Die goldenen Zeiten für China sind vorbei.

Die goldenen Zeiten für China sind vorbei

China überschwemmt die Welt mit seinen Exporten. Wie Deutschland mit dieser Warenflut umgehen sollte, erklärt LBBW-Chefvolkswirt Dr. Moritz Kraemer.

Hausgemachter Aufschwung in China

Standpunkt: Früher war China „verlängerte Werkbank“, heute flutet es die Welt mit eigenen Produkten. Schon regt sich Kritik, die chinesischen Dumping-Preise bedrohen den Produktionsstandort Deutschland. Ist die Angst berechtigt?

Moritz Kraemer: China hat starke wirtschaftliche Probleme und setzt auf den Export, um diese Probleme in den Griff zu bekommen. Wenn China verstärkt Industriegüter exportiert, wird die deutsche Wirtschaft stärker getroffen als andere Volkswirtschaften. Plötzlich tritt China als Konkurrent auf – auf denselben Märkten, bei denselben Kunden. Und ein Auftrag an ein chinesisches Unternehmen kann eben nicht an eine deutsche Firma gehen.

Standpunkt: Die Chinesen graben also den deutschen Unternehmen tatsächlich das Wasser ab?

Moritz Kraemer: Wir dürfen nicht vergessen, wie stark China früher Deutschland als Volkswirtschaft geholfen hat. Als China 2001 in die Welthandelsorganisation WTO eintrat, öffnete sich plötzlich ein riesiger Markt. Und dieser chinesische Markt brauchte genau das, worin die Deutschen traditionell stark sind: Maschinen und Autos. Die Chinesen haben gekauft, als gäbe es kein Morgen.

Standpunkt: Und dann kam das Morgen.

Moritz Kraemer: Genau. Im Laufe der beiden vergangenen Jahrzehnte hat die chinesische Wirtschaft allmählich die Abhängigkeit von deutschen Produkten abgebaut. Heute produziert China vieles selbst, manches billiger und manches besser – und manchmal sogar beides. China hat sich gemausert, vom Abnehmer zum Konkurrenten.

Standpunkt: Und zwar zu einem bedrohlichen Konkurrenten. 5 Prozent an Wirtschaftswachstum hat Chinas Staatspräsident Xi Jinping für 2024 vorgegeben.

3.5 %

Wirtschaftswachstum in China erwartet das LBBW Research in diesem Jahr. Die chinesische Staatsführung peilt 5 Prozent an.

Moritz Kraemer: Diese Zahl halte ich für illusorisch. Wir vom LBBW Research halten 3,5 Prozent an Wirtschaftswachstum für realistischer – wenn überhaupt. Denn die goldenen Zeiten für Chinas Wirtschaft sind vorbei.

Standpunkt: Warum sind die goldenen Zeiten für China vorbei?

Moritz Kraemer: Dafür gibt es drei Gründe, die miteinander verzahnt sind. Der erste: die Demografie. Als Folge der jahrzehntelang strikt durchgesetzten Ein-Kind-Politik gibt es immer weniger Arbeitskräfte. Weniger Menschen bedeutet weniger Produktion, da ist die Demografie unerbittlich.

Standpunkt: Das spricht eher gegen ein Wirtschaftswachstum …

Moritz Kraemer: Ebenso wie der zweite Grund: die Investitionsquote. Seit der Finanzkrise wurden über 40 Prozent des Sozialprodukts investiert, etwa in den Wohnungsbau oder in die Infrastruktur. Das passiert heute nicht mehr. Stattdessen werden Investitionen in die Industrie gelenkt, die staatlich gelenkten Unternehmen werden über Kredite gefördert. Bei rein privaten Unternehmen dagegen stagniert die Investitionstätigkeit. Die sind weniger optimistisch. Denn das Kontrollbedürfnis der Kommunistischen Partei Chinas über staatliche Eingriffe führt dazu, dass die Produktivität der chinesischen Unternehmen stagniert. Das Geld wird in den weniger effizienten staatlichen oder teilstaatlichen Unternehmenssektor kanalisiert.

Dr. Moritz Kraemer Chefvolkswirt und Leiter des Bereichs Research

Das Kontrollbedürfnis der Kommunistischen Partei Chinas über staatliche Eingriffe führt dazu, dass die Produktivität der chinesischen Unternehmen stagniert.

Dr. Moritz Kraemer, Chefvolkswirt der LBBW

Standpunkt: Das erklärt allerdings nicht, warum Chinas Wirtschaft jetzt verstärkt auf den Export setzt.

