Orang-Utan verarztet sich selbst mit Heilpflanze

Naturheilkunde im Urwald: Forschende beobachten auf Sumatra erstmals ein Wildtier bei der wirksamen Wundversorgung. Die gewählte Heilpflanze des Affen ist aus der Humanmedizin bekannt.

Der männliche Sumatra Orang-Utan Rakus hatte sich eine große Wunde zugezogen. Innerhalb kurzer Zeit war diese – auch dank seiner Selbstmedikation – vollständig verheilt.

Foto von Armas / Suaq Project
Von Marina Weishaupt
Veröffentlicht am 14. Mai 2024, 08:52 MESZ

Die prominente, frische Wunde unterhalb seines Auges sieht tief und schmerzhaft aus. Rakus, ein männlicher Sumatra Orang-Utan (Pongo abelii) weiß sich jedoch zu helfen. Nur wenige Tage nachdem er sich die Verletzung im Gesicht zugezogen hat, beobachten Forschende des Suaq-Programm auf Sumatra den wild lebenden Affen dabei, wie er den Heilungsprozess aktiv beschleunigt. Das Mittel seiner Wahl: Die Heilpflanze Akar Kuning (Fibraurea tinctoria).

Damit konnten Wissenschaftler*innen des Max-Planck-Instituts für Verhaltensbiologie und der indonesischen Universitas Naisonal erstmals eine effiziente Selbstmedikation zur Wundbehandlung mittels einer biologisch wirksamen Heilpflanze bei einem Wildtier feststellen. Ihre Studie wurde im Fachmagazin scientific reports veröffentlicht.

Orang-Utan beschleunigt Wundheilung mit Mittel aus Humanmedizin

„Bei der täglichen Beobachtung der in der Gegend lebenden Orang-Utans fiel uns auf, dass der männliche Orang-Utan Rakus eine Gesichtswunde erlitten hatte“, sagt Isabelle Laumer, Erstaurorin der Studie. Mit hoher Wahrscheinlichkeit habe ihm diese ein Artgenosse während eines Kampfes zugefügt. Drei Tage später observierten die Forschenden Rakus dabei, wie er einzelne Blätter einer Pflanze zerkaute. Wiederholt trug er die Flüssigkeit, die dabei entstand, auf seiner Wunde unterhalb seines Auges auf. Anschließend nutzte er die zerkauten Blätter der Liane, um seine Verletzung vollständig zu bedecken.

Dokumentation des Wundheilungsprozesses. Das vierte Foto (25.06.2022) zeigt den Tag, an dem Rakus erstmals beobachtet wurde, Fibraurea tinctoria auf seine Verletzung aufzutragen.

Foto von Laumer et al.

Zusätzlich schien der Affe sein Verhalten während des Heilungsprozesses zu verändern: „Interessanterweise ruhte Rakus, als er verletzt war, auch mehr als sonst“, erklärt Laumer. „Schlaf wirkt sich positiv auf die Wundheilung aus, da die Freisetzung von Wachstumshormonen, die Proteinsynthese und die Zellteilung im Schlaf gesteigert ist.“ In den Folgetagen stellten die Wissenschaftler*innen keine Anzeichen für eine Infektion fest. Nach nur acht Tagen war die Wunde verschlossen.

Absicht oder glücklicher Zufall? Rakus nutzt traditionelles Heilmittel 

Laut den Forschenden wählte Rakus die Blätter der Pflanze Akar Kuning (Fibraurea tinctoria) selektiv und scheinbar mit Bedacht. „[Akar Kuning] und verwandte Lianenarten kommen in tropischen Wäldern Südostasiens vor, sind für ihre schmerzstillende und fiebersenkende Wirkung bekannt und werden in der traditionellen Medizin zur Behandlung verschiedener Krankheiten wie Malaria eingesetzt“, sagt Laumer.

Antibakteriell, entzündungshemmend, antimykotisch und antioxidativ: Die heilenden Eigenschaften von Akar Kuning gehen auf die darin enthaltenen Furano-Diterpenoide und Protoberberin-Alkaloide zurück. Doch inwiefern kann sich der Orang-Utan dessen bewusst sein? Bisher wurde diese Art der Selbstmedikation noch nie zuvor beobachtet.

