In meinem ersten Kapitel möchte ich die Leitplanken zu dem komplexen Thema und der Analyse in diesem Buch entwickeln. Bei der Entwicklung des Buches haben sich mir Fragen aufgeworfen, die neben den rein technischen Aspekten auf verschiedene soziologische und politische Zusammenhänge hingewiesen haben. Diesen Fragen bin ich nachgegangen und dabei auf einen bisher nicht oder wenig thematisierten Zusammenhang gestoßen, der vieles zu erklären hilft: Können wir als globale menschliche Gesellschaft selbst erkennen, dass wir „den Ast, auf dem wir sitzen, bereits zu 90 % durchgesägt haben“, und dann daraus ohne Katastrophen rationale Handlungen ableiten? Warum wir als globale Gesellschaft offensichtlich in den letzten 30 Jahren dazu keine wirksamen Handlungen entwickeln konnten, dazu werde ich im Rahmen der folgenden Analyse Antworten erarbeitet. Die spannende Zukunftsfrage wird aber darüber hinaus bestehen bleiben, ob wir als globale Gesellschaft in Zukunft für alle weiteren globalen Herausforderungen (Plastifizierung der Welt, Artensterben, Ressourcenverbrauch, Bevölkerungswachstum, Wanderung fruchtbarer Anbaugebiete aus angestammten Landesgrenzen hinaus, Wanderung der natürlichen Wasserkreisläufe aus bisherigen Landesgrenzen hinaus, Veränderung der Küstenlinien und damit Veränderungen von Landesgrenzen, höhere lokale Temperaturen in ganzen Regionen, Änderung der bekannten Vegetation und ihrer örtlichen Verteilung, zunehmende Wanderbewegungen von Menschen, Wanderbewegungen von klimatisch abhängigen Krankheiten, etc.) global wirksame und orchestrierte Handlungen organisieren können! Der Klimawandel erscheint dabei nur als ein Thema.

Das erste Kapitel geht anhand eines bekannten und dennoch vermutlich in den Details unbekannten Beispiels der Osterinsel einer fundamentalen Frage nach, ob und wann ein Volk aus sich selbst heraus erkennen kann, wann es einen Punkt seines eigenen Untergangs überschritten hat oder sich gerade auf dem Weg zu diesem Punkt befindet. Ein Gedankenexperiment: Wenn dieses Volk vom Wald lebt und für seine Existenz Bäume fällt, gibt es den einen Zeitpunkt, an dem der letzte Baum gefällt wird? Mit diesem Akt ist der Wald endgültig abgeholzt und die Ressource verschwindet mit allen Konsequenzen. Der Zeitpunkt 1 der Waldvernichtung ist jedoch nicht die Abholzung des sichtbaren, allerletzten Baumes, sondern ein Zeitpunkt 0 weit davor, an dem so viele Bäume gefällt worden sind, dass der Wald nicht mehr mithilfe seiner Regenerationsfähigkeit überleben wird. Untersucht man dieses Phänomen jedoch genauer, müssten die Baumfäller bereits sehr viel früher erkannt haben, dass ihr Wald bald vollständig abgeholzt sein wird. Die Frage stellt sich, warum die Baumfäller immer weiter fällen, bis der letzte sichtbare Baum dann tatsächlich gefällt ist. Was treibt sie an, ohne irgendeine Angst vor einer fernen Zukunft immer weiter die „Bäume“ zu fällen? Im Kern stehen wir heute vor genau dieser Frage.

Ein in der Dimension kleines, aber reales Beispiel zur Illustration des abstrakten Gedankenexperiments kann in der globalen Fischerei betrachtet werden. Die Meere sind seit Langem in verschiedenen Fischarten dramatisch überfischt. Dennoch sind internationale Fangquoten oder Fangverbote kaum oder nur schwer durchsetzbar. Gleiches kann man bei der Vernichtung der Regen- und Tropenwälder weltweit beobachten (Brasilien, Asien, Afrika). Nationale Prioritäten haben Vorrang vor globalen Auswirkungen. Ähnliches Verhalten kann auch in der immer weiter sich ausdehnenden menschlichen Population beobachtet werden, die vermutlich u. a. ein Grund des globalen Artensterbens ist. Unsere wachsende Population verdrängt den Lebensraum anderer Arten. Natürlich gilt das auch für die immer weiter steigende Verschmutzung unserer Atmosphäre, deren Umkehrpunkt wir seit Jahrzehnten bereits überschritten haben (dazu habe ich ein eigenes Kapitel verfasst).

