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FOCUS Magazin | Nr. 20 (2024)
Es geht um Abermillionen Euro: Wie die Pflege-Mafia unser marodes System ausnutzt - und uns allen schadet
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    In der Pflanze steckt keine Gentechnik
    Aber keine Sorge: Gentechnish verändert sind die
Eine Bewohnerin eines Pflegeheims wird von einer Pflegerin einen Gang entlang geschoben.
Marijan Murat/dpa/Archivbild Eine Bewohnerin eines Pflegeheims wird von einer Pflegerin einen Gang entlang geschoben.
  • FOCUS-Magazin-Redakteur

Mit skrupellosen Tricks zockt die Pflegemafia Millionen ab. Patienten werden erfunden oder künstlich krank gemacht. Kontrollen fehlen, die Kassen müssen Beiträge erhöhen oder Leistungen kürzen. Und die Politik versagt.

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Die Razzia

Mit gefälschten Abrechnungen und erfundenen Leistungen für angeblich bettlägerige Rentner, die kerngesund durch den Kiez radelten, trickste ein Spandauer Pflegedienst die Kassen aus. Als 115 Polizisten Büros und Wohnungen durchsuchten, endete für die 41-jährige Betreiberin das Luxusleben mit Haus am See und Designerklamotten

Langsam lichtet sich der Morgennebel in der Kitzinger Innenstadt. Vadim* reagiert nicht auf die Schönheit des Sonnenaufgangs. Er starrt apathisch vor sich hin. Wie jeden Tag. Die Polizeifahrzeuge, die das Wohnhaus umstellen, nimmt er nicht wahr. Der Einsatz der bewaffneten Spezialkräfte, die das Gebäude stürmen, lässt ihn kalt.

Vadim* versteht das alles nicht mehr. Er ist ein Pflegefall, dement und körperlich so geschwächt, dass er das Bett nie verlassen kann. Der Rentner trinkt zu wenig, weil er es einfach vergisst. Im Appartement hängt der stechende Geruch voller Windeln. Die einst weißen Bettlaken sind schmutzig-gelb vom wund gelegenen Körper.

Ähnlich steht es um Ekaterina*, drei weitere Männer und eine Frau. Rettungskräfte holen die Senioren aus den Zimmern und bringen sie in Sicherheit. „Grauenhafte Zustände. Das war wirklich knapp“, sagt ein Sanitäter, der dabei war. Dabei hatte der Kitzinger Pflegedienst seinen Schützlingen einen himmlischen Lebensabend versprochen: „Fürsorge, Aufmerksamkeit und echte Zuwendung“. Stattdessen erfuhren die alten Menschen Vernachlässigung, Leid und Kälte.

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Wenig Risiko, viel Gewinn

Wer sich in die Tiefen der Pflegemaschinerie eingräbt, entdeckt schnell, wie einfach es Betrügern gemacht wird, den Apparat auszunehmen. Durch Lücken im System, durch lasche Kontrollen und durch schier unbegrenzte Finanzmittel. Da sind Netze von kriminellen „Pflegeanbietern“, die Tag für Tag abkassieren. Da versagt die Politik seit Jahrzehnten, ein funktionsfähiges System zu etablieren und zu kontrollieren. Da sind Millionen Menschen auf häusliche Pflege angewiesen – und mafiösen Strukturen ohnmächtig ausgeliefert.

In Kitzingen war es Familie S., die ihre große Chance auf Reichtum witterte. Der Vater, ein weißhaariger Patron, 58 Jahre alt und gelernter Schneider. Seine Frau, 48 Jahre, abgebrochene Friseurinnen-Ausbildung. Und schließlich der Sohn, 28 Jahre, mit ein bisschen Bürojob-Wissen. Erfahrungen mit der Pflege kranker Menschen? Null. Dafür ein gut organisiertes Netzwerk in der russischen Community. Ein Arzt, der Diagnosen für die gewünschten Pflegegrade schrieb. Eine Apotheke, die Medikamente abrechnete – von denen niemand weiß, ob und wie oft sie verabreicht wurden. Juristischer Beistand, der sich um alle Formalien kümmerte, einschließlich der Betreuungsvollmachten, um die Senioren abzuschotten. „Ein in sich geschlossenes System. Wie bei der Mafia“, sagt ein Ermittler.

