Schlüsselwörter

1 Vorbemerkungen

Der Jurist und spätere Richter am Bundesverfassungsgericht Ernst-Wolfgang Böckenförde stellte gegen Ende seines bekannten Aufsatzes Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation (1967) die Frage, worauf der moderne Staat, der seine Legitimation nicht mehr religiös herleiten kann, sich „am Tag der Krise“Footnote 1 noch stützen könne. Auf Nachfrage ließ er zwar keinen Zweifel daran, dass er die Einführung von verpflichtenden Bekenntnissen zu bestimmten Werten, seien sie nun religiöser oder weltanschaulicher Art, für unvereinbar mit freiheitlichen Ordnungen und der Trennung von Religion und Staat hielt;Footnote 2 die Frage nach der Legitimation der staatlichen Ordnung stellt sich aber nur umso dringlicher, wenn sie nicht mehr verschoben werden kann, indem der Staat „sich zum Erfüllungsgaranten der eudämonistischen Lebenserwartungen der Bürger macht und daraus die ihn tragende Kraft zu gewinnen sucht.“Footnote 3 Das mehr oder weniger absehbare Ende des Wohlfahrtsstaates, an dessen Wirtschaftswachstum die Mehrheit der Bürger, wenn auch in unterschiedlichem Maße, partizipiert, bildet nach Böckenfördes mitten in der Prosperitätsphase der Bundesrepublik gestellten Diagnose den Hintergrund der jetzt seit etwa zwei Jahrzehnten in die Öffentlichkeit zurückgekehrten Frage nach dem Verhältnis von Politik und Religion. Denn solange die Bürger ihre individuellen Zukunftshoffnungen mit dem wirtschaftlichen Aufstieg verbinden können, sind sie in der Regel bereit, Fragen nach der Verteilungsgerechtigkeit, nach dem Gewaltmonopol des Staates und der Legitimation der staatlichen Ordnung zurückzustellen.

Umgekehrt stellen sich diese Fragen mit Vehemenz, wenn der Staat seinen Bürgern keine realistischen Aussichten mehr auf die Erfüllung individueller Hoffnungen gewähren kann. Die dichte Folge von Krisen seit den Anschlägen auf das World Trade Center im Jahre 2001, der Abbau des Wohlfahrtsstaates seit der Finanzkrise von 2008, zunehmend rechtsextreme Tendenzen seit der Flüchtlingskrise von 2015, die Covid-19-Pandemie der Jahre 2020 bis 2022, der Ukrainekrieg seit 2022, das Schwinden der Hoffnung auf erträgliche Lebensbedingungen für die jüngere Generation durch den Klimawandel – an diesen und anderen Krisen zerschellen die „eudämonistischen Lebenserwartungen“, die Böckenförde wohl zu Recht als Bedingung für die Zurückstellung fundamentaler Fragen nach der Legitimation des Staates ansieht.

„Je stärker Menschen solchen Krisen ausgesetzt sind, desto eher werden sie auch religiöse Mittel zur Bewältigung dieser Bedrohungen in Anspruch nehmen“,Footnote 4 schreibt Martin Riesebrodt. Daran dürfte zumindest richtig sein, dass die Erschütterung der ökonomischen, politischen, kulturellen und selbst natürlichen Fundamente des Zusammenlebens Reflexionen in Gang setzt, die den Horizont des Hier und Jetzt überschreiten. Sie lassen aber, wenn das Ausweichen im Raum zunehmend schwieriger wird, nurmehr Antworten in drei Dimensionen zu: politisches Handeln für die Sicherung der Lebensgrundlagen im Vertrauen auf die Vernunft (Zukunft); Rückzug auf vermeintlich festere Fundamente wie die ‚Nation‘ (Vergangenheit); oder eben, wie Hermann Lübbe die Religion charakterisiert, eine „Lebenspraxis, durch die wir uns in ein vernünftiges Verhältnis zur unverfügbaren Kontingenz unseres Lebens und seiner unverfügbaren Bedingungen setzen“Footnote 5 (Transzendenz), die sich mit einer der beiden anderen Dimensionen verbinden kann.

Diskussionen über das Verhältnis von Religion und Politik durchziehen daher – neben denen über den vernünftigen und gesellschaftlich verträglichen Umgang mit den natürlichen Ressourcen und die Nation – seit gut zwanzig Jahren nicht nur den öffentlichen, den politischen und juristischen, sondern auch den kultur- und sozialwissenschaftlichen Diskurs in Deutschland: über Religion als Mittel des gesellschaftlichen Zusammenhalts, ihre pazifizierenden oder gewaltfördernden Wirkungen, über eine ‚christlich-deutsche Leitkultur‘, über Kopftücher, Kreuze in Schul- und Amtsstuben, das westeuropäische Christentum im Verhältnis zum Islam und zum Judentum bzw. Israel sowie zum orthodoxen Christentum und mehr. 2018 wurde das Amt eines Beauftragten der Bundesregierung für Religions- und Weltanschauungsfreiheit geschaffen. Am Schnittpunkt von Religions- und Sozialwissenschaften hatten Titel wie Die Rückkehr der Religionen oder Die Wiederkehr der Götter Erfolg,Footnote 6 und bald schlug sich die Diskussion über eine Fülle von Monographien und Sammelbänden hinaus in Handbüchern,Footnote 7 Neugründungen von wissenschaftlichen Gesellschaften, Sonderforschungsbereichen, Forschungsschwerpunkten und -instituten,Footnote 8 BuchreihenFootnote 9 und FunkkollegsFootnote 10 nieder.

Die neuere Diskussion in der Religionssoziologie und den Kulturwissenschaften bleibt dabei – mit Ausnahme der wichtigen Debatte um Jan Assmanns ‚Monotheismusthese‘ – im Wesentlichen auf die großen monotheistischen Religionen beschränkt. Polytheistische Religionen werden nur am Rande diskutiert, und zwar zum einen im Verhältnis zu den achsenzeitlichen Religionen, die sich von ihnen lösten,Footnote 11 zum anderen insofern sie wissenschaftshistorisch eine Rolle spielen,Footnote 12 und zum dritten insofern sie als eine ihrer Quellen innerhalb der europäischen Kultur und speziell des Christentums weiterhin präsent sind.Footnote 13 Diese Limitierung liegt zwar in der Natur der Sache, da die Auslöser der aktuellen Krisen, soweit sie religiös mitinduziert sind, im Verhältnis des bundesdeutschen liberalen Gesellschaftsmodells zum Islam (multireligiöse Gesellschaft, Terrorismus), zum Judentum (nationalsozialistische Vergangenheit, Solidarität mit Israel als Staatsräson) und zum orthodoxen Christentum (Ukrainekrieg) liegen; im Vergleich zu den klassischen religionssoziologischen Untersuchungen Émile Durkheims und Max Webers führt sie allerdings unmittelbar zu einer Beschränkung des Diskurses um Religion und Politik. Dieser Band macht es sich zur Aufgabe, diesem Manko in einem ersten Schritt abzuhelfen. Der Fokus auf Japan legitimiert sich von seiner Sonderstellung unter den Ländern mit polytheistischer Religiosität her: Nur dort gelang die Transformation zu einer demokratischen Industriegesellschaft ohne vorherige Kolonisierung unter Beibehaltung der polytheistischen Tradition, die dabei freilich fundamentalen Wandlungen unterzogen wurde, um mit den (damaligen) westlichen Konzepten von KolonialismusFootnote 14 und NationFootnote 15 kompatibel zu werden. Nur der japanische Polytheismus begegnet dem westlichen Monotheismus sozusagen auf Augenhöhe und vermag daher eher als andere festverwurzelte Urteile zu korrigieren.

Diese Einleitung bringt zunächst eine zusammenfassende Darstellung des Verhältnisses von Religion und Politik in Japan, um den Zugang zu den folgenden Beiträgen fachfremden Lesern zu erleichtern (Abschn. 2). Es schließt sich ein knapper Durchgang durch die inzwischen auch kritisch diskutierten, aber weiterhin wirksamen klassischen Religionstheorien Webers und Durkheims sowie die neueren Walter Burkerts und René Girards an, jeweils mit Reflexionen über ihr Verhältnis zu Japan bzw. zum Polytheismus (Abschn. 3). Assmanns Monotheismusthese wird hier mit Verweis auf die Beiträge von Weiß und Mandelartz übergangen. Die Einleitung schließt mit einem gerafften Überblick über die Beiträge (Abschn. 4).

2 Religion in Japan

Wer sich dem Phänomen japanischer Religiosität anzunähern versucht, sieht sich zunächst mit einer Reihe scheinbarer Widersprüche konfrontiert. So zählt das japanische Amt für Kunst und Kultur in seiner jährlichen nationalen Erhebung zur Religionszugehörigkeit für das Jahr 2018 86 Mio. Shintōisten, 85 Mio. Buddhisten, knapp 2 Mio. Christen sowie etwas weniger als 8 Mio. Anhänger anderer Religionen. Das ergibt die stolze Summe von 181 Mio. Japanern mit Religionszugehörigkeit bei einer Gesamtbevölkerung von damals 126 Mio.Footnote 16 Noch verwirrender erscheinen diese Zahlen, wenn man eine repräsentative Umfrage der öffentlichen Rundfunkanstalt NHK aus demselben Jahr vergleicht. Die Frage „Gibt es eine Religion, an die Sie glauben?“ bejahten dort lediglich 36 % der Befragten (31 % Buddhismus, 3 % Shintō, 1 % Christentum, 1 % andere), 62 % antworteten, es gäbe keine Religion, an die sie glaubten.Footnote 17

Die folgenden Abschnitte stellen den Versuch dar, diese scheinbaren Widersprüche aufzulösen. Zunächst geht es dabei um die Wechselwirkungen und traditionell engen Beziehungen zwischen Shintō und Buddhismus, deren Praktiken und Lehren in der Vormoderne so eng miteinander verwoben waren, dass man kaum von getrennten Traditionen sprechen kann, sowie um die rituelle ‚Arbeitsteilung‘, die sich aus dieser engen historischen Verbindung entwickelte und bis heute fortwirkt (Abschn. 2.1). Der Begriff ‚Religion‘ wurde im Zuge von Japans Begegnung mit dem Westen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eingeführt. Dies führte zu einer Kategorisierung und Reinterpretation bestehender Traditionen, die teils tiefgreifende rechtliche und gesellschaftliche Folgen hatte (Abschn. 2.2). Anschließend wird die Rolle des Shintō in der Nationalstaatsbildung sowie im Ultranationalismus und Imperialismus in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts thematisiert (Abschn. 2.3), bevor der letzte Teil wichtige religionsgeschichtliche Ereignisse im Nachkriegsjapan aufgreift, die von zentraler Bedeutung für ein Verständnis der geringen Begeisterung vieler Japanerinnen und Japaner für Religion in der Gegenwart sind (Abschn. 2.4).

