird

200 Meter Zukunft – in Kreuzberg wurde das Testfeld des Reallabor Radbahn eingeweiht. Die umgebaute Fläche unter dem Viadukt der U1 dient nicht nur als Versuchsfeld für urbane Mobilität: Sie fördert auch das Miteinander und die Klimaresilienz des Bezirks.

Von Insa Germerott
Veröffentlicht am 13. Mai 2024, 13:32 MESZ
Radweg unter einem Viadukt mit bepflanztem Rand und dem Wort "radbahn" auf dem Weg.

Flaniermeile mitten im geschäftigen Treiben: Das Versuchslabor der Berliner Radbahn liegt genau in der Mitte einer mehrspurigen Straße. 

Foto von Reallabor Radbahn

Skalitzer Straße, Berlin-Kreuzberg. Auf der vierspurigen Fahrbahn schlängeln sich hupende Autos durch den Nachmittagsverkehr. In der Mitte der Straße rattern die gelben Waggons der U1 über eine denkmalgeschützte Hochbahntrasse. Und direkt darunter: Parkplätze, Tauben und eine kilometerlange überdachte und versiegelte Strecke – weitestgehend verwaist. 

Warum nutzt Berlin diesen Raum unter dem Hochbahnviadukt der U1 nicht – zum Beispiel zum Radfahren? Das fragte sich der Unternehmer Martti Mela 2014 und trommelte daraufhin Bekannte aus Architektur, Stadtentwicklung und Politik zusammen. Ihr erklärtes Ziel: den ungenutzten Raum gemeinsam mit Bevölkerung und Politik zukunftsweisend und klimaresilient zu gestalten. Mit einem sicheren Radweg abseits der viel befahrenen Straße, langen Grünstreifen für den am dichtesten besiedelten Stadtbezirk und kleinen Inseln für Begegnungen und Auszeiten in der hektischen Innenstadt. Aus ihren Ideen entstand erst ein Konzept und schon bald ein Verein: der paper planes e.V.

Zehn Jahre Arbeit später wird die Berliner Radbahn seit Ende April 2024 im Reallabor getestet: 200 Meter Weg wurden dafür umgestaltet. Kostenpunkt: 600.000 Euro für den Umbau zum Testfeld, inklusive Landschaftsplanung und technischer Einrichtungen. Was gibt es nun dort in Kreuzberg und wie zukunftsfähig ist das Projekt – auch als Vorbild für andere Städte?

Die Radbahn sorgt für mehr Miteinander und Sicherheit

Buntes Treiben auf dem Testfeld: Die Radbahn ist nicht nur für Fahrradfahrer*rinnen ausgelegt. Sie ist als Begegnungsort konzipiert, an dem Menschen rücksichtsvoll miteinander in Kontakt kommen können.

Foto von Daniel Dinger

„In den letzten Jahren haben hier Autos geparkt und Tauben gelebt“, sagt Luise Flade, Pressesprecherin des Projekts Radbahn. Jetzt herrscht reges Treiben unter dem Viadukt: Eine Frau fährt mit ihrem Lastenrad über einen neu angelegten Radweg, Kinder spielen an einer Tafel, jemand repariert sein Fahrrad an der Radstation, Spaziergänger*innen flanieren vorbei oder machen Pause auf den neuen Holzbänken. „Die Radbahn ist nicht nur ein Radweg, sondern auch ein Begegnungsraum“, sagt Flade. „Wir wollten mit unseren 200 Metern zeigen, was bereits auf kleiner Fläche möglich ist – und daraus für die Zukunft lernen.“

Mit seiner in beiden Richtungen befahrbaren Radstrecke, einer kleinen Radreparaturstation und einem Grüne-Welle-Assistenten, der anzeigt, wann die Ampel an der nächsten Kreuzung grün wird, fördert der Umbau die nachhaltige Mobilität. Nun können auch ältere Personen, Kinder und Familien sicher und geschützt vor Verkehr, Wind und Wetter auf dem Rad unterwegs sein. „So werden unterschiedliche Wege für unterschiedliche Bedürfnisse geschaffen“, sagt Flade. Die Radbahn als entschleunigende Alternative zum vorhandenen Radweg an der Straße. Ein Raum, in dem man nicht auf sein Vorfahrtsrecht besteht, sondern aufeinander achtet. 

BELIEBT

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    Im Rahmen des Projekts wurden auch neue Sitzgelegenheiten geschaffen, um Menschen die Möglichkeit zu geben, miteinander in den Austausch zu kommen. 

    Rechts: Unten:

    Auf der hölzernen Tribüne lässt sich die Sonne am Rand der Radbahn genießen. 

    bilder von Reallabor Radbahn

    „Wir wollten dort ein Miteinander schaffen“, sagt Flade. Und das bereits von Anfang an: Von der Planung bis zur Umsetzung der Radbahn wurden alle Parteien ins Boot geholt, inklusive der Bürger*innen. Heute kann man durch WLAN, Steckdosen, diverse Sitzmöglichkeiten und eine Tribüne unter dem Viadukt in den Austausch kommen. 