Die Familie vermietete Zimmer an Senioren, einschließlich Versorgung durch den eigenen ambulanten Pflegedienst. Der bestand aus zwei „Pflegerinnen“, kaum des Deutschen mächtig und ohne Erfahrung. Körper drehen, Zucker kontrollieren oder gar Beatmungsgeräte bedienen – all das will aber eben doch gelernt sein.

Pflegerisch funktionierte nichts, dafür sprudelten die Einnahmen. Nach Erkenntnissen der Staatsanwaltschaft kassierte Familie S. über die Jahre 4,7 Millionen Euro. Man schwelgte im Luxus: ein Fuhrpark mit BMW und Mercedes. Eine Villa mit 400 Quadratmetern Wohnfläche, Spa-Bereich, Innenpool und zwei Einliegerwohnungen, 1300 Quadratmeter Garten. Dazu weitere Immobilien. Kontrollen? Gab es nicht. Angst vor Entdeckung? Nicht im Ansatz. In einem abgehörten Telefonat mit dem Sohn meinte der Vater nur: „Ärsche müssen immer geputzt werden …“

Erst durch einen anonymen Hinweis flog der Betrug auf. Vater S. wurde erstinstanzlich wegen Betrugs in 700 Fällen zu fünf Jahren und neun Monaten Haft verurteilt. Der Sohn erhielt wegen Beihilfe 18 Monate auf Bewährung. Ein Verfahren wegen Körperverletzung läuft noch.

Schlaraffenland für Betrüger

Das deutsche Gesundheitssystem wirkt wie ein alles verschlingender Moloch. Jährlich frisst es 500 Milliarden Euro – mehr als der gesamte Bundeshaushalt mit 477 Milliarden Euro. Kliniken, Krankenkassen, Ärzte, Pharmariesen, Patienten, alle sind Teil dieses Komplexes. „Wo viel Geld ist, ist viel Gier“, sagt Dina Michels. Die Juristin ist Chief Fraud Detection Officer bei der gesetzlichen Krankenversicherung KKH. Mit ihrem Team kämpft sie gegen die „Gesundheitsmafia“. Wie gegen den Mediziner, der einen einzigen Fußballspieler behandelt, aber eine ganze Mannschaft abrechnet. Apotheker, die Krebsmedikamente strecken, um mehr Profit herauszuschlagen. Oder den Physiotherapeuten, der Anwendungen aufschreibt, obwohl sein Patient längst tot ist.

Nach offiziellen Schätzungen saugen Betrüger zwischen 18 und 20 Milliarden Euro aus dem System. Laut europäischen Untersuchungen landen sogar sechs Prozent der jährlichen Gesundheitsausgaben auf dem Konto von Ganoven – also fast 30 Milliarden Euro. Dabei sind die Mittel eh knapp. 2023 musste bei den gesetzlichen Kassen ein Finanzloch von 1,9 Milliarden Euro gestopft werden.

Der Pflegebereich gilt als drittgrößtes Segment im Gesundheitssystem. Tendenz steigend. 2010 waren 15,2 Millionen Deutsche 67 Jahre oder älter, heute sind es bereits 16,9 Millionen, 2040 werden es fast 21 Millionen sein. Mit der Alterung der Gesellschaft steigt auch die Zahl jener, die auf ständige Hilfe angewiesen sind. Ende 2021 belief sich die Zahl der Pflegebedürftigen auf 4,96 Millionen Menschen. Laut Prognosen wird sie bis 2055 um 37 Prozent zunehmen und dann bei knapp sieben Millionen liegen. Zugleich könnten bis 2035 knapp 500 000 Fachkräfte in der Pflege fehlen.

Es ist dieser Mangel, der Pflegedienstanbietern ungeahnte Möglichkeiten eröffnet – und einige haben sich seit vielen Jahren darauf spezialisiert, den verzweifelten Bedarf der Alten und ihrer Angehörigen sowie die bestehenden Lücken im System für sich zu nutzen. Ein Eldorado, entstanden auf dem Boden der privaten Not.