2.1 Shintō und Buddhismus: Interaktionen und Wechselwirkungen

Der Shintō gilt im Allgemeinen als die ursprüngliche Religion Japans, die bereits vor der Einführung des Buddhismus im 6. Jahrhundert praktiziert worden sei. Der Begriff ‚Shintō‘ taucht jedoch erstmals im Nihon shoki (720) auf, einer auf kaiserlichen Befehl abgefassten Chronik, welche die Geschichte Japans von der Erschaffung der Inseln durch die Götter bis zum Ende der Regierungszeit der Kaiserin Jitō (reg. 686–697) aufzeichnet.Footnote 18 Hier lesen wir, dass Kaiser Yōmei (reg. 585?–587?) an die buddhistische Lehre glaubte und Shintō respektierte,Footnote 19 wohingegen Kaiser Kōtoku (reg. 645–654) die buddhistische Lehre respektierte, aber den Shintō gering achtete.Footnote 20 Derselbe Kōtoku erließ ein Edikt, demzufolge die Sonnengöttin Amaterasu ihren Nachkommen die Herrschaft über Japan mit den Worten überlassen habe, diese sollten kannagara über das Land herrschen. Das Adverb kannagara wird im Nihon shoki folgendermaßen erklärt: „Kannagara bedeutet ‚Shintō befolgen‘ oder ‚Shintō in sich tragen‘“.Footnote 21 In der traditionellen Forschung wurden diese Passagen dahingehend interpretiert, dass es vor der Ankunft des Buddhismus in Japan bereits eine vollständig entwickelte einheimische Religion gegeben habe, für die nach der Einführung der neuen religiösen Tradition vom asiatischen Festland der Name ‚Shintō‘ geprägt worden sei. Die neuere Forschung geht hingegen davon aus, dass es sich bei diesen frühesten Nennungen von ‚Shintō‘, das mit den chinesischen Schriftzeichen für ‚Weg der Götter (kami)‘ geschrieben wird, um den buddhistischen Oberbegriff für alle nicht-buddhistischen Gottheiten handelt. In dieser Bedeutung lassen sich die Schriftzeichen auch in früheren chinesischen Texten nachweisen. Zu dem Zeitpunkt, als Shintō erstmals historisch greifbar wird, ist die Tradition demnach bereits in einem buddhistischen Auslegungsmuster verortet: Japanische Gottheiten gelten als potenzielle Hindernisse bei der Verbreitung der buddhistischen Lehre und müssen daher – genauso wie daoistische Gottheiten in China – zum Buddhismus bekehrt werden.Footnote 22

Zur Bekehrung lokaler Gottheiten errichteten buddhistische Mönche bereits gegen Ende des siebten Jahrhunderts Tempel direkt neben den Heiligtümern einheimischer Gottheiten, in denen buddhistische Riten für die kami abgehalten wurden. So entstanden nach und nach Schrein-Tempel-Komplexe, die sowohl Schreinpriester als auch buddhistische Mönche beschäftigten. Es gab jedoch auch den umgekehrten Fall, dass auf Tempelarealen Schreine für kami errichtet wurden, welche die buddhistische Lehre beschützen sollten. Die sogenannte honji suijaku-Konzeption stellte eine Rationalisierung derartiger Interaktionen dar. Dieser Lehre zufolge waren Menschen nicht dazu in der Lage, die ‚Essenz‘ (honji) von Buddhas und Bodhisattvas zu begreifen, weshalb diese sich zum Zweck der Bekehrung als ‚Spuren‘ (suijaku) in der Gestalt von kami manifestierten. Im Laufe des Mittelalters und bis in die Neuzeit brachte die honji suijaku-Konzeption immer komplexere Assoziationsketten hervor, die neben kami, Buddhas und Bodhisattvas auch Yin-Yang-Gottheiten, Dämonen sowie historische Kulturhelden aus Japan, China und Indien umfassten.Footnote 23 Auch die klare Hierarchisierung trat mehr und mehr in den Hintergrund, sodass teilweise Buddhas zu ‚Spuren‘ und kami oder gar Menschen zu ‚Essenzen‘ erklärt wurden.Footnote 24 Im 15. Jahrhundert drehte Yoshida Kanetomo (1435–1511) den Spieß schließlich um und erklärte Shintō zur Wurzel aller Religionen. In der Lehre des von ihm begründeten Yoshida Shintō, die bis zum Ende der Neuzeit einflussreich bleiben sollte, galten fortan die kami als ‚Essenzen‘ und Buddhas und Bodhisattvas als ‚Spuren‘.Footnote 25

In der älteren Forschung werden diese komplexen interreligiösen Austauschprozesse und Wechselwirkungen häufig unter dem Begriff Synkretismus subsumiert. In der neueren Forschung wird dieser Begriff jedoch zusehends kritisch gesehen. Synkretismus beschreibt in der Regel die Verschmelzung von zwei oder mehreren voll entwickelten Religionen. Im Fall Japans hat sich der Shintō jedoch erst in der Interaktion mit dem Buddhismus zu einer systematisierten Religion entwickelt. Darüber hinaus ist der Begriff mit negativen Konnotationen – als ‚Korruption‘ oder ‚Bastardisierung‘ vormals ‚reiner‘ religiöser Traditionen – belastet.Footnote 26 Der japanische Begriff shinbutsu shūgō, d. i. ‚shintoistisch-buddhistischer Synkretismus‘ ist ein Neologismus, der im späten 19. Jahrhundert als Gegenbegriff zu shinbutsu bunri, ‚Trennung von kami und Buddhas‘, entstand.Footnote 27 Der letztere Begriff beschreibt eine Reihe von Edikten, mit denen die frisch an die Macht gelangte Meiji-Regierung ab dem Jahr 1868 die institutionelle Trennung von Shintō und Buddhismus vorantrieb. Diese Edikte verboten das Verehren von Shintō-Gottheiten unter buddhistischen Namen oder mit buddhistischen Ritualen. An Schreinen angestellte buddhistische Mönche wurden zwangsweise laisiert und zu Shintō-Priestern umgeschult, buddhistische Statuen und Ritualgegenstände aus Schreinen entfernt und buddhistische Gebäude teils niedergerissen.Footnote 28 Auf die Hintergründe dieser politischen Maßnahme wird unten noch einzugehen sein.

Das religiöse Leben an vormodernen Schrein-Tempel-Komplexen war durch eine komplexe Arbeitsteilung zwischen buddhistischem Klerus und Schreinpriestern gekennzeichnet.Footnote 29 Auch in der heutigen japanischen Gesellschaft ist das Verhältnis von Shintō und Buddhismus von einer Art rituellen Arbeitsteilung geprägt, prägnant ausgedrückt in der Redensart „Bei der Geburt Shintōist, beim Tod Buddhist.“ Demnach wird Shintō prinzipiell als eine lebensbejahende Religion angesehen, deren Riten sich häufig um Anfänge, Fruchtbarkeit und Wachstum drehen, während der Buddhismus in erster Linie als eine Religion des Todes gilt.Footnote 30

Die meisten Menschen in Japan werden nach buddhistischer Sitte beigesetzt. Üblicherweise geschieht dies in einem Familiengrab, das sich in einem buddhistischen Tempel im Heimatort des Verstorbenen befindet. Die hinterbliebenen Familienangehörigen besuchen dieses Grab in regelmäßigen Abständen und bewahren ein Täfelchen mit dem posthumen Namen des Verstorbenen in einem häuslichen buddhistischen Altar (butsudan) auf, den man auch im scheinbar so säkularisierten Japan nach wie vor in vielen Haushalten findet. Auch an diesem häuslichen Altar werden in bestimmten Abständen nach dem Tod Riten durchgeführt. Viele Menschen bringen den hier eingeschreinten Vorfahren regelmäßig Speisen dar und halten sie über familiäre Ereignisse wie die schulischen Leistungen der Kinder auf dem Laufenden. Der Buddhismus fördert somit den familiären Zusammenhalt – auch über den Tod hinaus.

Im Shintō steht hingegen eher die lokale Gemeinschaft als die individuelle Familie im Mittelpunkt der rituellen Praxis. Kurz nach der Geburt werden Kinder üblicherweise zum lokalen Schrein gebracht und dem Schutz der dortigen Gottheit anvertraut. Dieser Ritus markiert die Aufnahme des Kindes in die lokale Gemeinschaft. Im November jeden Jahres füllen sich beim shichigosan-Fest die Schreine mit in prächtige Kimonos gekleideten Kindern und ihren Eltern. Dieses Fest, an dem Mädchen im Alter von drei und sieben Jahren sowie fünfjährige Jungen teilnehmen, stellt eine Erneuerung des Schutzversprechens durch die lokale Gottheit dar. Vor allem handelt es sich jedoch um eine Zelebrierung des Wachstums der Kinder, die auf Fotos und Videos festgehalten wird. Auch der Beginn des neuen Jahres wird üblicherweise am Schrein gefeiert. Bekannte Schreine wie der Meiji-Schrein in Tōkyō oder der Fushimi Inari in Kyōto können den Ansturm von Millionen Besuchern in der Nacht des 31. Dezembers und in den ersten Tagen des neuen Jahres kaum bewältigen. Viele Menschen besuchen jedoch auch ihren lokalen Schrein und ziehen in festlicher Stimmung Orakelzettelchen, um zu erfahren, was das neue Jahr bringen mag, trinken vom Schrein ausgegebenen Reiswein oder tun sich an den Imbissen gütlich, die an Ständen verkauft werden.

Shintō und Buddhismus erfüllen somit komplementäre Rollen in der japanischen Gesellschaft und geraten nur selten in Konflikt miteinander. Vereinfacht gesagt, zelebriert der Shintō das Leben und fördert durch regelmäßige Feste den Zusammenhalt der lokalen Gemeinschaft, während der Buddhismus das Zusammengehörigkeitsgefühl in den Familien stärkt und den Menschen hilft, den Tod geliebter Personen und die eigene Sterblichkeit zu ertragen. Dies erklärt auch, warum viele Japanerinnen und Japaner sowohl an buddhistischen als auch shintōistischen Institutionen registriert sind. Die eingangs genannten hohen Zahlen Religionsangehöriger sind somit kein statistischer Fehler, sondern spiegeln wider, dass viele Menschen in Japan institutionelle Bindungen sowohl zum Buddhismus als auch zum Shintō haben.Footnote 31 In beiden Fällen spielt ‚Glaube‘ nur eine untergeordnete Rolle. Viele Menschen erfahren erst, welcher buddhistischen Schulrichtung ihre Familie angehört, wenn ein Familienmitglied verstirbt; und viele wissen nicht (und interessieren sich auch nicht sonderlich dafür), welche Gottheit in ihrem lokalen Schrein verehrt wird. So kommt es, dass viele Japanerinnen und Japaner sich als nichtreligiös bezeichnen und dennoch regelmäßig buddhistische und shintōistische Riten durchführen.

2.2 ‚Religion‘ in Japan: ein modernes Konzept

Das japanische Wort für Religion lautet shūkyō. Dieses Kompositum besteht aus den zwei chinesischen Schriftzeichen shū (Chines. zong) und kyō (Chines. jiao). Ersteres bedeutet ursprünglich ‚Vorfahre‘ und bezog sich in buddhistischen Kontexten häufig auf bestimmte Lehrer-Schüler Genealogien. Im 16. Jahrhundert war der Begriff in Japan als Bezeichnung für bestimmte buddhistische ‚Sekten‘ oder ‚Schulen‘ fest etabliert und wurde in dieser Bedeutung auch auf das Christentum übertragen, als dieses ab der Mitte des Jahrhunderts durch jesuitische (und später franziskanische) Missionare eingeführt wurde. Die Missionare wurden als ‚Inder‘ bezeichnet und ihre Religion als ‚indische Sekte‘ (tenjiku-shū).Footnote 32 Jiao hingegen bedeutet ‚Lehre‘ und umfasste somit auch philosophische Lehren, die nicht unter moderne Definitionen von ‚Religion‘ fallen würden. So umfassten beispielsweise die ‚drei Lehren‘ (san jiao) in China traditionell den Konfuzianismus, den Buddhismus und den Daoismus. Diesen drei Lehren wurden komplementäre Funktionen zugesprochen, sie waren jedoch gleichzeitig von einer klaren Hierarchie gekennzeichnet, an deren Spitze der Konfuzianismus stand. Das Konzept der ‚drei Lehren‘ wurde bereits im späten achten Jahrhundert in Japan übernommen, wobei hier der Buddhismus an der Spitze der Hierarchie stand. Erst ab etwa dem sechzehnten Jahrhundert verdrängte Shintō den Daoismus als dritte Lehre neben Buddhismus und Konfuzianismus.Footnote 33