BELIEBT

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    Tatsächlich könnte es sich dabei um einen glücklichen Zufall gehandelt haben. „Da Fibraurea tinctoria eine starke analgetische Wirkung hat, können die Tiere eine sofortige Schmerzlinderung verspüren, was dazu führt, dass sie das Verhalten mehrmals wiederholen“, sagt Caroline Schuppli, Mitautorin der Studie. Allerdings ist bisher unklar, ob es eine individuelle Erfahrung für Rakus war, oder ob andere Tiere die Pflanze ebenso als Heilmittel verwenden. Eine andere Theorie ist, dass Rakus diese Art der Wundversorgung bereits vor der Pubertät von anderen Affen außerhalb des Suaq-Forschungsgebietes erlernt haben könnte. Denn die Herkunft des Orang-Utans ist nicht bekannt.

    Fest steht laut Erstautorin Laumer: Beabsichtig oder nicht – das mehrmalige Auftragen des Pflanzensaftes scheint durchaus beabsichtigt gewesen zu sein. Dies schlossen sie und ihr Kollegium daraus, dass Rakus keine anderen Körperteile, sondern ausschließlich seine Verletzung mit der Heilpflanze behandelte. Zudem wiederholte er das Verhalten mehrmals mit Blättern derselben Heilpflanze und investierte einige Zeit darin – bis seine Wunde vollständig damit bedeckt war.

    Selbstmedikation von Wildtieren und Menschen

    Dass Menschenaffen Pflanzen zur Behandlung von Krankheitssymptomen verwenden, ist bereits seit einigen Jahrzehnten bekannt. So wies etwa Jane Goodall während der frühen 1960er-Jahre in Tansania erstmals ein Verhalten nach, das heute als sogenanntes leaf swallowing bekannt ist. Im Kot von Schimpansen (Pan troglodytes) hatte sie gänzlich unverdaute Blätter entdeckt. Später konnte dieses Verhalten in Kombination mit dem Kauen von bitterem pflanzlichen Mark bei einigen Menschenaffen mit dem Zweck therapeutischer und antiparasitärer Funktionen belegt werden.

    Links: Die 15 bis 17 Zentimeter langen Blätter der von Rakus verwendeten Pflanze Fibraurea tinctoria. Rechts: Rakus beim Kauen von Blättern der Heilpflanze.

    Foto von Saidi Agam / Suaq Project

    Die Studie von dem Team um Laumer zur Selbstmedikation bei Wildtieren, auch Zoopharmakognosie genannt, liefert zudem wertvolle Erkenntnisse über die evolutionären Ursprünge der Humanmedizin. Formen der aktiven Wundbehandlung kommen nicht nur beim Menschen, sondern auch bei afrikanischen und asiatischen Menschenaffen vor, heißt es in der Studie. Daher könnte man möglicherweise auf einen „gemeinsamen zugrunde liegenden Mechanismus für die Erkennung und Anwendung von Substanzen mit medizinischen oder funktionellen Eigenschaften auf Wunden“ schließen.

    Für eine Antwort auf die Frage, ob die Ähnlichkeiten in der Wundpflege von Mensch und Menschenaffen auf den letzten gemeinsamen Vorfahren zurückgehen könnten, bedarf es weiterer Forschung. Die Beobachtung der schätzungsweise 150 verbleibenden und vom Aussterben bedrohten Sumatra Orang-Utans im Forschungs- und Naturschutzprojekt Suaq Balimbing könnte dazu beitragen.

    Orang-Utans
    • Name: Orang-Utans
    • Wissenschaftlicher Name: Pongo
    • Klasse: Säugetiere
    • Durchschnittliche Lebenserwartung in freier Wildbahn: 30 bis 40 Jahre
    • Größe: Aufgerichtet 1,22 bis 1,52 Meter
    • Gewicht: 30 bis 100 Kilo
    • Größe im Vergleich zu einem 1,80 Meter großen Menschen: Größe im Vergleich zu einem 1,80 Meter großen Menschen
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