Bundesweit stoßen Ermittler auf professionelle Strukturen der Pflegemafia. Millionenschäden in Kitzingen, Berlin, München, Bochum. Bei Razzien gegen zehn Pflegefirmen in Augsburg und München entdeckten Fahnder Koffer voller 500-Euro-Scheine. Rund acht Millionen Euro in bar. Dazu Rolex-Uhren und Goldbarren. „Das Gesundheitswesen ist ein Schlaraffenland für Kriminelle“, kommentierte Hans Kornprobst, Leiter der Staatsanwaltschaft München. 13 Betreiber wurden festgenommen. Von den 68 Beschuldigten in Augsburg arbeiteten 40 bei den Pflegediensten. 27 waren Patienten, ein Arzt soll medizinische Beihilfe geliefert haben. Ein System des Missbrauchs.

Regime der Angst

Menschen, die das Betrugssystem der Pflegemafia aus eigener Anschauung kennen, sprechen nur ungern darüber. Bloß keinen Namen! Zu gefährlich! Ein Treffen mit einem ehemaligen Pflegedienstangestellten findet konspirativ in einem Hinterhof in Berlin-Kreuzberg statt. Immer wieder wirft Salih* einen gehetzten Blick über die Schulter. Bei vier Pflegediensten war der 34-Jährige bisher beschäftigt. „Drei davon scheffeln Geld mit organisiertem Betrug, Kassen und Ämter können nichts dagegen machen.“ Zu viele Tricks gebe es, zu viele Schlupflöcher, die Firmen seien schlicht zu schlau. Sein Resümee: „Es wird fast überall betrogen. Auf verschiedene Arten zwar, aber mit hoher krimineller Energie.“

Dabei gibt es zwei Grundarten des Betrugs;

  • Variante 1: Pflegebedürftige werden ihrem Schicksal überlassen und siechen dahin – der Pflegedienst kümmert sich rudimentär, kassiert aber voll ab.
  • Variante 2: Gesunde alte Menschen täuschen der Krankenkasse Pflegebedürftigkeit vor – und werden zu Partners in Crime mit einer kriminellen Agentur.

Salih* hat selbst erlebt, wie der Pflegedienstleiter kerngesunde Senioren auf den Besuch der Kontrolleure vorbereitete. „Er kam eine Stunde vorher und lernte mit ihnen jeden Satz, den sie zu sagen hatten, auswendig.“ Um Inkontinenz vorzutäuschen, wurden den Alten nasse Windeln angelegt. Sie durften sich nicht waschen, und die Unterwäsche musste feucht sein. In der 60-Minuten-„Einweisung“ des Pflegedienstleiters mutierte der Kunde nicht nur zum inkontinenten Greis, sondern auch zum Diabetiker. Am Ende tauchte dann im Leistungskatalog Hilfe bei der „Darmund Blasenentleerung“, die „erweiterte große Körperpflege“ (mit Baden) und „Zubereitung einer warmen Mahlzeit in der Häuslichkeit des Pflegebedürftigen“ auf. „Dabei ist der Alte bis dahin allein aufs Klo gegangen und hat sich auch das Essen selbst gekocht“, erinnert sich Salih*. Doch der Pflegedienst kassierte – und als Gegenleistung putzten die Mitarbeiter ab und zu die Wohnung, kauften ein, buchten Reisen oder spielten Chauffeur, wenn der „Kranke“ seine Familie besuchen wollte.

Auch Sonderwünsche finden Berücksichtigung bei dieser Art Geschäftsverbindung. So konnte eine „schwer pflegebedürftige“ Dame ihren dreiwöchigen Spanienurlaub ganz entspannt genießen, weil der Pflegedienst sich zu Hause um ihre vier Katzen kümmerte. Auch eine 64-jährige Kreuzbergerin konnte sich nicht beschweren. Obwohl ziemlich fit, kassierte der Pflegedienst für ihre Betreuung fast 2000 Euro im Monat. Die Russin hatte aber nur ein Leiden: einen krankhaften Sauberkeitswahn. Der Pflegedienst löste das Problem. „Jeden Tag kamen zwei Leute und machten sauber“, erinnert sich der frühere Mitarbeiter.