Während die beiden Bestandteile shū und kyō über eine lange Geschichte verfügen, handelt es sich bei dem Kompositum shūkyō um einen Neologismus, der sich erst in den 1870er-Jahren als Übersetzungswort für ‚Religion‘ durchsetzte. Dies markierte den Abschluss einer langjährigen Auseinandersetzung mit dem europäischen Begriff ‚Religion‘, der im Jahr 1857 im Rahmen der Verhandlungen über einen japanisch-niederländischen Handelsvertrag begann. Die niederländische Seite forderte darin erfolgreich die Ausübung der christlichen Religion für ihre StaatsangehörigenFootnote 34 und stimmte dafür ihrerseits einem Verbot zu, Opium nach Japan einzuführen. Das Christentum war zu diesem Zeitpunkt seit Jahrhunderten in Japan verboten gewesen. Den niederländischen Diplomaten gelang es jedoch, die Drohkulisse des Opium-Kriegs zu nutzen, um dieses Zugeständnis zu erzwingen. Ein japanisch-amerikanischer Handelsvertrag, der im darauffolgenden Jahr ratifiziert wurde, gestand amerikanischen Staatsangehörigen ebenfalls das Recht zur freien Ausübung ihrer Religion zu und erlaubte ihnen gar, neue Gebäude zu diesem Zweck zu errichten. Besonders interessant ist in diesem Zusammenhang ein Blick auf die japanischen Übersetzungen der Verträge, die zum einen auf echte Verständnisprobleme der japanischen Seite schließen lassen, die sich zum ersten Mal mit dem abstrakten Begriff ‚Religion‘ (im Niederländischen godsdienst) konfrontiert sahen, für den es keine Entsprechung im Japanischen gab, sowie auf deren kluges taktisches Vorgehen, um die Zugeständnisse durch das geschickte Auswählen von Übersetzungswörtern zu minimieren. Während der Begriff godsdienst im Handelsvertrag mit den Niederländern als ‚Jesus-Sekte‘ (Yaso-shū) übersetzt wurde, verwendet die japanische Übersetzung des japanisch-amerikanischen Handelsvertrags von 1858 vier verschiedene Begriffe, um das im amerikanischen Text fünfmal vorkommende Wort ‚religion‘ zu übersetzen. Das heute übliche shūkyō ist nicht darunter.Footnote 35

Während der Begriff ‚Religion‘ in den späten 1850er-Jahren in erster Linie ein diplomatisches bzw. ein Übersetzungsproblem darstellte, setzten sich in den 1870er-Jahren die führenden japanischen Intellektuellen, von denen viele in Europa und Amerika studiert hatten, ausgiebig mit dem Begriff auseinander, wobei sie unterschiedliche Übersetzungswörter wähltenFootnote 36 und zum Teil sehr unterschiedliche Vorschläge für eine japanische Religionspolitik machten. Eine Gemeinsamkeit zwischen den teils sehr unterschiedlichen Positionen ist, dass das Christentum meist als prototypische Religion akzeptiert wird, mit der sich andere Traditionen messen müssen. So schließt Fukuzawa Yukichi (1835–1901), der vielleicht bekannteste Intellektuelle seiner Zeit und einer der ersten Befürworter des Übersetzungswortes shūkyō, sowohl Konfuzianismus als auch Shintō von der Kategorie ‚Religion‘ aus: Ersterer sei keine Religion, sondern eine Philosophie, während letzterer keine eigenständige Doktrin entwickelt habe. Der Buddhismus wiederum habe unter der politischen Herrschaft der Tokugawa eine zu enge Bindung zum Staat entwickelt und dadurch seine religiöse Autorität eingebüßt. Fukuzawa sah Religion als eine Frage des persönlichen Glaubens, in die sich der Staat nicht einzumischen habe, und plädierte daher für eine strikte Trennung von Religion und Staat.Footnote 37 Tsuda Masamichi (1829–1903), der an der Universität Leiden Recht und Politikwissenschaft studiert hatte, betonte, dass Religion einen wichtigen Beitrag zur zivilisatorischen Entwicklung einer Gesellschaft leisten könne. Dem Buddhismus sprach er diese Fähigkeit jedoch aufgrund seiner abergläubischen Elemente ab und forderte stattdessen von der Regierung, sich für weitflächige Konversionen zum Christentum einzusetzen.Footnote 38 Mori Arinori (1848–1889), der Gründer der Meirokusha, einer einflussreichen intellektuellen Gesellschaft der frühen Meiji-Zeit (1868–1912), verwendete ebenfalls den Begriff shūkyō und fasste Religion wie Fukuzawa als eine Frage des persönlichen Glaubens auf. In diesen Bereich, so Mori, solle sich der Staat nicht einmischen. Gleichzeitig sprach er sich jedoch für eine strenge Regulierung von öffentlichen religiösen Handlungen aus – eine Unterscheidung, der die Autoren der Meiji-Verfassung folgen sollten.Footnote 39

Auch japanische Kleriker beteiligten sich an der öffentlichen Religionsdebatte der 1870er-Jahre. Einer der einflussreichsten und wohl der interessanteste unter ihnen war Shimaji Mokurai (1838–1911), ein Priester der Jōdo Shinshū (Wahre Schule des Reinen Landes). Die Jōdo Shinshū ist eine buddhistische Schule, die lehrt, dass man auf das Mitgefühl des Buddhas Amitabha (jp. Amida) angewiesen sei, um im Reinen Land (jōdo) wiedergeboren zu werden. Die Schule ist bekannt für ihre ablehnende Haltung zur Verehrung anderer Buddhas oder Bodhisattvas oder gar kami. Während einer Reise durch Europa, die ihn nach Frankreich, England und Deutschland führte, schrieb Shimaji 1872 einen Text, der sich ein westliches Religionsverständnis zunutze machte, um die Überlegenheit seiner Schule über andere buddhistische Denominationen zu postulieren:Footnote 40

Only the founder of the True Sect of the Pure Land [Jōdo Shinshū] had profound insights and created a teaching that was entirely different from that of all other sects. Can we not call this the Protestantism of our country? In other sects, all sorts of Buddhas and Bodhisattvas are worshipped together. Only in the Shinshū, however, is Amida established as the sole Buddha. […] This is almost like establishing the one Christian God for the purpose of worship.Footnote 41

In einem weiteren, im selben Jahr veröffentlichten Text übernimmt Shimaji die in Europa vorherrschende abschätzige Meinung über polytheistische Religionen, um den Shintō als rückständig abzustempeln (und implizit wiederum die Überlegenheit der Jōdo Shinshū herauszustellen):

After several hundred years of strife over the question of polytheism versus monotheism, the former has now been done away with for good. There is not a single [European] who worships this anymore. When I consider the old gods of various countries, despite some differences, they greatly resemble the various gods of our country. In Europe this is now called „mythology“ (mitorojī) and has been consigned to fancies such as painting or sculpture. In all countries, however, the knowledge of the rough common people is opaque. People who do not know better generally worship mountains and rivers, grasses and trees as gods. Culture is steadily progressing toward enlightenment. Things that one used to be afraid of now become mundane. Hence polytheism comes to an end. Yet these [gods] are still worshipped in the cultures of Africa, South America, the South Pacific, and Asia and the barbarians of Siberia, and so on. European civilization holds this in the highest contempt. I feel ashamed of my own country because of this.Footnote 42

2.3 Shintō und der Nationalstaat

Diese harschen Worte entstammen einem Text, in dem Shimaji die als ‚Große Lehre‘ (daikyō) bezeichnete Aufklärungskampagne des Ministeriums für Doktrin (kyōbushō) kritisiert. Die Aufklärungskampagne startete im Februar 1870 zunächst mit dem Ziel, die Lehren des Restaurations-Shintō (fukko shintō) in der Bevölkerung bekannt zu machen.Footnote 43 Restaurations-Shintō bezeichnet dabei die Idee einer von buddhistischen Einflüssen gesäuberten, ‚reinen‘ Form des Shintō. Stichwortgeber für diese ideologisierte Form des Shintō war der Nationalphilologe (kokugakusha) Motoori Norinaga (1730–1801), der durch philologische Forschungen zum Kojiki, dem ältesten auf uns gekommenen literarischen Werk Japans aus dem Jahr 712, die Sprache und den ‚wahren Geist‘ (magokoro) des Götterzeitalters wiedererwecken wollte. Das Kojiki berichtet von der Erschaffung der japanischen Inseln durch die kami und der göttlichen Abstammung der kaiserlichen Dynastie. Diese Mythen gehen nahtlos in die Beschreibung der Regierungszeiten historischer Herrscher über; das Werk stellt somit eine mythisch-historische Legitimation der Kaiserherrschaft bereit. Norinaga war überzeugt davon, dass im Kojiki mündliche Überlieferungen aus dem Götterzeitalter erhalten waren. Seine philologische Arbeit galt der Säuberung dieser Überlieferungen vom angeblich korrumpierenden ‚chinesischen Geist‘ (karagokoro), der durch die Verschriftlichung mit chinesischen Schriftzeichen Einzug gehalten habe.Footnote 44 Diese Ideen wurden von Hirata Atsutane (1776–1843), dem selbsternannten Schüler Norinagas, weiter ausgearbeitet und zum Konzept des Restaurations-Shintō weiterentwickelt.Footnote 45 In der frühen Meiji-Zeit genossen Atsutanes Schüler großen politischen Einfluss, den sie nutzten, um die institutionelle Trennung von Shintō und Buddhismus voranzutreiben, die buddhistischen Feiertage der Edo-Zeit (1603–1868) durch einen shintōistischen Festtagskalender zu ersetzen, Shintō-Rituale nach dem Vorbild der Ise-Schreine, dem Hauptheiligtum der kaiserlichen Ahngottheit, zu standardisieren, ein System der Schreinregistrierung einzuführen, bei dem jeder Japaner und jede Japanerin nach der Geburt an einem örtlichen Schrein registriert werden mussten,Footnote 46 und Shintō-Priester zu Staatsbeamten zu ernennen. Diese Reformen zielten zweifellos auf die Etablierung des Shintō als Staatsreligion ab.Footnote 47

Die oben erwähnte Aufklärungskampagne ist in diesem Kontext zu sehen. Zunächst wurden lediglich Shintō-Priester als ‚Missionare‘ (senkyōshi) der ‚Großen Lehre‘ eingesetzt. Als durchschlagende Erfolge jedoch ausblieben, modifizierte die Regierung ihre Aufklärungskampagne im März 1872. Von nun an durften sich auch buddhistische Priester an der Verbreitung der ‚Großen Lehre‘ beteiligen. Das Ministerium für Doktrin gab zu diesem Zweck ‚Drei Lehrgebote‘ aus, welche die Propagandisten befolgen mussten:Footnote 48

  1. 1.

    Der Geist der Verehrung der Götter und der Liebe zum Vaterland ist zu erfassen und anzunehmen.

  2. 2.

    Die Gesetze der Natur (tenri) und die Gebote der Menschen (jindō) sind offenbar zu machen.

  3. 3.

    Die Herrschaft des Kaisers ehrend, ist für die Befolgung des Willens des Hofes zu sorgen.Footnote 49

Shimajis Kritik richtet sich gegen die im ersten Lehrgebot geforderte „Verehrung der Götter“. Auf einer allgemeineren Ebene kritisierte er, dass die ‚Große Lehre‘ keine klare Unterscheidung zwischen Religion und Politik treffe.Footnote 50 Im Jahr 1874 präzisierte Shimaji diese Kritik, indem er eine Unterscheidung von Religion (shūkyō) und bürgerschaftlicher Erziehung (jikyō) einführte. Shimaji zufolge fielen sowohl die ‚Große Lehre‘ als auch der Shintō in letztere Kategorie.Footnote 51

In Anbetracht dieser harten Kritik aus dem Lager der Jōdo Shinshū überrascht es wohl nicht, dass diese Schule der Aufklärungskampagne 1875 ihre Unterstützung entzog. Die Kampagne lief in deutlich verringertem Umfang bis 1884 weiter und wurde dann beendet.Footnote 52 Bereits ab 1882 wurden Priester an kleineren Shintō-Schreinen nach und nach ihres Beamtenstatus enthoben und ihre Schreine erhielten keine staatliche Förderung mehr. Zur selben Zeit spaltete sich der Shintō auf in religiöse Shintō-Sekten, die sich ab 1882 als solche registrieren mussten, und den Schrein-Shintō, einen für alle japanischen Staatsangehörigen verbindlichen areligiösen Staatskult.Footnote 53 Im selben Jahr zementierte das Ministerium für innere Angelegenheiten diese Unterscheidung, indem es staatlich finanzierten Schreinen die Durchführung religiöser Riten wie Predigten und Beisetzungen untersagte. Im darauffolgenden Jahr ordnete das Ministerium an, dass Regierungsbeamte fortan als Teil ihrer Amtspflicht an jährlichen Erntedankfesten an den Staatsschreinen teilzunehmen hatten.Footnote 54

