Regisseur Nuri Bilge Ceylan über seinen zehnten Film:
Regisseur Nuri Bilge Ceylan über seinen zehnten Film: "In Regionen, wo Verzweiflung in jedem Gesicht, Erschöpfung in jedem Schritt und Bitterkeit in der Stimme spürbar ist, werden die Spuren des 'Schicksals' besonders deutlich."
Nuri Bilge Ceylan

Die Provinz kann den Geist eines Städters brechen. So könnte die Moral von Nuri Bilge Ceylans neuestem Film Auf trockenen Gräsern – Kuru Otlar Üstüne lauten. Doch der türkische Regieveteran interessiert sich auch in seinem zehnten Werk nicht für einfache Antworten. Die schlummern, wenn überhaupt, unter der Schneedecke, in die sich die Geschichte fast bis zum Ende hüllt.

Wie schon in Ceylans Film Winterschlaf, mit dem er 2014 die Goldene Palme in Cannes gewonnen hat, dreht sich die Geschichte um einen Außenseiter in einem zentralanatolischen Dorf namens Incesu. Samet ist Kunstlehrer aus Istanbul und möchte lieber heute als morgen zurück in die Großstadt. Doch das türkische Bildungssystem verlangt ihm vor seiner Versetzung einige Jahre in der Provinz ab. Das hat der Möchtegern-Existenzialist mit seiner berühmten französischen Kollegin Simone de Beauvoir gemeinsam. Sein liberaler, gutmütiger Umgang mit den Schülern und Schülerinnen wird langsam aber sicher von den herrschenden Traditionen ausgehöhlt. Nach einem Vorfall rund um einen Liebesbrief seiner Lieblingsschülerin Sevim und Übergriffsvorwürfen kippt seine Winterschlafsstimmung in eisigen Zynismus.

Spaghetti und Melancholie

Es ist eine Art "emotionale Vergletscherung", wie es bei Österreichs Palmen-Gewinner Michael Haneke heißt. Auch in der türkischen Provinz birgt die Wärme der Liebe keine Garantie auf eine Gletscherschmelze. Ein Fluchtpunkt inmitten seiner inneren Kälte ist die Begegnung mit der Lehrerin Nuray für den Egoisten Samet aber allemal. Sie hat bei einem Terroranschlag ein Bein verloren, ihren politisch aufgeladenen Lebensmut aber nicht. Für diese charismatische Rolle, die in der zweiten Hälfte des Films ins Zentrum rückt, bekam Darstellerin Merve Dizdar in Cannes den Schauspielpreis. In einem langen Gespräch bei einem Teller Spaghetti und einer Flasche Wein stellt Nuray Samets überheblichen Individualismus auf die Probe. Dass auf diese großartige Schlüsselszene ein überraschender Brecht'scher Bruch mit der Illusion folgt, macht die Beziehung umso mysteriöser.

Filmladen Filmverleih

Zwischen den ausführlichen Dialogen dieser winterlichen Reise holt Nuri Bilge Ceylan immer wieder seine charakteristische Melancholie in poetischen Bildern auf die Leinwand. Darin ist er ein würdiger Nachfolger seiner Lieblingsregisseure Yasujirō Ozu, Andrei Tarkowski und Michelangelo Antonioni. Hobbyfotograf Samet liefert dem gelernten Profifotografen Ceylan den Vorwand für Porträts der Einheimischen, die die Geschichte unterbrechen. Damit greift der Zynismus der Hauptfigur nicht auf den Film über. Und auch die winterlichen Landschaftsaufnahmen tun das ihre, den anatolischen Genius Loci spürbar zu machen. Stolze 197 Filmminuten gönnt sich der Palmen-Gewinner für seine an sich kleine Charakterstudie. Ob es diese monumentale Überlänge braucht? Auch diese Frage lässt der türkische Arthouse-Epiker Ceylan unbeantwortet. (Marian Wilhelm, 13.5.2024)