Fälle wie diese landen häufig bei Kriminalhauptkommissar Frank Warnhoff. Er kümmert sich beim Berliner LKA 346 um Abrechnungsbetrug im Gesundheitswesen. Nach Schätzung des Experten sind von den knapp 700 Pflegediensten in der Hauptstadt rund 90 dem kriminellen Bereich zuzurechnen. „Das Geschäft ist vielleicht nicht so ertragreich wie der Drogenhandel, dafür aber risikoärmer“, so der Beamte.

Den Großteil des organisierten Großbetruges machen türkische und russisch-ukrainische Dienste unter sich aus, die Menschen aus ihren Kreisen für ihre Betrugsmasche nutzen. „Die Community ist in sich abgeschottet. Vielen fehlen sprachliche oder rechtliche Kenntnisse, und sie vertrauen ohnehin in erster Linie nur den Landsleuten“, schildert Warnhoff.

Ein Arzt stellt eine möglichst hohe Pflegestufen-taugliche Diagnose

Wie bei einem Uhrwerk greift jedes Zahnrädchen ins andere. Der Arzt stellt eine möglichst hohe Pflegestufen-taugliche Diagnose. Der Pflegedienst kümmert sich bei den Kassen um den Papierkram. Der Patient erhält eine kleine Leistung oder Kick-back-Zahlungen. Übernehmen Familienmitglieder die Pflege, gibt es unter der Hand zwischen 500 und 800 Euro, je nach Pflegegrad. Für besonderen Service wie Pediküre oder Maniküre müssen die Senioren privat und extra zahlen. Die Dienste kassieren doppelt. Warnhoff: „Viele sind froh, dass sie überhaupt was abbekommen. Sie haben keine Ahnung, was ihnen tatsächlich zusteht.“ Getrickst und betrogen werde auf allen Ebenen.

So erstellte ein Mediziner einen doppelten Arztbrief. In dem einen stand: „Die Pat. leidet an einer fortgeschrittenen Demenz vom Alzheimertyp mit progredienter Vergesslichkeit“. Eine niederschmetternde Diagnose – Gott sei Dank für die Betroffene falsch, beim Kostenträger allerdings kam noch eins drauf, da litt die Patientin „an fortgeschrittener Demenz vom Alzheimertyp mit zunehmend reduzierter Selbstständigkeit. Es besteht dringender Bedarf für intensive häusliche Pflege“. Ein paar wenige Worte, die aber bares Geld bringen: Bei Intensivpatienten liegt die Durchschnittszahlung bei 25 000 Euro im Monat.

Es werden Leistungen abgerechnet, die nie erbracht wurden, von Mitarbeitern, die es nie gegeben hat. Gerne werden auch mehrere Patienten in einer Wohnung untergebracht und dann von einer „Untermieterin“ gemeinsam versorgt. Aktuell handelt es sich oft um Ukrainerinnen. Sie schlafen auf dem Wohnzimmersofa, kochen und kaufen ein. Alles, nur keine Pflege. Die Ukrainerin hat eine Unterkunft und bekommt 700 Euro Taschengeld.

Sogar Obdachlose werden als mögliche Patienten „angeworben“. Mit einem simplen Briefnachdruck gab sich etwa ein Betrüger als Mitarbeiter eines Pflegedienstes aus, sammelte Vertragsunterschriften von Menschen auf der Straße und kassierte für die Betreuung der Kranken.

So simpel? Ja. „Die Kontrolle bei den Kostenträgern ist aufgrund des Massenaufkommens lückenhaft, und im Einzelfall handelt es sich ja auch um geringe Summen“, sagt Ermittler Warnhoff.

Das löchrige Kontrollsystem

Der Medizinische Dienst (MD) prüft den Gesundheitszustand der Patienten, nach dem der Pflegegrad bestimmt wird. Das funktioniert in der Praxis oft so: ein Anruf, „Wir kommen übermorgen zur Kontrolle“. Antwort: „Oh, passt gerade nicht, lassen Sie uns das verschieben …“ Bis dann die Experten Tage später an der Tür klingeln, sind die Patienten präpariert: Ein Rollator steht im Flur, die Krücken lehnen am Küchenschrank, der angelernte Kranke liegt reglos im Bett. Häufig wabert ein stechender Geruch durch die Wohnung – Inkontinenz lässt die Zahlungen wachsen.