Somit war die Verwandlung des Shintō in einen verpflichtenden areligiösen Staatskult in die Wege geleitet. Die Rolle dieses Staatskults für die Herausbildung eines Nationalbewusstseins lässt sich besonders gut am Beispiel des Yasukuni-Schreins beobachten. Im Jahr 1869 wurde in Tōkyō ein neuer Schrein errichtet, um an die kaisertreuen Soldaten zu erinnern, die während des Boshin-Krieges gegen das Tokugawa-Shogunat gefallen waren. Dieser Schrein hatte zunächst keine Verbindungen zum Shintō, sondern unterstand der Verwaltung der Armee, der Marine und des Ministeriums für innere Angelegenheiten. Im Jahr 1879 wurde er jedoch als ‚Reichsschrein der Sonderklasse‘ (bekkaku kanpeisha) anerkannt. Fortan stand der Yasukuni-Schrein an der Spitze eines landesweiten Netzwerks von Kriegsdenkmälern. Das verbindende Element dieser Denkmäler war, dass sie ausnahmslos den kaisertreuen Truppen gewidmet waren. Auf diese Weise wurden Gefallene aus verschiedenen Provinzen als Nationalhelden gefeiert, die ihr Leben für den Kaiser geopfert hatten.Footnote 55 Am Yasukuni-Schrein wurden regelmäßig Riten für Kriegsgefallene abgehalten, zu denen ab dem russisch-japanischen Krieg die Angehörigen der Kriegstoten eingeladen wurden.Footnote 56 Nach dem Ausbruch des Pazifikkriegs entwickelten sich diese Riten zu regelrechten Massenereignissen, die landesweit im Radio übertragen wurden. Der Gefallenen wurde hierbei als eirei (heldenhafte Seelen) gedacht.Footnote 57 Bereits 1910 bezeichneten Grundschullehrbücher es als die höchste Ehre, die ein Japaner erlangen könne, für den Kaiser zu sterben und als Gottheit in den Yasukuni-Schrein aufgenommen zu werden.Footnote 58

2.4 Religion und Politik im Nachkriegs-Japan

Nach Japans Kapitulation am 15. August 1945 identifizierten die alliierten Besatzungsbehörden den Staatsshintō als Hauptursache für den japanischen Militarismus und Chauvinismus der Kriegszeit. Bereits vier Monate später sandten die Behörden der japanischen Regierung die sogenannte Shintō-Direktive zu, welche fortan jegliche staatliche Unterstützung für Shintō-Schreine untersagte.Footnote 59 Den Yasukuni-Schrein stellte diese Direktive vor große Probleme. Zwar durfte der Schrein fortbestehen, doch er verlor nicht nur seine Finanzierung aus öffentlichen Mitteln, sondern auch das Recht, staatliche Gedenkzeremonien für die Gefallenen des Pazifikkriegs abzuhalten. Dank politischer Unterstützung insbesondere der Liberaldemokratischen Partei (LDP), die seit 1955 mit wenigen Ausnahmen die Regierung stellte, und von Hinterbliebenenverbänden gelang es dem Schrein jedoch, diese Hindernisse zu überwinden. Heute gilt der Yasukuni-Schrein als zentrales Symbol für eine geschichtsrevisionistische Sicht auf Japans Rolle in den Kriegen des zwanzigsten Jahrhunderts. Gründe hierfür sind die Aufnahme von sieben Kriegsverbrechern der Klasse A als eirei im Jahr 1978, die Weigerung des Schreins, Namen beispielsweise von okinawaischen Zivilisten, die Opfer der japanischen Armee wurden, von ihrer Liste zu streichenFootnote 60 sowie die Verbreitung einer geschichtsrevisionistischen Sicht auf die japanische Kriegsvergangenheit im zum Schrein gehörigen Militärmuseum Yūshūkan. Darüber hinaus wirft der Yasukuni-Schrein ein Schlaglicht auf – laut der Nachkriegs-Verfassung untersagte – Verbindungen zwischen Regierungsmitgliedern und religiösen Institutionen. So besuchte Premierminister Nakasone Yasuhiro (1918–2019) im Jahr 1985 den Schrein symbolträchtig am vierzigsten Jahrestag des Kriegsendes. Dass er sich dabei mit seinem Amtstitel im Gästebuch verewigte und öffentliche Mittel verwendete, um die Opfergaben zu bezahlen, unterstreicht die offizielle Natur des Besuchs. Da der Besuch national und international massiven Protest auslöste, sehen Regierungsmitglieder seitdem von Besuchen des Schreins am 15. August ab und lassen sich nicht darauf festlegen, ob ihre Besuche in offizieller Funktion stattfinden.Footnote 61

Die fragwürdigen Verbindungen der LDP zu religiösen Organisationen füllte auch in jüngster Vergangenheit die Schlagzeilen japanischer Zeitungen. Nach dem Attentat auf den früheren Premierminister Abe Shinzō (1954–2022) am 8. Juli 2022 sagte der Tatverdächtige aus, er habe Abe wegen dessen Beziehungen zur sogenannten VereinigungskircheFootnote 62 erschossen. Die Vereinigungskirche teilt zentrale politische Überzeugungen wie ein konservatives Familienbild und Antikommunismus mit der LDP und unterstützt deren Kandidaten häufig bei Wahlen. Nach dem Attentat berichteten japanische Medien über die angebliche Praxis der Vereinigungskirche, ihre Anhänger zu exorbitant hohen Spenden zu drängen. Dies soll die Mutter des Tatverdächtigen in den Bankrott getrieben haben. Fallende Zustimmungswerte trieben die LDP dazu, am 31. August 2022 den Abbruch jeglicher Beziehungen zur Vereinigungskirche zu verkünden. Abes Amtsnachfolger und Parteifreund Kishida Fumio kündigte bereits sechs Tage nach dem Attentat ein durch öffentliche Mittel finanziertes Staatsbegräbnis für Abe an. Nachdem anfangs große Teile der japanischen Öffentlichkeit die Idee unterstützten, fiel die Zustimmungsrate, als mehr Details zu Abes Verbindungen mit der Vereinigungskirche ans Licht kamen.Footnote 63

Hier zeigt sich das überwiegend negative Bild neuer religiöser Gruppen, das seit dem Giftgasanschlag in der Tokyoter U-Bahn am 20. März 1995 in der japanischen Öffentlichkeit vorherrscht. Bei dem Anschlag der AUM-Sekte (Ōmu Shinrikyō) kamen 13 Personen ums Leben und 6000 weitere wurden verletzt.Footnote 64 Der Vorfall löste ein beachtliches Medienecho aus und beeinflusst bis heute die Wahrnehmung insbesondere neuer Religionen in Japan. Die Wahrnehmung von Religion als etwas ‚Gefährlichem‘ ist inzwischen so weit verbreitet, dass in den Jahren 2007 und 2008 ein Internetfilter der führenden japanischen Mobilfunkanbieter, der Kinder vor gefährlichen Einflüssen schützen sollte, den Zugriff auf sämtliche religiöse Webseiten (einschließlich der Internetseiten bekannter Tempel, die auf Schulausflügen besucht werden) blockierte.Footnote 65 Auch die Assoziation von Religion mit Gefahr bietet einen Erklärungsansatz für die hohe Zahl von Japanern und Japanerinnen, die sich als nichtreligiös bezeichnen.

3 Japan und der Polytheismus in der Religionstheorie

3.1 Max Weber

Was wir hier ‚Polytheismus‘ nennen, gehört bei Max Weber im weiteren Sinne zu den

beiden urwüchsigen Arten der Beeinflussung übersinnlicher Mächte: ihrer magischen Unterwerfung unter menschliche Zwecke oder ihrer Gewinnung dadurch, daß man sich ihnen nicht etwa durch Übung irgendwelcher ethischen Tugenden, sondern durch Befriedigung ihrer egoistischen Wünsche angenehm macht […].Footnote 66

Religion bezieht sich nach Weber zunächst auf diesseitige Zwecke oder Heilserwartungen, die sich über charismatische Objekte oder ekstatische Zustände erfüllen sollen. Allerdings tendieren religiöse Vorstellungen dazu, sich in einem breiten Feld möglicher Variationen zu verselbständigen, so dass das ‚ursprüngliche‘ Naturverhältnis zunehmend unter den religiösen Vorstellungen verschwindet. Das sei am Einleitungskapitel zur Religionssoziologie in Wirtschaft und Gesellschaft gezeigt.Footnote 67

Aus dem anfänglichen Glauben an charismatische Objekte kann sich über Stufen der Abstraktion der Glaube an Seelen ergeben, die vom Körper verschieden sind. Diese können in den Dingen ‚hausen‘, bestimmte Eigenschaften ‚haben‘ und darüber verfügen, sich in den Dingen verkörpern – so im Allgemeinen die japanische Vorstellung (shintai), oder auch umgekehrt von den Dingen symbolisiert werden. Der Übergang zu Göttern der verschiedensten Art ist fließend. Religiöses Handeln hat dann die Aufgabe, die Beziehungen der übernatürlichen Mächte zu den Menschen zu ordnen. Dies kann, wenn der Schritt zum Glauben an Wesen ‚hinter‘ der Wirklichkeit getan ist, die nicht mehr in der realen Umgebung fassbar sind, statt über unmittelbare Beeinflussung auch über Symbole geschehen. So erklärte sich beispielsweise nach Weber die Ersetzung von Menschenopfern bei der Bestattung früher chinesischer Kaiser durch die bekannte Terrakottaarmee im Mausoleum Qin Shihuangdis um 210 v. Chr. oder die Ersetzung von Pferdeopfern durch Votivtäfelchen mit stilisierten Pferdebildern (ema) an japanischen Schreinen.Footnote 68 Setzen sich die ‚Hinterwelt‘ und das symbolische Handeln auf breiter Flur durch, so begräbt schließlich „eine Flutwelle symbolischen Handelns […] den urwüchsigen Naturalismus unter sich.“Footnote 69 Hier wird ein häufiges Schema der Religionsgeschichte sichtbar: Abstraktion und Systematisierung des religiösen Denkens verhalten sich proportional zu seiner Naturferne. Indem die Wirklichkeit als orientierender und stabilisierender Faktor in die Ferne rückt, wächst auf der einen Seite die Freiheit in der Verwendung von religiösen Symbolen, auf der anderen Seite bestimmen Streitfragen um die ‚richtigen‘ Symbole, Riten und Dogmen zunehmend das religiöse und mittelbar das gesellschaftliche Leben, indem sie zu Mitteln im Kampf um die religiöse und politische Vorherrschaft werden. Das bildet schon ein Charakteristikum der Achsenzeit um 800–200 v. Chr. und führt beispielsweise nach der Durchsetzung des Christentums als römischer Staatsreligion zu kriegerischen Auseinandersetzungen um dogmatische Fragen wie die auf dem Konzil von Chalcedon (451) getroffene Entscheidung für die Zweinaturenlehre.Footnote 70

Da die Symbolik weiterhin mit dem Glauben an magische Einwirkung auf übernatürliche Mächte verbunden ist, werden die Rituale, so Weber, strengen Regeln unterworfen, die nun die Lebensführung vereinheitlichen und im Kult auf Dauer stellen. Damit kann das Verhältnis der Götter und ihrer Kompetenzen systematisiert und ein Pantheon gebildet werden, das besonders in Rom immer weiter ausdifferenziert wurde, so dass „alle einzelnen Handlungen gedanklich in ihre begrifflich auffindbaren Teilmanipulationen [zerlegt] und jeder solchen ein numen [zugeschrieben wurde], unter dessen besonderer Fürsorge sie stand.“Footnote 71 Diese Kasuistik wirkte sich nicht nur direkt auf die dauernde Beobachtung von Handlungen unter dem Aspekt ihrer religiösen Regelhaftigkeit aus, sondern prägte als ‚Denkform‘ auch indirekt das römische Recht. Damit wirkt die Religion wiederum als Mittel der Distanzierung der Lebenspraxis vom ursprünglichen Naturverhältnis. Umgekehrt wirken die ökonomische und politische Situation eines Volkes aber auch auf sein religiöses Leben ein, etwa indem bestimmte Götter oder besondere Aspekte ihres Wirkens in den Vorder- oder Hintergrund geschoben werden. So wirken die objektive Lage und die Religion zusammen, um gesellschaftliche Grundstrukturen wie etwa die Form der Hausgemeinschaft oder das Erbrecht zu stabilisieren und von dort aus per Analogie auch die Struktur größerer staatlicher Einheiten vorzugeben – so die Stellung des Kaisers als Oberpriester in China in Analogie zu den Hausgöttern der Untertanen.

