Rezension: Le choix de la défaite

Annie Lacroix-Riz analysiert die umfassende Orientierung einflussreicher Segmente der französischen Eliten auf Deutschland in den 1930er Jahren und den fließenden Übergang in die Kollaboration.

„Der Tag wird kommen“, schrieb der französische Historiker Marc Bloch im April 1944, „und das vielleicht schon bald, an dem es möglich sein wird, Licht in die Machenschaften zu bringen, die bei uns von 1933 bis 1939 zugunsten der Achse Berlin-Rom getrieben wurden, um ihr die Herrschaft über Europa zu übertragen“. Bloch, der sich der Résistance angeschlossen hatte, um gegen das deutsche Besatzungsregime zu kämpfen, war kurz zuvor, am 8. März, in Lyon von der Gestapo festgenommen, inhaftiert und schwer gefoltert worden. Den Tod vor Augen, trieb ihn um, was er schon im Sommer 1940, kurz nach Frankreichs Kriegsniederlage gegen das Deutsche Reich, in seiner Schrift L’étrange défaite (Die seltsame Niederlage) konstatiert hatte: dass nämlich die französischen Eliten – Militärs, Politiker, Publizisten, insbesondere aber Industrielle – bereit gewesen seien, „eigenhändig das gesamte Gebäude unserer Allianzen und unserer Partnerschaften zu zerstören“, nur um zur offenen Kollaboration mit den Deutschen überzugehen. Der Kollaboration fiel, nach so vielen anderen, auch Bloch zum Opfer: Die Nazis brachten ihn am 16. Juni 1944 um.

Annie Lacroix-Riz, emeritierte Professorin für Zeitgeschichte an der Université Paris-Diderot (Paris-VII), hat Blochs Urteil über die Rolle der französischen Eliten in den 1930er Jahren ihrem Werk Le choix de la défaite (Die Wahl der Niederlage) vorangestellt, das jetzt in dritter aktualisierter und erweiterter Auflage erschienen ist. Man kann ihre voluminöse, detaillierte und aus zahllosen Archivquellen gesättigte Untersuchung als Beleg begreifen, dass Bloch mit seiner bemerkenswerten, wenngleich auf den ersten Blick doch verblüffenden Einschätzung völlig richtig lag.

 

Lacroix-Riz zeichnet die politische Entwicklung einflussreicher Segmente der französischen Eliten, die besonders mit der Banque de France und dem Comité des Forges (Hüttenkomitee) verbunden waren, einem Zusammenschluss der französischen Stahlindustriellen, im Verlauf der 1930er Jahre nach. Zum einen skizziert sie die Nähe zu faschistischen Konzepten nach italienischem oder, insbesondere ab 1933, nach deutschem Modell, die sich in diesen Kreisen entwickelte; Ursache war das Bestreben, die französische Linke so wirksam wie möglich zu bekämpfen. Um den „inneren Feind“ offen zu attackieren, finanzierten Teile der Eliten die faschistischen Organisationen, die im Verlauf der 1930er Jahre auch in Frankreich ihr Unwesen trieben und beispielsweise am 6. Februar 1934 gewalttätige Unruhen anzettelten – ein vom Comité des Forges unterstützter Putschversuch, urteilt Lacroix-Riz.

 

Der Front populaire (Volksfront), ein Zusammenschluss von Parteien unterschiedlichster linker Schattierungen, die ab 1936 die Regierung stellten und entschlossen die faschistische Gefahr zurückdrängen wollten, stärkte in den rechtsorientierten Segmenten der französischen Eliten die Bereitschaft, zur Durchsetzung ihrer Positionen neue Wege zu gehen. Schon zuvor hatten die Methoden, mit denen der NS-Staat die Profitmaximierung förderte, erhebliche Aufmerksamkeit bei französischen Bankiers und Industriellen geweckt. Auch hatte sich die Pariser Außenpolitik in mancher Hinsicht an die deutschen Ordnungspläne für den Kontinent angepasst; in Ost- und Südosteuropa wurden Frankreichs Verbündete, die sich zur Kleinen Entente zusammengetan hatten – die Tschechoslowakei, Jugoslawien und Rumänien –, mehr oder weniger der deutschen Expansion überlassen, während Paris eine mögliche Kooperation mit der Sowjetunion zum gemeinsamen Vorgehen gegen die drohende faschistische Gefahr scheitern ließ.

 

Letztlich sei der Hass gegen den „inneren Feind“ stärker gewesen als derjenige gegen den „äußeren Feind“, konstatiert Lacroix-Riz. Er habe dazu geführt, dass einflussreiche Segmente der französischen Eliten etwa aus der Banque de France oder aus dem Comité des Forges die Kollaboration mit dem Deutschen Reich einem erbitterten Abwehrkampf gegen jenes vorgezogen hätten, das sie doch in vielerlei Hinsicht bewunderten – „lieber Hitler als Blum“, lautete bei nicht wenigen in der französischen Bourgeoisie das Motto. Wie anders ließe sich auch erklären, dass Frankreich zwar am 3. September 1939 Deutschland den Krieg erklärte, aber weitgehend untätig blieb und nach dem deutschen Überfall am 10. Mai 1940 binnen weniger Wochen kollabierte – erstaunlich für eine Macht seines Formats. „Wir haben Frankreich nicht besiegt“, erklärte später General Walter von Reichenau, der beim Angriff auf Belgien und Frankreich die deutsche 6. Armee kommandierte: „Es ist uns übergeben worden.“

 

Ein bitteres, aber abgeschlossenes historisches Kapitel? Keinesfalls. Als Frankreich nach der Befreiung die Kollaboration und ihre Verbrechen aufzuarbeiten begann, da gingen gerade aus den inneren Machtzirkeln der französischen Eliten, die 1940 – und schon davor – „die Wahl der Niederlage“ getroffen hatten, viele straffrei aus. Die Vorgänge beleuchtet Lacroix-Riz in einem anderen Werk (La non-épuration en France, Paris 2019). Zudem gewannen politisch mit der Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) nicht zuletzt ebenjene französischen Stahlindustriellen wieder eine maßgebliche Bedeutung, die einst im Comité des Forges die ungemein intensive Zusammenarbeit mit dem Deutschen Reich bis in die offene Kollaboration vorangetrieben hatten. Sie sind Teil des Gründungsmythos der EU.

 

Annie Lacroix-Riz: Le choix de la défaite. Les élites françaises dans les années 1930. Dunod. Malakoff 2023. 1224 Seiten. 13,90 Euro.


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