Vollkommen aus dem Ruder lief der Missbrauch des Systems während Corona. Die Begutachtungen fanden telefonisch statt. Pflegedienstmitarbeiter konnten so den schlechten Gesundheitszustand des Patienten fernmündlich schildern.

Die Ergebnisse waren beeindruckend. „Flächendeckend wurden die Pflegegrade angehoben oder Mehrleistungen innerhalb eines Pflegegrades vereinbart“, erklärt Kommissar Warnhoff. Häufig kam am Ende Pflegegrad 5 raus – der höchste. Und teuerste. Nach der Pandemie sei es oft bei der telefonischen Nachfrage geblieben: Personalmangel beim MD.

Kritisch wird es nur, wenn Bezirksämter unangemeldete Nachkontrollen durchführen und dabei einen angeblich Bettlägerigen fidel im Treppenhaus antreffen. So war es bei einem Türken aus dem Berliner Wedding. Sein Arzt des Vertrauens attestierte ihm 15 völlig verschiedene Schwerstdiagnosen. Tatsächlich betrieb der „Bettlägerige“ jedoch einen gut laufenden Import-und-Export-Handel, zweimal in der Woche verkaufte er auf einem Markt seine Waren und wuchtete Gemüsekisten. Beim unangekündigten Besuch einer Bezirksamtsmitarbeiterin flog der Betrug schließlich auf.

Inzwischen haben Kriminelle aber auch gegen diese unliebsamen Besuche einen Kniff. Sie lassen sich als Alleinbetreuer eintragen. Heißt: Niemand kann den Pflegebedürftigen ohne ihr Beisein befragen. Dafür kümmern sie sich um alle Formalien, die Pflegegradeinstufung und die Dienste befreundeter Pflegehelfer – gegen eine satte, wenn auch illegale Beteiligung. Häufig erledigen diesen Job Betreiber von Schreibbüros, die ansonsten Übersetzungsarbeiten leisten oder beim Ausfüllen von Formularen helfen. Fachlich haben sie zwar keine Ahnung, genießen aber das Vertrauen ihrer Klientel.

Der Trick mit der „Verhinderungspflege“

Besonders in Mode kommt laut Ermittlern gerade der Trick mit der „Verhinderungspflege“. Das Prozedere ist so schlicht wie schlüssig: Auch Pflegekräften steht Urlaub zu. Während ihrer Abwesenheit sollten dann Ersatzkräfte die Patienten betreuen. Dafür stellen die Kassen pro Jahr bis zu 2418 Euro pro Patienten zur Verfügung. Die einfache Rechnung für einen Berliner Betreuer: 49 Kunden je 2418 Euro „Urlaubsgeld“. Macht knapp 120 000 Euro risikolos nebenbei. Selbstredend tauchte eine Vertretung nie auf.

Warum aber wird es Betrügern so leicht gemacht? „Weil“, sagt ein Fahnder, „das Motto heißt: Lieber eine schlechte Pflege als gar keine.“ Und je mehr alte Menschen auf Unterstützung angewiesen sind, desto größer werden die Lücken im System. Sogar da, wo offiziell alles legal abläuft, bleibt immer noch genug Spielraum für schmutzige Geschäfte.

Schrei nach Hilfe

39 Jahre ist es her, da erfüllte sich Alois Kleiber* einen Traum. In einem Vorort von München baute er sich ein Häuschen. Hier verbrachte er glückliche Jahre mit seiner Frau und den beiden Töchtern. Heute sind die Kinder aus dem Haus, Kleibers Frau gestorben. Der Senior sitzt im Rollstuhl, kann sich nicht selbst versorgen. Aber sein Haus verlassen, ins Altenheim gehen? Nie.

So wie dem 82-Jährigen geht es schon heute Millionen Menschen. Kleiber hat seine persönliche Lösung für den Alltag im Alter gefunden: Malti Kucic*. Die warmherzige Montenegrinerin wirkt deutlich jünger als ihre 65 Jahre und spricht passabel Deutsch. „Wir beide tratschen gern“, sagt Kleiber und zwinkert ihr zu. Malti Kucic kocht und hält den Haushalt in Schuss, hilft dem Senior beim Aufstehen und Anziehen. Wenn sie irgendwann abreist, wird die nächste Betreuerin einziehen, nach vier bis acht Wochen wieder eine andere. Der stete Wechsel mag für Bedürftige nicht ideal sein, doch die sogenannte „Live-in-Care“ ermöglicht ein großes Maß an Eigenständigkeit.