Jeder Gott eines Pantheons mit feststehenden Zügen strebt nach Universalität, indem er – wie etwa die griechischen Götter – in mehr oder weniger entsprechende Götter anderer Völkerschaften hineingedeutet wird. Die Identifikation oder Verschmelzung insbesondere der Pantheonherrscher ist aber nur möglich auf der Grundlage der Zusammenfassung mehrerer Völker in Weltreichen, die die Ausbildung von mehr oder weniger monotheistischen Religionen regelmäßig begünstigen. Den altisraelitischen Jahwekult erklärt Weber als Reaktion der ‚Eidgenossenschaft‘ Israels auf die politische Konstellation der Umwelt unter den Bedingungen der Prophetie: Auch die Taten fremder Völker wurden dem eigenen Gott zugerechnet, der damit als universaler Gott konstituiert war. Dass sich die monotheistischen Tendenzen außer im Judentum, Islam und Christentum nicht flächendeckend durchsetzen konnten, lag nach Weber am Widerstand der lokalen Priesterschaften einerseits und der religiösen Laien andererseits, die immer primär an der magischen Beeinflussung der religiösen Objekte interessiert gewesen seien.

Die Darstellung Japans in der Wirtschaftsethik der Weltreligionen auf der Grundlage der damals einschlägigen Werke zur Wirtschafts- und Literaturgeschichte Japans von Karl Rathgen und Karl FlorenzFootnote 72 ist weniger überzeugend. In den Abschnitten zur Wirtschaftsgeschichte bis gegen Ende der Edo-Zeit (1603–1868) mag das daran liegen, dass Rathgen fast ausschließlich die moderne wirtschaftliche Entwicklung Japans nach 1868 darstellt; im Falle der Kulturgeschichte muss man wohl flüchtige Lektüre annehmen, wenn Weber beispielsweise behauptet, dass buddhistische Priester „den Beamtendienst […] bis Ende des 18. Jahrhunderts oft monopolisierten.“Footnote 73 Vielmehr übernahmen in der Feudalzeit (12. bis Mitte 19. Jahrhundert) zumeist Vasallen (Samurai) Beamtendienste.Footnote 74 Dass die Einschränkung des Außenhandels auf wenige Vertragshäfen in der Edo-Zeit zu einem „hochgradig statische[n] Zustand der Wirtschaft“ (HuB, S. 298) führte, ist ebenso falsch, war aber dem Wirtschaftshistoriker Klaus Müller zufolge in der älteren Forschung Gemeingut: Die gewaltsame Öffnung Mitte des 19. Jahrhunderts führte dazu, dass die Wirtschaftsgeschichte Japans an der westlichen Entwicklung zum Kapitalismus als Idealtypus gemessen und damit als defizitär wahrgenommen wurde.Footnote 75 Weber folgte wohl diesem Vorurteil, das seine Vorstellung von der innerweltlichen Askese des Pietismus als Voraussetzung der kapitalistischen Wirtschaft bestätigte.

Er sieht zwar in der japanischen Religiosität und Lebensführung mehrfach Anklänge an den Protestantismus, so im Jōdo Shinshū (Wahre Schule des reinen Landes; bei Weber: Schin-Sekte)Footnote 76, der (wie Luther) das Zölibat und das Mönchtum beseitigte. „Eine rationale innerweltliche Askese hat sie jedoch ebensowenig und aus den gleichen Gründen nicht entwickelt wie das Luthertum.“ (HuB, S. 307) Für die Erhebung des Shintō, der japanischen Ausprägung des Polytheismus, zur Nationalreligion während der Meiji-Restauration (ab 1868) macht Weber daher neben dessen Charakter als ‚nationale‘ Religion das Fehlen einer soteriologischen Religion für das Volk wie in China und den Niedergang des Buddhismus verantwortlich. Die Priester seien nicht mehr theologisch ausgebildet, sondern nur noch in der Praxis des Gottesdienstes geschult worden. Die Regierung sei daher in der „rein politisch angesehen, angenehmen Lage [gewesen], tabula rasa“ (HuB, S. 304) vorzufinden. Daher „konnte [Japan] den Kapitalismus als Artefakt von außen relativ leicht übernehmen, wenn auch nicht seinen Geist aus sich schaffen.“ (HuB, S. 300)

TatsächlichFootnote 77 entstand eine durchrationalisierte Geldwirtschaft mit kapitalistischen Zügen in Japan unabhängig von und zugleich mit der in Nordeuropa. Die erste europäische Bank außerhalb Italiens wurde 1609 in Amsterdam gegründet, in Osaka entstand in den ersten Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts ein Geldwechsel- und Kreditgewerbe, das die Aufgabe von Banken übernahm. So gaben die wichtigen Geldwechsler den Tageskurs für die regional unterschiedlichen Metallwährungen aus, um Währungsschwankungen auszugleichen, wodurch der Handel gesteigert wurde. Ebendies war die Hauptfunktion der frühen europäischen Banken.Footnote 78 Die Wechselbörse in Edo (Tokyo) machte nicht nur den Münztransport von der wichtigsten Handelsstadt Osaka zur Residenzstadt entbehrlich, indem stattdessen Wechsel zwischen den Städten hin und her gingen, die bald den Charakter von Geld annahmen, sondern sorgte zugleich für den Ausgleich des Handels zwischen Osaka, Edo und anderen Regionen. Das Shogunat trieb über Kreditforderungen eine aktive Währungspolitik. Seit etwa 1640 nahmen die Banken Einlagen entgegen und vergaben Darlehen oder Vorschüsse gegen Zins. Reis, die Naturalabgabe an die regionalen Fürsten (Daimyō), wurde in Geld umgewandelt, wobei Geld geschöpft und als Kredit vergeben wurde (auch heute eine der zentralen Aufgaben von Geschäftsbanken). Der Buchreishandel (chōaimai torihiki) ermöglichte die Spekulation in Reisnoten, so dass „sich der Reishandel zu einem komplexen System [entwickelte], das den Reispreis in ganz Japan beeinflußte und stabilisierte.“Footnote 79 Mit der Aufsicht über den Geldmarkt beauftragte das Shogunat ‚Zehn Geldwechsler‘ (jūnin ryōgaeya), die die anderen Bankiers kontrollierten und den Gold- und Silbermarkt überwachten. Über dieses hierarchische Bankensystem gewannen Wechsel und Kredite größere Sicherheit auch bei steigendem Geldbedarf für die rasch wachsende Wirtschaft.

Im Gegensatz zu Webers „hochgradig statische[m] Zustand“ zeigen sich die japanische Wirtschaft, Wirtschaftspolitik und Bankenwesen, die sich in etwa parallel zur europäischen entwickeln, als äußerst dynamisch. Dafür zeugt auch die bis heute gebräuchliche Vielzahl älterer japanischer Finanzbegriffe wie „kabu (Aktie), kawase (Wechsel), sakimonogai (Termingeschäft), tachiai (Börsenparkett), ryōgae (Wechselbank)“.Footnote 80 Es kann keine Rede davon sein, dass Japan lediglich aufgrund einer religiösen „tabula rasa“ den Kapitalismus zu Beginn der Meiji-Zeit „als Artefakt von außen relativ leicht übernehmen [konnte], wenn auch nicht seinen Geist aus sich schaffen“ (HuB, S. 300). Japan hatte den ‚kapitalistischen Geist‘ ganz ohne innerweltliche Askese über mehrere Jahrhunderte praktiziert. Am wenigsten war das die wirtschaftliche Entwicklung tragende Bürgertum von Edo und Osaka auf Askese eingestellt: der buddhistische Begriff Ukiyo (‚fließende, vergängliche Welt‘), der vielleicht mit der christlichen ‚Vanitas‘ vergleichbar ist, wurde so umgedeutet, dass er die Ausschöpfung der vergänglichen Welt auf das größtmögliche Vergnügen hin legitimierte. Webers These, die „Entzauberung der Welt“Footnote 81 durch monotheistische Konzeptionen vom alten Judentum bis hin zum asketischen Protestantismus sei Voraussetzung für die Entstehung rationalen, berechnenden Handelns in der modernen Welt und speziell der kapitalistischen Entwicklung, gerät also auch von dieser Seite her in die Kritik. Polytheismus (der sich freilich das religiöse Feld mit dem Buddhismus teilte) scheint nicht so fest mit magischem Zauber verbunden zu sein, wie Weber annimmt, wenn die japanischen Eliten, wie zu sehen war, die Wirtschaft nach rationalen Grundsätzen durchorganisierten.

In der heutigen DiskussionFootnote 82 ist Webers These von einer direkten Einwirkung der ‚innerweltlichen Askese‘ besonders des Calvinismus weitgehend durch eine indirekte Wirkung ersetzt: Der Protestantismus lockerte das Verhältnis zwischen Staat, gesellschaftlichen Institutionen und Individuen, so dass neue gesellschaftliche Bewegungen eine größere Chance auf Durchsetzung hatten, sofern sie nicht aktiv marginalisiert wurden. In den katholischen Ländern blieben die traditionellen Beziehungen zwischen Staat und Religion dagegen erhalten bzw. wurden mit der Gegenreformation noch verstärkt. In Japan war das Verhältnis zwischen dem politisch dominanten Shogunat in Edo und dem kulturell führenden Tennō in Kyoto sowie zwischen feudalem Staat und bürgerlicher Kultur schon vor der Modernisierung so flexibel, dass sich neue Strukturen herausbilden konnten. Zur Zeit der Öffnung Japans seit 1868 konnte dann zusätzlich auf den schon zuvor von der sog. ‚Nationalen Schule‘ (Kokugaku) zur Nationalreligion umgebildeten Shintō als ideologische Grundlage der neuen Nation zurückgegriffen werden, so dass der Umbau des Feudalstaates in einen modernen Nationalstaat kaum auf Widerstand traf.

3.2 Émile Durkheim

Wie Max Weber ist auch Émile Durkheim in Die elementaren Formen des religiösen Lebens (1912) primär am Verständnis seiner eigenen Gesellschaft gelegen. Aber während Webers Interesse den spezifischen Auswirkungen der Religionen auf die Lebensführung und insbesondere auf die innerweltliche Askese als Voraussetzung des Kapitalismus gilt, ist Durkheim überzeugt, in der Religion eine Antwort auf die Frage zu finden, was Gesellschaften von ihren ersten Anfängen bis zu den modernen Nationen zusammenhält. Seine Fragestellung betrifft in besonderer Weise die oben angesprochenen Gegenwartsprobleme. Nach einer längeren Phase der Ablehnung wird er daher seit einigen Jahrzehnten wieder verstärkt rezipiert und gilt inzwischen als Klassiker der Religionssoziologie und der Ethnologie.Footnote 83 In Deutschland spielt er etwa in der Religionssoziologie von Hans Joas eine entscheidende Rolle für den Begriff der ‚Sakralisierung‘.Footnote 84

Die Religion integriert die Gesellschaft nach Durkheim schon im Vorgang ihrer Konstitution, denn aus ihr bilden sich die gemeinsamen moralischen Urteile und erkenntnisleitenden Begriffe von den grundlegenden Kategorien bis hinauf zu Wissenschaft, Philosophie und Kunst, ohne die eine Gesellschaft nicht bestehen könnte. Diesen Zusammenhang meint er prinzipiell an allen Gesellschaften bis hin zur französischen gegen Ende des 19. Jahrhunderts aufzeigen zu können. Die seinerzeit als ‚primitivste‘ angesehene Religion des australischen Totemismus wählt er als Demonstrationsobjekt, weil in ihr schon alle Grundelemente der komplexeren enthalten seien. Auch erleichtere die Gleichförmigkeit im Verhalten und Denken ihre Analyse. Dass die Tauglichkeit des ‚Totemismus‘ als religionswissenschaftlicher Begriff spätestens seit Claude Levi-Strauss‘ Das Ende des TotemismusFootnote 85 in Frage steht, braucht hier nicht weiter zu interessieren; es geht vielmehr um die Entstehung von gesellschaftlich akzeptierten moralischen (und rechtlichen) Regeln sowie erkenntnisleitenden Kategorien aus dem rituellen Handeln.