Die Analyse geht dieser fundamentalen, abstrakten Frage nach, weil diese beiden Zeitpunkte (0 und 1) besondere Wendemarken in der Entwicklung einer Gesellschaft darstellen, wann eine „einfache Umkehr“ von einer Gesellschaft möglich gewesen wäre und wann der Zeitpunkt 1 der „letzte Baum wird gefällt“ eintrifft. Mit der Betitelung einer „einfachen Umkehr“ markiere ich den Vorgang, eine Verhaltenswandlung eines ganzen Volkes konfliktfrei zu organisieren. Der Zeitpunkt, an dem der „letzte Baum“ gefällt ist, ist trivial für jedermann in dem Volk erkennbar. Als der Teil des Volkes, der vom Einschlag der Bäume lebt, den Zeitpunkt zu bestimmen, an dem z. B. noch zehn oder 100 Bäume standen und der Einschlag hätte vermindert werden müssen, ist höchst komplex. Genau dieses Verhalten kann an dem oben genannten Beispiel des internationalen Fischfangs beobachtet werden. In den Verhaltensweisen der Völker und von ihren politischen Vertretern können ähnliche Mechanismen und Verhaltensprinzipien seit einigen Jahren zum Thema Klimawandel beobachtet werden. Ich möchte in dem folgenden Kapitel ein Muster einer Zivilisationsentwicklung herausarbeiten, die in ihren modellhaften Mechanismen Ähnlichkeiten zu unserer heutigen, vernetzten Welt, jedoch in erheblich größeren Dimensionen und einer höheren Komplexität aufzeigt. Dazu müssen wir tiefer in die Geschichte dieses kleinen Eilands Osterinsel und seiner Bevölkerung beispielgebend einsteigen. Blicken wir gemeinsam in das Uhrwerk dieser gesellschaftlichen Entwicklung eines kleinen Inselvolkes, das in Summe länger existiert als unsere heutigen Industriegesellschaften.

In einem anschließenden Teil möchte ich auf das Dilemma hinweisen, das bei einem hohen, selbst gewählten Zeitdruck oder vorwiegend ideologisch motivierten Aktivitäten zu genau dieser Implosion unserer globalen Zivilisation führen kann, wenn nicht mit einer fundierten, klugen Strategie in den zukünftigen gesellschaftlichen Wandel, die Transformation unserer Gesellschaften, eingetreten wird. Wir werden in den nächsten Jahren zwischen den Risiken eines langfristig ablaufenden Klimawandels und den in gleicher Dimension vorhandenen kurzfristigen ökonomischen Risiken abwägen müssen oder eine wirklich kluge Strategie auf Ebene der global vernetzten Staaten entwickeln müssen. Wir, als Menschheit, sitzen deshalb bereits heute, ohne dass es derzeit öffentlich thematisiert wird, zwischen „Baum und Borke“. Ist dieser Moment vielleicht genau dieser erste Zeitpunkt 0, kurz bevor der „letzte Baum gefällt wird“?

Zwei spannende Kapitel 1.1 und 1.2 folgen, die sich ergänzen. Das folgende Kapitel 1.1 wird zudem unser geistiger Leitfaden in diesem Buch werden und der rhetorischen Frage nachgehen, „wann wir den letzten Baum gefällt haben“.

1.1 Die Entstehung von gesellschaftlichen Fehlentscheidungen

Bei meinen Nachforschungen zu verschiedenen Sichtweisen auf das Leitthema zu diesem Buch sind mir zwei Bilder nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Das eine Bild (Abb. 1.1Footnote 1) zeigt unseren Planeten, wie er über dem Mondhorizont aufgeht. Das Foto entstand 1968 auf der Apollo-8-Mission. Es wird als „Erdaufgang“ bezeichnet.