    Durch den Umbau ist die Fläche nun auch klimaresilienter – dank entsiegelter Randflächen und neuer Bepflanzung. Verdunstungsbeete und Wassertanks sorgen dafür, dass das Regenwasser für trockene Perioden aufgefangen wird. Für Anwohner*innen gibt es sogar die Möglichkeit, Patenschaften für kleine Beete zu übernehmen und diese individuell zu bepflanzen. Und Insektenhotels und Vogelhäuschen am Rand der Strecke schützen die urbane Artenvielfalt. 

    Die Wassertanks am Rande der Radbahn sollen nicht nur Regenwasser auffangen, sondern dieses durch ein Filtersystem auch wieder zur Bewässerung nutzbar machen. 

    Foto von Reallabor Radbahn

    Fehlende Parkplätze: Wie soll urbane Mobilität künftig aussehen?

    Die gesamte Strecke unter dem historischen U-Bahn-Viadukt zwischen der Warschauer Straße und dem Bahnhof Zoo in Charlottenburg ist neun Kilometer lang. Sie führt durch insgesamt drei Bezirke der Hauptstadt. Bedeutet: Für einen kompletten Umbau der Strecke müsste eine große Zahl involvierter Parteien zustimmen. „Dazu müssten alle an einen Tisch – und dann auch noch an einem Strang ziehen”, sagt Flade. 

    Das ist nicht so einfach, trifft das Projekt doch nicht überall auf Begeisterung. Denn der Bereich wurde vorher unter anderem als Parkplatz genutzt. Die Politik und Autofahrer*innen machen auf die wegfallenden Flächen aufmerksam. Wie damit umgegangen werden soll, sollte die Radbahn zwischen Bahnhof Zoo und Warschauer Straße kommen, muss sich noch zeigen. „Von uns selbst gibt es kein Konzept für wegfallende Parkplätze, wir haben aber über andere Parkmöglichkeiten informiert”, sagt Flade. „Wir sind überzeugt davon, dass öffentlicher Raum gerecht aufgeteilt werden sollte: zwischen öffentlichem Verkehr, motorisiertem Individualverkehr, Radfahrer*innen und Fußgänger*innen. Bisher hatten Fahrradfahrer*innen nicht viel Raum in der Stadt, Autofahrer*innen dafür umso mehr. Da braucht es neue, gerechtere Konzepte für ein gemeinsames Miteinander.“ 

    Erst einmal müsse dafür der ÖPNV ausgebaut werden, denn es sollte Alternativen zum privaten Auto geben. Es geht schließlich nicht darum, jemandem etwas wegzunehmen, so Flade, sondern einen zukunftsorientierten Raum für alle zu schaffen.

    An der Reparaturstation der Radbahn kann man Fahrräder, Kinderwagen oder Rollstühle reparieren und aufpumpen. An einem Automaten daneben gibt es neue Fahrradschläuche zu kaufen. 

    Foto von Reallabor Radbahn

    Politische Hürden und offene Fragen

    „Unser Projekt soll als Anstoß dienen und zeigen, was mit ungenutzten öffentlichen urbanen Räumen passieren kann“, sagt Flade. Die Ergebnisse des Reallabors werden im Anschluss an das Projekt publiziert, „damit Berlin, aber auch ganz Deutschland von unseren Erfahrungen lernen kann“, erklärt Matthias Heskamp, Architekt und Geschäftsführer der Radbahn. So kann das Projekt zum Vorbild für andere öffentliche Orte werden – auch in anderen Städten.

    „Das erste überwiegend positive Feedback stärkt uns den Rücken“, sagt Heskamp. Sollten sich alle Parteien für die Erweiterung der Radbahn aussprechen, könnten Folgeabschnitte künftig sogar baulich für einen Bruchteil des Geldes realisiert werden. 

    Bis zum 15. Juni 2024 läuft die Testphase in Berlin-Kreuzberg noch, in der man auch selbst aktiv werden kann: Mithilfe einer Umfrage will der Verein herausfinden, wie der neue Stadtraum angenommen wird. Dazu sollen mindestens 1.000 Bürger*innen befragt werden. Im Anschluss wird das Projekt für Politik und Behörden ausgewertet. 

    Die neue Bodenbepflanzung soll den Stadtbezirk grüner und klimaresilienter machen. Der Boden darunter wurde nicht nur entsiegelt, sondern auch durch neue, wasserdurchlässigere Bodenschichten ersetzt. So können die Pflanzen drei bis vier Meter Höhe erreichen.

    Foto von Reallabor Radbahn

    Danach wird es die umgebaute Fläche zwar noch geben, allerdings ist die Frage der zukünftigen Pflege teilweise ungeklärt. Wer wartet beispielsweise die Radwerkstatt und den Verkehrszähler? Und wer kümmert sich ab 2026 um die Grünflächen? „Von der Stadt stehen für die Pflege des sogenannten ,Straßenbegleitgrüns‘, das wir installiert haben, lediglich 15 Cent pro Quadratmeter im Jahr zur Verfügung“, sagt Flade. Sollte es keine Entscheidung in der Politik geben, wird es Freiwillige und Beetpatenschaften brauchen, um die Flächen aufrechterhalten und den grünen Wandel in der Stadt langfristig ermöglichen zu können.

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