Durkheims Theorie der Religion zweckt auf eine soziologische Erkenntnistheorie ab, die die doppelte Existenz des Menschen als ‚Bürger zweier Welten‘, als Natur- und Vernunftwesen, erklären soll. Während der Empirismus, demzufolge auch die Ideen empirisch gebildet werden (Locke), im „Irrationalismus“Footnote 86 ende, sei der Apriorismus, demzufolge sie uns ursprünglich gegeben sind (Kant), empirisch nicht belegbar. Nach Durkheim sind die fundamentalen Ideen weder a priori in uns, noch werden sie individuell ausgebildet, sondern Gesellschaften bilden sie als kollektive Vorstellungen aus, die dann im individuellen Handeln auf eine Weise wirksam werden, die als ‚a priori‘ erfahren wird. Damit werden die Individuen auf Selbsttranszendenz in Richtung eines gesellschaftlich vorgegebenen Rahmens akzeptierten Verhaltens und anerkannter Formen der Erkenntnis verpflichtet. „In dem Maß, in dem das Individuum an der Gesellschaft teilnimmt, im Denken wie im Handeln, transzendiert es sich selbst.“ (FrL, S. 35) Ideen bzw. kollektive Vorstellungen sind für Durkheim identisch mit religiösen Vorstellungen, die im gemeinschaftlichen rituellen Handeln ausgebildet, tradiert und transformiert werden. Gesellschaften können überhaupt nur existieren, sofern sie im gemeinschaftlichen Handeln „einen genügenden moralischen Konformismus [… und] ein Minimum an logischem Konformismus“ (FrL, S. 36) erzeugen. So bilden sich z. B. gemeinsame Zeit- und Raumvorstellungen durch die Teilnahme der verstreut lebenden Mitglieder einer Gesellschaft an regelmäßig stattfindenden Festen aus. Solche Versammlungen setzen sowohl die Fixierung eines gemeinsamen Kalenders als auch eine gemeinsame Raumvorstellung voraus. Letztere wird über die Verknüpfung mythischer Erzählungen mit den Wegen zu den Versammlungsplätzen ausgebildet.

Konkret entsteht ein Gefühl für das Heilige während gemeinschaftlicher Erregungszustände, bei denen die gewöhnlichen moralischen Regeln, etwa Inzestverbote, außer Kraft gesetzt sind. Durkheim entwickelt dies am Beispiel der Feuerzeremonie der Warramunga (vgl. FrL, S. 323–331): Eine Gruppe der Teilnehmer geht mit brennenden Fackeln auf eine andere los, die sich mit Stöcken und Lanzen wehrt. In dem wilden, von Funken und Rauch umgebenen Gerangel geraten die Teilnehmer außer sich und fühlen sich in eine andere Welt versetzt. In solchen Erregungszuständen entsteht nach Durkheim die Vorstellung zweier Welten, einer alltäglichen, profanen, und einer heiligen, in der man sich von außeralltäglichen Mächten ergriffen fühlt. Die gemeinschaftliche Erregung bzw. die dabei freiwerdenden Kräfte des Heiligen werden auf das Totem als Zeichen des Clans projiziert, das nun die heilige Kraft, unter der die Gemeinschaft steht, nicht nur repräsentiert, sondern jenseits der inneren Erfahrung des Einzelnen der „sichtbare Körper Gottes“ (FrL, S. 328) ist. Das Totem, der Gott, ist gegenständlicher Ausdruck eines gemeinschaftlich erfahrenen Gefühls außerordentlicher Macht; es beherrscht die Individuen wie die Gemeinschaft, ja sogar die äußeren Dinge, und schließt sie zur Gesellschaft einschließlich ihres spezifischen Naturverhältnisses zusammen.

Als Beispiel für die Entstehung von Kategorien sei die der Kausalität herangezogen. Durkheim erläutert sie anhand von Vermehrungsriten der australischen Arunta- und Urabunna-Stämme, die sich auf verschiedene als Nahrung dienende Raupenarten oder auch auf die Vermehrung von Wolken zur Regenerzeugung beziehen. Alle diese Riten beruhen auf dem Grundsatz der Nachahmung der Tiere bzw. Dinge, deren Vermehrung erzwungen werden soll. Da die mythischen Ahnen die Weltverhältnisse ursprünglich ordneten, werden mit den Dingen zugleich diese Ahnen nachgeahmt. Indem man sich mit Flaumfedern schmückt und sie anschließend gemeinschaftlich abschüttelt, ahmt man

die Wolken-Menschen des Alcheringa nach, die der Sage nach die Gewohnheit hatten, in den Himmel zu steigen, um dort Wolken zu bilden, aus denen dann Regen herniederfiel. Mit einem Wort: Der Ritus hatte den Zweck nachzuahmen, wie sich die Wolken, die Träger des Regens, bildeten und hochstiegen. (FrL, S. 519)

Die mimetischen Riten beruhen, so Durkheim, auf dem Prinzip der Ansteckung, wonach Wirkungen sich auf räumlich oder sozial benachbarte Objekte (z. B. Verwandte) verbreiten, und dem Prinzip Ähnliches erzeugt Ähnliches, wonach mimetisches Verhalten den entsprechenden Zustand oder das gemeinte Wesen erzeugt. Da die Versammelten nicht nur überzeugt sind, mit den weltschöpfenden Ahnen verwandt zu sein, sondern auch nach dem Prinzip Ähnliches erzeugt Ähnliches „wirklich, Tiere oder Pflanzen von der Gattung zu sein, deren Namen sie tragen“ (FrL, S. 525), ergibt sich nach dem Prinzip der Ansteckung die Übertragung ihres Handelns – etwa der Nachahmung des Schlüpfens von Raupen – auf die ‚verwandten‘ Tiere oder Dinge.

Dass diese Riten die Vorstellung eines dem wissenschaftlichen Denken vergleichbaren kausalen Zusammenhangs zwischen dem rituellen Handeln und der Vermehrung von bestimmten Tieren, von Regen usw. erzeugen, ergibt sich aus zwei Überlegungen Durkheims. Zum einen ist die rituelle Praxis mit der gesamten Persönlichkeit des Teilnehmers verbunden. Er hängt „mit allen Kräften seiner Seele an diesen Praktiken […], durch die er sich periodisch erneuert.“ (FrL, S. 529) Zweifel am kausalen Zusammenhang würde ihn in moralische Verwirrung stürzen, die natürlich vermieden wird. Zum zweiten begründet Durkheim die Stabilität der ‚Theorie‘ trotz gelegentlicher Misserfolge ganz in Analogie zur modernen Wissenschaftstheorie:

In dieser Beziehung unterscheidet sich diese Mentalität [der Australier] nur in Graden von der des Gelehrten. Wenn ein wissenschaftliches Gesetz die Autorität zahlreicher und verschiedenartiger Erfahrungen für sich hat, wäre es methodisch ein Fehler, es wegen einer Entdeckung eines Faktums, das zu widersprechen scheint, leichtfertig aufzugeben. Man muß sicher sein, daß dieses Faktum nur auf eine Art interpretiert werden kann und daß man es unmöglich erklären kann, ohne den Satz aufzugeben, den es außer Kraft zu setzen scheint. Der Australier tut nichts anderes, wenn er den Mißerfolg eines intichiuma [eines Ritus] irgendeinem Zauber oder die Überfülle einer vorzeitigen Ernte einem mystischen intichiuma zuschreibt, das im Jenseits gefeiert worden ist. Er ist um so berechtigter, an seinem Ritus nicht zu zweifeln, als er glauben kann, daß sein Wert durch eine große Zahl von zutreffenden Geschehnissen bestätigt ist oder doch bestätigt zu sein scheint. Vor allem die moralische Wirksamkeit der Zeremonie ist wirklich und von allen, die daran teilnehmen, direkt belegt. (FrL, S. 529f .)

Durkheim argumentiert hier implizit mit der damals neuesten und später von Karl Popper, Imre Lakatos und Paul Feyerabend rezipierten und weiterentwickelten Wissenschaftstheorie Pierre Duhems, derzufolge ein einzelnes Experiment eine Theorie nicht umstürzen kann, da sie mit Bündeln von theoretischen Vorannahmen zusammenhängt und immer wieder durch Zusatzannahmen gerettet werden kann.Footnote 87 Analog dazu wird die Annahme eines kausalen Zusammenhangs zwischen einer rituellen Handlung und dem erhofften Ergebnis nicht durch einen Misserfolg gestört, da er mit Bündeln von Vorannahmen über die mythischen Ahnen und die Natur der Dinge sowie dem moralischen Gesamtzustand der Individuen verbunden ist. Die wissenschaftliche Auffassung der Kausalität wird derart in den Riten nicht nur vorbereitet, sondern ist, in rudimentärer Form, schon vorhanden. In ähnlicher Weise wie hier am Beispiel der Kausalität zeigt Durkheim die Entstehung anderer Kategorien. Die Riten und Mythen speichern nicht nur, wie auch in der derzeitigen Ethnologie angenommen,Footnote 88 lokal relevantes Wissen über Zeiten, Räume, sozial angemessenes Verhalten und die Dinge der Natur, sondern sie formen die fundamentalen erkenntnisleitenden Kategorien und moralischen Forderungen, auf denen die Einheit der Gesellschaften aufruht.

Schon fast anderthalb Jahrzehnte vor der groß angelegten Zusammenfassung seiner religionssoziologischen Überlegungen in Die elementaren Formen des religiösen Lebens hatte Durkheim einen Aufsatz im Rahmen der Debatten um die Dreyfus-Affäre veröffentlicht, der die Prinzipientreue der ‚Intellektuellen‘ gegen Angriffe vom Standpunkt der ‚Staatsräson‘ und des Utilitarismus (Spencer) aus verteidigt. Die universale, auf dem abstrakten Prinzip der Menschheit überhaupt beruhende Moral der Aufklärung, insbesondere Kants und Rousseaus, sei „die Grundlage unseres moralischen Katechismus geworden“ und als solche „völlig von Religiosität geprägt.“Footnote 89 Um die menschliche Person herum entstehe wie bei den heiligen Dingen eine Leere, die ihr Respekt verschaffe.

Mit zunehmender Größe und Arbeitsteilung zerfällt die moderne Gesellschaft nach Durkheim in unterschiedliche Traditionen und Praktiken, was eine einheitliche Durchformung – wie zuvor durch das Christentum – erschwert. Die Individuen entwickeln ihre Einstellungen aus unterschiedlichen Perspektiven, so dass selbst die Mitglieder „derselben gesellschaftlichen Gruppe nichts Gemeinsames mehr haben werden außer ihrer Eigenschaft als Mensch, außer den für die menschliche Person im allgemeinen konstitutiven Merkmalen.“ (IuI, S. 63) In der „Religion der Menschheit“ liegt daher die Schrumpfform, die bislang letzte, verdünnteste Form von Religion vor. Sie habe im Laufe des 19. Jahrhunderts die früheren, mehr spezifischen Religionen „ersetzt“ und fordere vom Individuum, dass es – wie oben auch bei den Arunta zu sehen – „sich selbst überschreitet und über sich selbst hinausgeht“ (IuI, S. 59), und zwar in Richtung des Individuums im allgemeinen, der Menschheit überhaupt. Wie andere Religionen habe auch diese ihre Glaubenssätze und Riten: „als oberstes Dogma die Autonomie der Vernunft und als obersten Ritus die freie Prüfung.“ (IuI, S. 60) Damit wird die Wissenschaft zum Modell der Religion des Individuums, dem „einzige[n] Glaubenssystem, das die moralische Einheit des Landes sicherstellen kann.“ (IuI, S. 62)

In unserem Kontext ist Durkheims Versuch, die Religion durchgängig als den ‚Kitt‘ zu beschreiben, der Gesellschaften zusammenhält, indem sie die Individuen auf gemeinsame moralische Regeln (Werte) und Formen der Erkenntnis verpflichtet, in mehrfacher Weise bemerkenswert. Zum einen gibt es nach Durkheim keine grundsätzliche Differenz zwischen ‚primitiven‘ und ‚entwickelten‘ Formen der Religion, indem trotz großer Divergenzen im Erscheinungsbild überall dieselben Grundelemente auftreten. Damit wird eher verständlich, dass in Japan eine polytheistische Religion im Kontext einer hochentwickelten Industriegesellschaft weiterbesteht, ohne dass dieser (scheinbare) Bruch zwischen Tradition und Moderne zu Konflikten führen würde. Im Gegenteil: Die zahlreichen Schreinfeste (matsuri), deren Erscheinungsform durchaus an die Arunta-Versammlungen einschließlich ihrer ekstatischen und ihrer Gefahrenmomente erinnert, scheinen nicht nur die lokalen Gemeinschaften ganz im Sinne Durkheims zusammenzuhalten, sondern – freilich befördert durch die Transformation während der Meij-Restauration und die Differenz zu den monotheistischen Religionen – auch zur nationalen Einheit beizutragen. Dass alle Religionen, auch die polytheistischen, auf einem vernünftigen Fundament aufruhen, oder es vielmehr erst erzeugen und daher auch eine vernünftige Kommunikation innerhalb und zwischen Gesellschaften durchgehend möglich ist, wird dadurch bestätigt.

