Schweigen und Aufruhr beim Rottweiler Landgericht
StartseiteRegionalRegion TuttlingenRottweilNach Krawall-Demo: Angeklagter schweigt, das Publikum ist dafür umso lauter

Auseinandersetzungen am 1. Mai

Nach Krawall-Demo: Angeklagter schweigt, das Publikum ist dafür umso lauter

Rottweil / Lesedauer: 7 min

Es sind Szenen, die sich im Gerichtssaal in Rottweil nicht häufig abspielen. Und bei einer Frage geht es um besonders intime Details.
Veröffentlicht:13.05.2024, 05:00

Artikel teilen:

Es ist einer der ungewöhnlichsten Prozesse in der langen Geschichte des Landgerichts Rottweil. Szenen aus dem Gerichtssaal: Über ein juristisches Verfahren mit politischen Begleiterscheinungen von Gegnern der Corona- und Impfmaßnahmen, über gesellschaftliche Gegensätze und ein rauer gewordenes Umgangsklima.

Zuhörer lachen höhnisch und knallen Türen zu

Da ist ein Angeklagter, der stundenlang dasitzt, in sich versunken, die rechte Hand unablässig vorm Gesicht und sich standhaft weigernd, auch nur ein einziges Wort zu sagen, nachdem er am ersten Prozesstag „wegen Herzrasens“ weggeblieben war und sich zu Beginn des zweiten Prozesstags eingenässt hatte. Da sind Zuhörer im vollbesetzten Gerichtssaal, die dem Gericht ihren Respekt demonstrativ verweigern, mal höhnisch lachen, immer wieder dazwischenrufen, die Tür laut hinter sich zuknallen oder tosend Beifall klatschen.

Da sind zwei vielfach bewährte Sachverständige, die ebenfalls Spott ertragen müssen und sichtlich Mühe haben, sich zu beherrschen. „Das habe ich noch nie erlebt!“, sagt einer fassungslos - ein Satz, wie ihn schon der Richter am zweiten Verhandlungstag ausgesprochen hatte.

Richter ist nahezu auf sich allein gestellt

Da ist Verteidiger, Rainer Schad, der versucht, aus dem juristischen auch einen politischen Prozess gegen Corona- und Impf-Maßnahmen zu machen. Da ist Staatsanwalt Felix Miller, der keine Fragen hat, der das Geschehen ebenfalls beharrlich schweigend verfolgt. Und da ist ein Richter, der mit allen Mitteln der Fragetechnik versucht, der Wahrheit auf den Grund zu gehen - in all den komplizierten, zum Teil unappetitlichen Details, die entscheidend sind. Ein Richter, der weitgehend auf sich allein gestellt ist, nachdem seine beiden (Laien-)Schöffen erst zu Prozessbeginn vereidigt wurden und somit über keinerlei Erfahrung verfügen.

Bei nicht angemeldeter Demo kommt es zu Zusammenstößen mit der Polizei

In der Sache geht es um die Aufarbeitung jener 1.-Mai-Krawall-Demo in Tuttlingen, die inzwischen ziemlich genau drei Jahre zurückliegt. Bei der nicht angemeldeten Demonstration kam es im Stadtgebiet unterhalb des Honbergs zu Zusammenstößen zwischen der Polizei und den etwa 50, weitgehend vermummten und Fackeln tragenden Teilnehmern. Einer von zwei Organisatoren war jener Mann, der jetzt in Rottweil vor Gericht steht.

Vor dem Landgericht in Rottweil geht es derzeit um die Krawall-Demo am 1. Mai 2021.
Vor dem Landgericht in Rottweil geht es derzeit um die Krawall-Demo am 1. Mai 2021. (Foto: Michael Hochheuser)

Zum Prozesstermin am 10. Oktober 2022 vor dem Amtsgericht Tuttlingen war er nicht erschienen. Sein Verteidiger präsentierte kurzfristig ein dürres Attest: „Akute Erkrankung“. Der Richter hielt das für nichtssagend und verwarf den Einspruch gegen den Strafbefehl über 4800 Euro. Der Angeklagte, der im Vorfeld hatte verlauten lassen, er erkenne das Gericht in Tuttlingen nicht an, ging in die Berufung.

Zuhörer stehen nicht auf, als der Richter den Raum betritt

Ist der heute 28-Jährige verhandlungsfähig? Diese Frage stellt sich auch zu Beginn des dritten Prozesstags vor der Kleinen Strafkammer, dem Berufungsgericht im Landgerichtsbezirk Rottweil. Als erstes muss Richter Thomas Geiger die Zuhörer „bitten“, aufzustehen, wenn das Gericht eintritt, wie es die Regeln vorgeben. Geiger ordnet an, dass die beiden Gutachter erneut zunächst den Angeklagten auf seine Verhandlungsfähigkeit untersuchen, „nach bestem Wissen und Gewissen“. Gelächter im Gerichtssaal.

Nach zehn Minuten kommen die Sachverständigen zurück, der Richter muss erneut darum „bitten“, aufzustehen. Diese Prozedur wiederholt sich danach immer wieder, zumal der Angeklagte etwa alle 20 Minuten eine Toiletten-Pause benötigt.

Anwalt des Angeklagten gibt Erklärung für seinen schweigenden Mandanten ab

Die Experten berichten, der Mann habe „überhaupt nicht kooperiert“ und „keinerlei Fragen beantwortet“; sein Zustand sei aber insgesamt stabil, er habe beispielsweise nur einen leicht erhöhten Puls und nicht geschwitzt. Verteidiger Rainer Schad dagegen erklärt, sein Mandant sei „schweißgebadet“.