Zwischen 300 000 und 600 000 meist osteuropäische Betreuungskräfte arbeiten rund um die Uhr in deutschen Haushalten. Insgesamt wird nach Schätzungen pro Jahr mit der häuslichen 24-Stunden-Betreuung bis zu 18 Milliarden Euro Umsatz erwirtschaftet.

Viele Osteuropäerinnen werden mit einer sogenannten A1-Bescheinigung als entsendete ausländische Arbeitnehmerinnen tätig oder arbeiten selbstständig mit Gewerbeschein. Ein dichtes Netz an Personalvermittlern und Pflegediensten profitiert dabei. Die Schattenseite des Booms: Oft schummeln die Firmen bei den Angaben, verzichten auf nötige Dokumente, oder sie tricksen bei Bezahlung und Arbeitszeit.

Auch bei Malti Kucic. Fast acht Wochen nach Arbeitsbeginn hielt sie immer noch keinen Arbeitsvertrag in Händen. „Die Frau von der Agentur hat gesagt, sie bringt ihn mir noch.“ Im sogenannten Dienstleistungsvertrag, den Kleiber mit der Agentur abgeschlossen hat, fehlt eine Arbeitszeitregelung. „Im Prinzip sind meine Betreuerinnen immer im Einsatz. Freie Tage gibt es nicht“, räumt Kleiber ein.

Immerhin nutzt der alte Herr seine Helferinnen nicht aus. In der Nacht brauche er keine Hilfe, sagt er. Auch tagsüber kommt er immer mal wieder über Stunden hinweg alleine klar. Daran gemessen ist der Preis, den er für seine Versorgung zahlt, hoch: 3750 Euro. „Meine ganze Rente geht dafür drauf.“ Nicht viel mehr als die Hälfte, 1900 Euro, lande bei Malti Kucic auf dem Konto, berichtet sie. Der Rest des Geldes bleibt bei den Firmen hängen, die an der Vermittlung von Betreuungskräften beteiligt sind.

Andere Frauen arbeiten deutlich härter und für deutlich weniger Geld. Sie wechseln Windeln, fangen nachts herumirrende demente Senioren ein und schlagen sich im wahrsten Sinn des Wortes mit verängstigten Schützlingen herum. Für manche 24-Stunden-Betreuer hört die Arbeit nie auf. Und viele werden dann von windigen Vermittlern auch noch um Geld betrogen. Sie spielen mit, weil sie jeden Cent brauchen oder einfach aus Angst vor ihren Vermittlern. So gehören auch Tausende Pflegerinnen wie Malti Kucic, die sich um die Bedürftigen voller Zuneigung kümmern, zu den Opfern des dysfunktionalen Apparates. Genau wie die Seniorinnen und Senioren. Wie die Kassen und Medizinischen Dienste. Seit Jahrzehnten.

Versagen der Politik

„Ein in sich instabiles System trifft auf gut organisierte kriminelle Machenschaften“, sagt Dominik Schirmer. Der Gesundheitsökonom ist Chef der Ermittlungsgruppe der bayerischen AOK gegen Abrechnungsbetrug. Er kennt alle Tricks der Kriminellen, aber auch das Versagen der Politik.

Erst 2016 hat der Gesetzgeber überhaupt auf die ausufernden Milliardenschäden reagiert und Bestechung und Bestechlichkeit im Gesundheitswesen ins Strafgesetzbuch aufgenommen. Bis dahin durften sich Ärzte, Apotheker oder Therapeuten relativ straffrei schmieren lassen.