Zum zweiten dürfte Durkheims ‚Religion des Individuums‘ bereits seit dem Ersten Weltkrieg im Zerfall begriffen sein. Zumindest für Deutschland stellt er selbst schon 1915 diese Diagnose, wenn er Heinrich von Treitschke als Repräsentanten des kollektiven Denkens in Deutschland vorwirft, den Staat als „ein Absolutes“Footnote 90 zu behandeln, das über dem Völkerrecht, der Moral und der bürgerlichen Gesellschaft stehe. Deren oberste, von keiner Staatsräson einzuschränkende Prinzipien, die Autonomie der Vernunft und die freie Prüfung, sowie deren angestrebter Effekt, der Zusammenhalt der Gesellschaft, sind damit hinfällig. Wenn Durkheims Satz, alle Gesellschaften würden durch Religionen zusammengehalten oder sich daraus erneuern (vgl. FrL, S. 625), dennoch richtig ist, scheint zu folgen, dass die Gesellschaft in eine Reihe von Gesellschaften auseinanderfällt, zumindest in religiöser Hinsicht. Die Religion kann „in der Moderne nicht mehr als primäres Solidaritätsmedium gelten […] – sie bildet nur noch, um Ferdinand Tönnies zu paraphrasieren, Gemeinschaft in Gesellschaft.“Footnote 91 Das Auseinanderfallen in Gemeinschaften mit verschiedenen Religionen, Sitten und unterschiedlichem Selbstverständnis widerspricht allerdings nicht notwendig dem Zusammen-, oder besser: Nebeneinanderherleben teilautonomer Gemeinschaften in einer arbeitsteiligen Gesellschaft, die sich anhand vernünftiger Prinzipien reguliert, denn die Vernunft bildet nach Durkheim das Fundament aller Religionen.

Das japanische Modell eines Polytheismus, der ein Nebeneinander von multireligiösen, lokal verankerten Gesellschaften mit ihren je eigenen Traditionen im Rahmen eines Verfassungsstaates nicht nur duldet, sondern als ‚nationale Eigenart‘ aktiv fördert, könnte zumindest einige Denkanstöße in dieser Richtung geben, obwohl ein solches Nebeneinander der Religionen bei Durkheim nicht explizit vorgesehen ist. Immerhin gab es mit der alten, multikonfessionellen Ständegesellschaft des Alten Reiches zwischen Dreißigjährigem Krieg und Französischer Revolution auch in Deutschland eine politische Organisationsform, die im Vergleich zur Einförmigkeit der modernen Gesellschaft die relative Autonomie gesellschaftlicher Gruppen und ihre Abgrenzung nach außen im Verhalten, im Moralkodex, in ihren Riten, im äußeren Erscheinungsbild bis hin zur eigenen Gesetzgebung (in den Ländern und freien Städten) kultivierte, ohne dass dadurch per se größere Konflikte entstanden wären. Die demokratischen Elemente bezogen sich nach dem Grundsatz des ‚ganzen Hauses‘Footnote 92 (aristotelisch: oikos) freilich weniger auf Individuen als auf die Vertretung von Gruppen: der Reichsstände gegenüber dem Kaiser auf dem Reichstag, der Landstände gegenüber den Landesherren auf den Landtagen sowie unterschiedlicher Gruppen, etwa der Zünfte, in den Städten.

3.3 Walter Burkert und René Girard

Wie bei Durkheim wird in den 1972 erschienenen, auch literaturwissenschaftlich breit rezipiertenFootnote 93 Werken von Walter Burkert und René Girard die Einheit von Gemeinschaften über Rituale geschaffen; der Schwerpunkt liegt hier aber auf dem Opfer, insbesondere dem Blutopfer einschließlich Menschenopfer. Der Zusammenhang zwischen Religion und Gewalt ist danach unauflöslich, zugleich übernimmt die Religion aber die Aufgabe, die im Zentrum der Kultur lokalisierte Gewalt zu regulieren.

Für Burkert ist das Töten dem Menschen von Anfang an mitgegeben, da die Hominisation ihren Ausgang von der Jagd nehme. Mit der Jagd seien die ersten Gemeinschaften als Männerbünde entstanden, deren innerer Zusammenhalt durch die nach außen – aufs Tier oder auf Feinde – abgeleitete Aggressivität gesichert wurde: „Der innere und der äußere Effekt der ins Jägertum eingegangenen Aggression bedingen und steigern sich gegenseitig: Gemeinschaft ist definiert durch die Teilhabe am blutigen Männerwerk […].“Footnote 94 Die Grenzen zwischen innen und außen, zwischen Mensch und Tier lassen sich allerdings nur schwer aufrechterhalten: was gegenüber dem Tier oder anderen Gruppen gefordert ist, ist innerhalb der Gruppe Tabu; das getroffene Tier blutet wie ein Mensch. So bildet sich ein Bewusstsein der Schuld gegenüber dem Leben heraus. In Riten, die sich von der Vorgeschichte bis zu Ägyptern und Griechen verfolgen lassen, werden die getöteten Tiere durch Sammlung und Reinigung der Knochen, Ausspannen der Haut u. ä. symbolisch restituiert. Im Ritual des Opfers ragt zwar die Natur in die Kultur hinein, mit wachsendem Abstand zur biologischen Grundlage nimmt aber die Variabilität der Riten zu. Sie werden zur Regulierung aggressiven Verhaltens eingesetzt, ohne die Bindung an biologisch vorgegebenes Verhalten ganz lösen zu können. So droht im Zentrum aller Religionen, auch des Christentums, „faszinierend blutige Gewalt.“Footnote 95

Die biologische Grundlage von Ritualen führt Burkert – ähnlich wie Durkheim – zu der Überzeugung, dass ihr Sinn weniger in Glaubensvorstellungen, in den Mythen, als in der rituellen Praxis liegt, die von Generation zu Generation weitergegeben wird: „nicht Vorstellungen bringen Riten hervor, die Riten erzeugen und gestalten vielmehr ihrerseits die Vorstellungen, ja selbst Erleben und Empfinden.“Footnote 96 Die Einübung rituellen Verhaltens erzeugt gesellschaftlich angemessenes Verhalten. Das gilt besonders für das Tieropfer, das in der anschließenden Verteilung der Speisen und dem gemeinsamen Mahl die gesellschaftliche Ordnung abbildet. Selbst über die neolithische Revolution hinaus, die mit dem Ackerbau die Jagd eigentlich entbehrlich machte, blieb sie als Vorrecht des Königs. Ebenso blieb das blutige Opfer (von domestizierten Tieren) erhalten, vielfach unter Einbezug von Ackerfrüchten in das Ritual wie in Griechenland.

Inzwischen ist die Forschungslage zur Hominisation nicht mehr so eindeutig wie noch in den Siebzigerjahren. Die Vergrößerung des Gehirns setzt eine höhere Energiezufuhr durch verändertes Nahrungsverhalten voraus; diskutiert wird, ob dafür der Verzehr von Fleisch (Aasfressen und/oder Jagd) oder von erhitzter und daher leichter verdaulicher pflanzlicher Nahrung (Zähmung des Feuers) verantwortlich ist.Footnote 97 Burkert nahm daher schon im Nachwort zur zweiten Auflage von Homo necans (1996) die These vom blutigen Opfer als anthropologischer Konstante vorsichtig zurück, hält aber gegen die Behauptung der Unabhängigkeit der Kultur von der Natur durch die neuere Kulturwissenschaft – repräsentativ nennt er Clifford Geertz – an der biologischen Grundlage der Religion fest. Nur wenn symbolisches Handeln auf einer realen, universal gültigen Grundlage operiere, sei transkulturelles Verstehen verständlich zu machen.Footnote 98

AuchFootnote 99 nach René Girard bildet das Blutopfer die Grundlage aller Kultur; es wurzelt allerdings weniger in der biologischen Konstitution des Menschen als im mimetischen Begehren, ohne das Lernen und damit Kultur nicht möglich wäre.

Girard entwickelt die Neigung der Menschen zur Gewalt aus einer breiteren Deutung von Freuds Ödipuskomplex. Die Neigung zur Nachahmung bezieht sich ihm zufolge nicht bloß auf den gleichgeschlechtlichen Elternteil, sondern auf alle Personen, die als Vorbilder in Frage kommen. Das Streben des Nachahmers wie des freigewählten Modells bezieht sich auf dasselbe Objekt, so dass sie zwangsläufig zu Konkurrenten werden und sich gegenseitig beim Verfolgen ihrer Wünsche behindern:

Der Nachahmer hat es, so glaubt das Modell, verraten; „er kommt ihm ins Gehege“. Der Nachahmer wiederum sieht sich verurteilt und erniedrigt. Er glaubt, daß sein Modell ihn als unwürdig betrachtet, an der höheren Existenz, in deren Genuß es selbst gekommen ist, teilzuhaben.Footnote 100

Mit dem Scheitern des Wunsches verstrickt sich der Nachahmer immer tiefer in die widersprüchliche Struktur des Begehrens: Weicht er auf andere Wünsche aus, so werden sie auf dieselbe Weise durchkreuzt; beharrt er auf seinem Wunsch, wird er wiederum durchkreuzt, bis schließlich „die Gewalt selbst das sicherste Zeichen jenes Seins ist, das ihn immer meidet.“Footnote 101 Da alle Individuen in diesen Mechanismus verstrickt sind, steigt die Bedrohung aller durch alle mit der Zeit an und würde die Gesellschaft zerstören, wenn nicht ein ‚Sündenbock‘ gewählt würde, dem die akkumulierte ‚Schuld‘ aufgeladen wird. Indem die Gesellschaft die verstreut auftretende Gewalttätigkeit auf das Opfer ablenkt, stellt es „die Harmonie innerhalb der Gemeinschaft wieder her, es verstärkt den sozialen Zusammenhalt.“Footnote 102 Im Rückblick erscheint der Sündenbock nun als derjenige, der die Gesellschaft wieder geeint hat und wird in dieser Funktion als Gott oder Heros verehrt. Das zeigt Girard exemplarisch an der Umwertung des Ödipus vom ausgetriebenen Sündenbock in Sophokles‘ König Ödipus zum Schutzgott in Ödipus auf Kolonos.Footnote 103

In der rituellen Wiederholung des Opfers versichert sich die Gesellschaft immer wieder ihrer Einheit, bis dieses Opfer seine Funktion in einer ‚Krise des Opferkultes‘ einbüßt und ein neues gesucht und anschließend rituell verehrt wird. Alle Gesellschaften beginnen, so Girard, „mit dem Religiösen, wie es Durkheim richtig gesehen hat“.Footnote 104 Selbst in der Herleitung von Raum und Zeit aus der Religion stimmt er Durkheim zu. Allerdings habe dieser nicht gesehen, in welchem Maße die Gewalt in dieses Fundament eingegangen sei.

Später hat Girard den Zwangscharakter des Sündenbock-Mechanismus gemildert und im Christentum eine Möglichkeit seiner Überwindung gesehen. Indem die Passionsgeschichte ihn als Gewaltmechanismus kenntlich mache, verschiebe das NT die Perspektive von den Verfolgern zu den Verfolgten, den Sündenböcken; aus dem Sündenbock werde das ‚Lamm Gottes‘, das jede Gewalt zurückweise.Footnote 105

Vom japanischen Polytheismus her gesehen ergeben sich jedoch Zweifel sowohl an der Ubiquität des Blutopfers und der damit verbundenen Gewalt als auch an der Sonderstellung des Christentums als ‚Religion der Gewaltlosigkeit‘. Wolfgang Palaver hat darauf aufmerksam gemacht, dass sich der Begriff der Schuld von den polytheistischen zu den monotheistischen Gesellschaften fundamental verschiebt. Indem die polytheistischen Religionen die Schuld für die Gewalttätigkeit dem Sündenbock aufladen, wird sie mit dessen Austreibung oder Opferung vernichtet, und die Gesellschaft bleibt schuldfrei.Footnote 106 Mit der Verschiebung des Sündenbock-Mechanismus auf das Opfer Jesu nimmt zwar ‚das Lamm Gottes die Sünden der Welt hinweg‘ (Joh. 1, 29); Voraussetzung ist aber, dass die Verfolger fortan die Schuld für den Gewaltzusammenhang bei sich selbst statt beim Verfolgten suchen. Die Folgen des christlichen ‚mea culpa‘ dürften aber nicht weniger gravierend sein als die Verlagerung der Schuld auf den Sündenbock: eine Disposition zur Selbstanalyse, ein gebrochenes Selbstbewusstsein, Bußübungen und Selbstkasteiungen, Angst vor göttlichen Strafen. Auch der Akkumulation der christlich verstandenen Schuld im Individuum folgt immer wieder, wie die Geschichte hinreichend zeigt, die Entlastung durch den Sündenbock-Mechanismus.