Moritz Kraemer: Das liegt daran, dass nach mehr als zehn Jahren verlässlichen Wachstums die Binnennachfrage in China jetzt schwächelt. Die Konsumenten sind seit Corona pessimistisch und halten sich zurück. Der einzige Ausweg, um produzierte Waren noch verkaufen zu können, ist also der Export. Und davon ist Deutschland besonders stark betroffen: Es gibt kein Land, aus dem wir so viel importieren wie China. Und weil wir selbst hoch industrialisiert sind, spüren wir die Konkurrenz auch auf Drittmärkten stärker als, sagen wir, Frankreich.

Standpunkt: Was halten Sie davon, Strafzölle für chinesische Waren einzuführen?

Moritz Kraemer: Wenig. Wie ich generell wenig davon halte, bei Problemen sofort nach dem Staat zu rufen. Allerdings überlegt die EU gerade, ob bei erkennbaren Dumping-Preisen tatsächlich Strafzölle erhoben werden. Parallel wird darüber nachgedacht, ob für chinesische Waren eine CO₂-Grenzabgabe zu zahlen ist: als Ausgleich dafür, dass der CO₂-Preis in China niedriger liegt als in der EU. Das wäre ein komplizierter, aber grundsätzlich – weil auch die Nachhaltigkeit in der Wirtschaft fördernder – guter Weg.

Standpunkt: Wir könnten uns natürlich auch die Hände reiben und sagen: „Super – jetzt kriegen wir preiswerte Produkte auf Kosten der chinesischen Steuerzahler.“

Moritz Kraemer: Es spricht interessanterweise einiges für diese Sichtweise. Es gibt einige Industriebereiche, aus denen Deutschland sich mehr oder minder verabschiedet hat. Da profitieren wir wirklich von Billigprodukten aus China. Anders sieht das aus, wenn es in Deutschland selbst Produzenten gibt – die werden durch chinesisches Dumping tatsächlich in ihrer Existenz bedroht. Allerdings heißt das nicht, dass jetzt jedes Unternehmen in jeder Branche mit Steuergeldern gerettet werden muss. Wir müssen einsehen, dass wir nicht alles, was es derzeit als Industrie in Deutschland gibt, werden bewahren können. Und das ist gut so! Denn unser Blick sollte in die Zukunft gehen: Wie gelingt der Strukturwandel, wie ist Deutschland als Volkswirtschaft auch im 21. Jahrhundert erfolgreich?

Standpunkt: Indem wir uns von China abkoppeln?

Moritz Kraemer: Eben nicht. Wir sind von den Chinesen abhängig – ebenso wie die Chinesen wirtschaftlich von uns abhängig sind. Diese Abhängigkeit mag ärgerlich wirken, aber im Prinzip ist sie gut: Sie verhindert, dass eine Seite die Tür zuschlagen kann. Wir brauchen einander.

Was passiert, wenn das zentrale Wohlstandsversprechen nicht mehr eingehalten werden kann? Die chinesische Führung steuert auf eine sehr unangenehme Situation zu.

Dr. Moritz Kraemer, Chefvolkswirt der LBBW

Standpunkt: Die Deutschen sollten also gute Miene zum bösen Dumping-Spiel machen?

Moritz Kraemer: Dieser Konflikt schwelt, und daran wird sich so bald nichts ändern. Die Chinesen können ihren Kurs nicht ändern, weil sie keine Alternative dazu haben, voll auf Export zu setzen. Sollte Donald Trump im Herbst die US-Präsidentschaftswahlen gewinnen, wird der Druck auf Deutschland und auf die gesamte EU sogar noch zunehmen. Trump hat angekündigt, die USA mit Zollmauern in eine Festung zu verwandeln. Ich habe wenig Zweifel daran, dass er diese Absicht umsetzen würde.

Standpunkt: Die USA ist der größte Markt für China. Wenn der wegbricht, was bleibt dann von der chinesischen Exportoffensive?

Moritz Kraemer: Dann wird es spannend. Die Kommunistische Partei verspricht den Chinesen seit vier Jahrzehnten mehr Wohlstand – und hat dieses Versprechen bislang gehalten. Doch jetzt stagniert der Konsum, die Preise für Immobilien brechen ein, und eine ernstzunehmende Rentenversorgung gibt es bis heute nicht. Was passiert, wenn das zentrale Wohlstandsversprechen nicht mehr eingehalten werden kann? Die chinesische Führung steuert auf eine sehr unangenehme Situation zu.

Standpunkt: Wie sollte sich Deutschland in dieser Situation verhalten?

Moritz Kraemer: Wie bisher: als verlässlicher Partner, schon aus eigenem Interesse. Wenn wir wie die USA die Zollmauern hochziehen, würde das auch unseren Wohlstand bedrohen. China ist als Partner unverzichtbar, schon um die nachhaltige Transformation – etwa wenn es um Solarenergie geht – erfolgreich umzusetzen. Manchmal kann man sich seine Partner eben nicht aussuchen.