Heute können zumindest Krankenkassen-Detektive gegen die Kriminellen ermitteln. Im vergangenen Jahr holten sie deutschlandweit 60 Millionen Euro zurück. Klingt viel. Sind aber Peanuts im Vergleich zum tatsächlichen Schaden. Schirmer: „Wenn man insgesamt die Bekämpfung des Betrugs stärken würde, bräuchten wir so manche Beitragserhöhung nicht, und auch über Leistungseinschränkungen müssten wir nicht reden.“

Also auch nicht über die Steigerung von 1,6 auf 1,7 Prozent Pflegekassenbeitrag für 2024. Gesundheitsminister Karl Lauterbach rechtfertigt das Plus mit Kostengründen. Dabei gilt gerade sein Ministerium als Bremser. „Seit Jahren fordern Kassen, Verbände, Staatsanwaltschaften und Polizei eine fundierte Dunkelfeldstudie“, sagt Schirmer. Damit könnten nicht nur Schadenssummen wissenschaftlich exakter beziffert, sondern auch Löcher im System gefunden werden. „Wir brauchen eine gesundheitsökonomische und kriminologische Forschung zu diesen Deliktsthemen“, fordert der AOK-Ermittler. Aber das Gesundheitsministerium schiebt die Verantwortung dafür ans Justizministerium ab – und das wieder zurück.

Auch der Datenschutz bremst die Aufklärer aus. Es fehlt an Rechtssicherheit und technischer Umsetzung. Immerhin dürfen sich die Kassen nun endlich untereinander über Verdachtsfälle austauschen. Vor allem organisierten Banden kommen sie so schneller auf die Schliche. Doch ein Datenabgleich mit der Rentenkasse bleibt wegen des Datenschutzes untersagt. Einen Durchbruch bei der Betrugsbekämpfung erwarten Sicherheitsbehörden und Gesundheitsexperten mit dem Einsatz von KI und Digitalisierungstools. Nur damit lassen sich die Datenmengen überhaupt strukturiert bearbeiten. Während jeder Paketbote seinen Scanner benutzt, funktioniert das Milliardengeschäft Pflege wie eine Zettelwirtschaft: Tabellen auf Papier, hier ein Häkchen, da ein Kringel, dort eine Schleife. Das reicht als Beweis, wann, wo, wie lange und von wem eine Leistung erbracht und dem Pflegebedürftigen geholfen worden sein soll. Bei Razzien schleppen die Ermittler kistenweise Papiere aus den Büroräumen. „Und dann sollen wir aus einem unleserlichen Beleg herauslesen, ob vor fünf Jahren die Haarwäsche stattgefunden hat“, sagt ein Ermittler, „unmöglich!“

Das Hoffen auf Gesetz und KI

LKA-Fahnder Schirmer pocht zudem auf ein „Kriminalitätsregister“. Darin wäre jede Firma gelistet, die durch Betrug aufgefallen ist. Heute verlegen die Unternehmen ihren Firmensitz einfach in ein anderes Bundesland und machen weiter wie zuvor. Oder lassen, sollte ein Umzug zu viel Aufwand bedeuten, einen Familienangehörigen als Geschäftsführer einsteigen. Spuren verwischt – Problem gelöst. Schwere Verstöße sollten deshalb nach Meinung von KKH-Chefermittlerin Dina Michels „den Entzug der Zulassung und sogar Berufsverbote“ nach sich ziehen. Heute passiere das so gut wie nie.

Aus Sicht der Experten lassen die Gerichte ohnehin zu viel Milde walten. So auch bei einem Pflegedienstbetreiber aus Bayern. Der Mann mit türkischen Wurzeln hatte sich vom Schulabbrecher zum Vorzeigeunternehmer hochgearbeitet. Bis er aufflog: kein Fachpersonal, gefälschte Abrechnungen. Um die Pflegebedürftigen kümmerten sich die eigenen Familienangehörigen. Wer nicht spurte, wurde unter Druck gesetzt – oder gekauft: ein Sideboard vom Schreiner für 3075 Euro, 2228 Euro für einen neuen Kaminofen. Weil der Betrüger gestand, kam er mit Bewährung davon. Der Pflegedienst ging weiter seinen Geschäften nach.

Sind auch Vadim* und Ekaterina* weiter auf Pflege angewiesen? Nach ihrer Rettung aus den Horrorwohnungen in Kitzingen „wurden sie in Heimen wieder gut aufgepäppelt“, erzählt ein Mitarbeiter. Aber wie geht es ihnen heute? Das weiß er nicht. Kaum waren die beiden einigermaßen fit, tauchten Vertreter aus ihrer russischen Community auf, zeigten Betreuungspapiere vor und nahmen die beiden mit. Seitdem sind Vadim* und Ekaterina* verschwunden.

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