Der Anwalt widerspricht auch vehement, als der Richter seinen Antrag ablehnt, die Verhandlung per Tonband aufzuzeichnen. Schad gibt im Namen seines Mandanten eine längere Erklärung ab und holt zum ganz großen Zusammenhang aus: Eine solche Tonband-Aufzeichung könne „wissenschaftlich, politisch und medizinisch von herausragender historischer Bedeutung“ sein. Er betont, Corona sei „nicht schlimmer als eine Grippe“.

Er rügt, wie ungerecht die Polizei und die Gesellschaft mit den „Spaziergängern für Freiheit und Selbstbestimmung“ umgehe. Sein Mandant, der „panische Angst“ habe, „von der Staatsmacht zwangsgeimpft zu werden“, sei im Betrieb und im Freundeskreis ausgegrenzt und auch beleidigt worden. Das alles führe bei ihm zu Herzrasen und regelmäßigen Panikattacken. Wenigstens sei es ihm gelungen, seinen Vater und seine Freundin vom Impfen abzuhalten.

Auf die Frage des Richters, ob er sich diese in Ich-Form des Verteidigers für ihn abgegebene Erklärung zu eigen mache, schweigt der Angeklagte weiter. Der Richter lässt das protokollieren.

Angeklagter muss beweisen, dass er verhandlungsunfähig war

Dann die entscheidende Phase und Frage: War der Angeklagte an jenem 10. Oktober 2022 bei der Verhandlung des Amtsgerichts Tuttlingen wirklich verhandlungsunfähig? Ralf Greber, der psychiatrische Gutachter, bringt es auf den Punkt: „Er muss das beweisen!“ Bisher konnte er das nicht. Und so hat Verteidiger Schad mehrere Zeugen benannt, die bestätigen sollen, dass der Angeklagte damals an Durchfall litt. Es sind zwei Freunde des Vaters und die Freundin, die das bezeugen sollen.

Zunächst ist der Hausarzt, 71 Jahre alt, zum zweiten Mal im Zeugenstand. Er hat diesmal, im Gegensatz zum letzten Verhandlungstag, zwar die Unterlagen dabei und jetzt auch ein besseres Erinnerungsvermögen. Er berichtet über „Herzrasen, Erbrechen und Durchfall“ des Patienten im Vorfeld des Prozesses, kann das aber nicht auf das konkrete Datum am ersten Verhandlungstag beziehen. Sein lapidares Attest „akute Erkrankung“ bleibt fragwürdig. Eines ist dem Arzt, dessen Praxis ziemlich weit weg vom Wohnort des Angeklagten liegt, noch wichtig zu erwähnen: „Ich verstehe ihn!“

Wer war wann und wo auf der Toilette?

Die Aussagen der benannten Zeugen zeigen auf, wie hoch kompliziert die Beweislage ist. Die Ausgangslage verdeutlicht das: Der Vater und seine beide Kumpels, jetzt Zeugen, treffen sich regelmäßig in dessen Eigenheim in einer Tuttlinger Nachbargemeinde, so auch am Wochenende vor dem Termin im Tuttlinger Amtsgericht, das am Montag, 10. Oktober verhandeln wollte.

Das Haus hat insgesamt drei Etagen. Unten wohnt der Vater, in der Mitte der Sohn mit Freundin und ganz oben einer der Kumpels als Mieter. Wichtig: In jeder der drei Etagen gibt es ein WC. Deshalb geht es vor Gericht um vielfältige und auch unappetitliche Fragen: Wer war an jenem Abend auf welcher Toilette? Wer hat wann etwas gesehen und/oder gehört? Was hat der Angeklagte gemacht? Wie hing es ihm?

Einer der Kumpels, der nicht in dem Haus lebt, kennt den Angeklagten, der seit Kindheitstagen beim alleinerziehenden Vater lebt, schon lange. Er sei „ein bisschen ein Sensibelchen“, sei früher „ein lebensfroher Mensch“ gewesen, aber heute kaum wiederzuerkennen. An jenem Abend sei er permanent auf dem Klo gewesen. Er, so der 60-Jährige, habe mehrfach zu ihm gesagt: „Reiß Dich zusammen!“

Den Beteiligten reißt der Geduldsfaden

Als es um Einzelheiten geht und auch die Gutachter nachfragen, wird es dem Verteidiger zu viel: „Es ist unter aller Kanone, was hier gefragt wird!“, entrüstet er sich. Tosender Beifall im Gerichtssaal. Jetzt reißt auch dem Richter endgültig der Geduldsfaden: Im Wiederholungsfall, so droht er unmissverständlich, werde er die Namen feststellen lassen und Bußgelder verhängen. Fortan herrscht, nach fast vier Stunden, Ruhe im Saal. Nur der Vater wagt noch einen weiteren Zwischenruf und erhält „eine letzte Warnung“.

Der 60-jährige Zeuge erklärt schließlich, er habe „gehört“, dass der junge Mann an Durchfall gelitten und auch gesehen, dass er es gewesen sei, der aus der Toilette gekommen sei. Der Kumpel, der in der oberen Etage wohnt, lehnt sich betont lässig im Zeugenstuhl zurück, antwortet nur zögerlich, kurz angebunden und stellt mehrfach dem Richter Fragen (“Haben Sie Kinder?“). Zur Sache sagt der ebenfalls etwa 60-Jährige: Als er an jenem Wochenende morgens aufs Klo wollte, habe jemand „besetzt“ gerufen, es sei die Stimme des Mannes gewesen, und so sei er auf die Toilette im Untergeschoss ausgewichen.

Die Freundin, die ihr Alter mit „beinahe 30“ angibt, gibt sich ebenfalls kurz angebunden und bestätigt, dass ihr Partner damals an Durchfall gelitten habe. Und sie betont: „Uns bringt niemand auseinander!“

Der Prozess wird am 14. Mai fortgesetzt.