In der japanischen Mythologie gibt es nichts dem Sündenfall, dem Bruch zwischen Göttern und Menschen Vergleichbares, der in der biblischen Tradition und vielen anderen Mythologien der menschlichen Schuld und ihrer Abwälzung auf einen Sündenbock zugrunde liegt. Die früheste bekannte Mythologie im Kojiki (712) kennt weder eine eigentliche Schöpfung der Welt noch einen Sündenfall oder blutige Opfer: Die ersten Gottheiten „entstanden“, als „Himmel und Erde sich erstmals voneinander trennten“. Die japanischen Inseln und spätere Gottheiten werden „geboren“, ebenso „entstanden“Footnote 107 die Menschen als eine Art „Menschengras“,Footnote 108 ohne von einem Gott geschaffen zu werden.Footnote 109 Der Tod kommt nicht als Strafe über sie, sondern als Folge einer Auseinandersetzung zwischen den göttlichen Geschwistern Izanagi und Izanami:

Izanami-nó-mikótó sprach: „Ach, du mein edler Bruder, wenn du so handelst, dann werde ich vom Menschengras deines Landes an einem Tag eintausend Köpfe würgen und töten!“ Darauf sprach Izanagi-nó-mikótó: „Ach, du meine edle, geliebte jüngere Schwester, wenn du so handelst, dann werde ich an einem Tag eintausendfünfhundert Gebärhäuser aufstellen! Auf diese Weise werden an einem Tag sicherlich eintausend Menschen sterben, und es werden sicherlich an einem Tag eintausendfünfhundert Menschen geboren werden!“Footnote 110

Ohne einen fundamentalen Bruch zwischen Natur und Kultur verbleiben Götter und Menschen im Gesamtzusammenhang der Natur. Da Natur und Götter die Menschen an Größe und Macht übertreffen, erbittet man ihr Wohlwollen durch Gebet und Opfer. Blutopfer im Sinne Burkerts und Girards werden jedoch nicht dargebracht. Im Engishiki, einem Gesetzeswerk aus dem frühen 10. Jahrhundert, werden für das ainie-no-matsuri neben Haushaltsgeräten und Stoffen zubereitete Speisen, etwa getrockneter Fisch, sowie Seeohrmuscheln und Bonitos als Opfergaben genannt.Footnote 111 Größere Säugetiere, v. a. weiße Pferde, werden nicht getötet, sondern als ‚Götterpferde‘ einem Schrein zur Verfügung gestellt, um der Gottheit als Reitpferd zu dienen.Footnote 112 Von daher leitet sich der noch heute weitverbreitete Brauch her, Votivtafeln mit Pferdebildern (ema) mit der Bitte des Spenders zu beschriften und an den Schreinen darzubringen. Es handelt sich auch hier nicht um einen Ersatz für blutige Pferdeopfer, sondern um eine „Stellvertretung des Pferdes als Reittier der Gottheit oder als Tragtier von Opfergaben.“Footnote 113

Trotz einiger Hinweise sind Blutopfer weder archäologisch noch historisch nachweisbar.Footnote 114 Dennoch spielen das blutige Tier- und das Menschenopfer in buddhistischen Legenden eine gewisse Rolle. Im Vordergrund steht dabei das Selbstopfer, wobei auch an das Selbstopfer des Samurais (seppuku) oder der kamikaze-Piloten zu denken wäre. Blutopfer im Sinne des Sündenbock-Paradigmas scheinen in Japan unbekannt gewesen zu sein; jedenfalls spielen sie in der kollektiven Erinnerung keine Rolle.

Einen Grenzfall bilden riskante Praktiken bei Schreinfesten (matsuri), bei denen Unfälle mit Verletzten oder gar Toten nicht selten sind. Beispiele wären das funekko nagashi in Morioka (Präfektur Iwate), bei dem brennende Boote an Seilen durch den Kitakami-Fluss navigiert werden, während Feuerwerksraketen in unvorhersehbaren Richtungen umherschießen,Footnote 115 oder das onbashira-sai am Suwa-Schrein (Präfektur Nagano).Footnote 116 Alternativ zu der Deutung, dass es sich um ein Spiel der (meist jungen) Männer mit der Gefahr handelt, könnte man diese Feste auch als bewusste Inkaufnahme von Opfern interpretieren, deren Auswahl dem Zufall (und der Geschicklichkeit der Teilnehmer) überlassen wird. Es handelte sich dann allerdings auch hier um freiwillige Selbstopfer.

3.4 Kurzer Rückblick

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass der von Weber behauptete Zusammenhang zwischen protestantischer Askese und kapitalistischer Entwicklung so kaum besteht; ja dass eine polytheistisch geprägte Mentalität rationalem (Wirtschafts-) Handeln keineswegs entgegensteht. Im Gegenteil: Nach Durkheim ist die Bildung von Gesellschaften im gemeinsamen rituellen Handeln mit der Ausbildung von Rationalität fest verbunden. Von daher könnte auch die religiös und kulturell auseinanderfallende Gesellschaft der Gegenwart sich möglicherweise als Aggregat teilautonomer Gemeinschaften unter dem gemeinsamen Dach der Vernunft wieder zusammenfinden, ohne dass die Unterschiede durch ‚Integration‘ eingeebnet werden müssten. Schließlich wird mit Blick auf den japanischen Shintō auch die von Burkert und Girard behauptete enge Verbindung zwischen dem Blutopfer, d. h. roher Gewalt, und dem Zusammenhalt von Gesellschaften im Medium der Religion fraglich.

4 Kurzer Vorblick auf die Beiträge

Wolfgang Braungart entfaltet zunächst den Religionsbegriff in seiner Breite zwischen den monotheistischen und den polytheistischen Religionen, zwischen politischen Religionen, die den Zusammenhalt der Gesellschaft garantieren sollen, und der eklektizistischen Religion des Subjekts, das sich, verstärkt seit der europäischen Neuzeit, unabhängig vom Kollektiv an seinen eigenen religiösen Sinnbedürfnissen ausrichtet. Hinzu kommt die Diffusion der Religion in die Sphären von Philosophie, Literatur und Kunst. Grundlegend bleibt dabei ihre Funktion als Ausdruck menschlicher Selbstinterpretation. Eine Synthese dieser gegenläufigen Tendenzen findet sich in der Philosophie und Literatur um 1800 mit ihrer Forderung nach einer ‚Neuen Mythologie‘, die nach Aufklärung und Französischer Revolution den gesellschaftlichen Zusammenhang als Einheit in der Vielfalt erneut zu stiften hätte. Auch Goethes bekanntestes Gedicht mit Asienbezug, Gingo biloba, schließt sich dem an, indem es den Orient in die „Doppelstruktur menschlichen Bewusstseins“ zwischen Weltzuwendung und Selbstreflexion einbezieht.

Michael Mandelartz bestätigt zunächst die These Jan Assmanns von der Toleranz und Weltzuwendung polytheistischer Religionen im Gegensatz zur Transzendenz der monotheistischen Religionen anhand der Interpretation einiger japanischer Mythen und Riten. In der Wendung des Gründers der ‚nationalphilologischen Schule‘, Motoori Norinaga (1730–1801), gegen China zeigt sich allerdings, dass auch polytheistische Religionen eine intolerante, ja nationalistische Wendung nehmen können. Die weitgehenden Übereinstimmungen mit dem Nationalismus Johann Gottlieb Fichtes beruhen in beiden Fällen auf der ideologischen Verengung auf vermeintlich nationale Eigenarten, statt durch Ausweitung der Perspektive gemeinsame Grundlagen des Eigenen und des Fremden zu suchen.

Auch nach David Weiß bildet der japanische Shintō zunächst einen Anwendungsfall für Jan Assmanns These von der Übersetzbarkeit polytheistischer Gottheiten im Rahmen ‚kosmotheistischer‘ Religionen. Allerdings wurden die japanischen kami schon früh als ‚Spuren‘ buddhistischer Gottheiten gedeutet. Es handelte sich weniger um ein gleichberechtigtes Verhältnis als eines der hierarchischen Inklusion der primären, zunächst schriftlosen und auf ritueller Kohärenz beruhenden Religion Japans in den sekundären, auf Transzendenz ausgerichteten Buddhismus mit seinem Kanon heiliger Schriften. Im Zuge seiner Weiterentwicklung kehrte der Shintō das Verhältnis im 15. Jahrhundert schließlich um und erklärte die buddhistischen Gottheiten zu ‚Spuren‘ der kami. Nach seiner Installation als Nationalreligion wurden mit Beginn des Kolonialismus auch koreanische Gottheiten in das japanische Pantheon integriert. Der Shintō übernahm damit eine legitimierende Funktion für den japanischen Kolonialismus, ähnlich wie das Christentum für den europäischen.

Hirafuji Kikuko geht dem Zusammenhang der frühen wissenschaftlichen Mythenforschung und ihrer Suche nach dem ‚Geist der Gründerzeit‘ mit dem wachsenden Nationalismus im Gefolge des Ersten Japanisch-Chinesischen Krieges (1894/95) nach. Eine ähnliche Verbindung von Nationalismus und Mythenforschung ließe sich wohl bei den Sammlungen der Brüder Grimm nachweisen. In den während der Napoleonischen Kriege entstandenen Kinder- und Hausmärchen (1812–1815) liegt, der Vorrede zufolge, „lauter urdeutscher Mythus“.Footnote 117 Ein Dreiviertel Jahrhundert später, im Zeitalter des Kolonialismus, verbindet sich die wissenschaftliche Mythenforschung in Japan freilich unmittelbar mit der Rechtfertigung kolonialer Ausdehnung, die allerdings, anders als in Europa, benachbarte Gebiete aus demselben, von Buddhismus und Polytheismus geprägten Kulturkreis betraf. Der japanische Kolonialismus gehe daher, so die Mythenforscher, nicht notwendig mit religiösen Konflikten in den abhängigen Gebieten einher.

Klaus Antoni thematisiert schließlich das verwickelte Verhältnis von europäischem Japanbild und japanischem Selbstbild anhand der Auseinandersetzungen zwischen Lafcadio Hearn, dem wohl einflussreichsten Interpreten der japanischen Vormoderne mit Wirkung u. a. auf Stefan Zweig und Hugo von Hofmannsthal, und Basil Hall Chamberlain, dem Übersetzer des Kojiki ins Englische und führenden Japanologen um 1900. Hearn vertrat einen ‚einfühlenden‘ Umgang mit der japanischen Kultur, der ihre Fremdheit bis zur völligen Unzugänglichkeit statuierte. Damit trug er das Selbstbild Japans nach außen, das die japanische Regierung insbesondere mit Bezug auf das Kojiki als ideologische Grundlage der japanischen Nation schuf. Hearn geriet mehr und mehr in Gegensatz zu seinem Mentor Chamberlain, der die Erhebung des Shintō zur Staatsreligion als Invention of a New Religion verurteilte. Der Gegensatz zwischen einem der Aufklärung verpflichteten Verständnis der japanischen Kultur und der Betonung ihrer Andersheit im Sinne des ‚Orientalismus‘ (E. Said) setzt sich bis heute fort, auch innerhalb der Japanologie. Man könnte von einer ‚Selbst-Orientalisierung‘ Japans sprechen. Umgekehrt war aber auch das Verhältnis Japans zu seinen Nachbarn, insbesondere China, vom orientalistischen Blick geprägt.