Abb. 1.1
figure 1

Erdaufgang, vom Mond fotografiert, Quelle: By NASA/Bill Anders, http://www.hq.nasa.gov/office/pao/History/alsj/a410/AS8-14-2383HR.jpg, 22.11.2021

Das zweite Bild (Abb. 1.2Footnote 2) ist nicht so spektakulär, aber es hat eine ähnliche Message. Es zeigt die Osterinsel im Pazifischen Ozean (rot umrandete, blaue Punkt im Himmelblau des Ozeans). Auf dem Bild ist als kleiner blauer Punkt, umrandet von einem roten Kreis, die Osterinsel zu sehen. Beide Bilder zeigen überdeutlich, dass es um diese Oasen weit und breit nichts gibt. Für uns als Menschheit ist bereits der nächste Steinhaufen, der Mond oder der heute so häufig genannte Mars, unendlich weit entfernt und nur mit größten Anstrengungen für eine Handvoll ausgesuchter Menschen erreichbar. Ein ganzes Volk oder vielleicht die Menschheit wäre heute nicht in der Lage, diese „nahe gelegenen Orte“ außerhalb unserer Lufthülle zu erreichen. Für diese Entfernungen zu einem nächsten Planeten sind wir heute die „primitive Gesellschaft“, die diese Distanzen nicht überwinden kann oder eine Besiedlung eines anderen Planeten vornehmen könnte. Der Traum von anderen Sonnensystemen oder Galaxien ist reine Science-Fiction.

Abb. 1.2
figure 2

Lage der Osterinsel, Quelle: Wikipedia, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=17036507 CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons, 22.011.2021

Die Osterinsel zeigt etwas Ähnliches. Um diesen kleinen Ort herum ist kein weiteres Land für eine primitive Kultur erreichbar. Um das nächste Festland erreichen zu können, wären seetaugliche Boote notwendig, ähnlich wie ein großes Raumschiff, das viele Menschen zum Mond oder Mars transportieren könnte. Das nächste Festland, die chilenische Küste, ist von der Osterinsel ca. 3526 km entfernt. Bis Tahiti sind es 4251 km über den offenen Ozean. Pitcairn ist als nächste Insel 2078 km weit entfernt. Die Osterinsel ist also ein Ort, der in der Erreichbarkeit unserer Erde zu einem anderen Planeten im Sonnensystem ähnlich ist, natürlich auf unterschiedlichen Niveaus der zivilisatorischen Entwicklung – jeweils ein Mikrokosmos gesellschaftlicher und kultureller Entwicklungen in ihrer Zeit. Die Osterinsel hat zudem eine Geschichte, die für unsere heutige globale Menschheitsentwicklung auf zukünftige Ereignisse hinweisen könnte, sofern wir sie verstehen wollen. Ich möchte nicht die Entwicklungen auf der Osterinsel als Gleichnis unserer heutigen Entwicklungen verstehen! Vielmehr interessiert mich – ähnlich einem Experiment in einem Reagenzglas – die „innere Mechanik“ der damaligen „Inselgesellschaft“. Auf der Osterinsel wurden gesellschaftliche und kulturelle, teilweise richtige und häufiger falsche Strategien verfolgt, die immer im Kontext der damaligen, zeitweise endemischen Inselkultur gesehen werden müssen. Um diese innere Mechanik in Bezug auf die Entscheidungen und Handlungen einer Kultur, eingebettet in ihren eigenen gesellschaftlichen Kontext, einen lokalen „Zeitgeist“, geht es mir in diesem Kapitel. Verstehen wir die innere Mechanik einer relativ kleinen vergangenen Gesellschaft, könnten wir besser unsere heutigen Strategien zum Umbau unserer Nationen – und mehr oder weniger die politisch vorangetriebenen Forderungen zum Umbau ganzer Gesellschaften als Reaktion auf den Klimawandel – einordnen bzw. ihre Tragfähigkeit besser abschätzen.

Beide Orte haben eines gemeinsam: ihre räumliche Begrenztheit. Die Osterinsel wird durch das sie umgebende Meer begrenzt. Ein auf diesem Eiland technologisch relativ einfach entwickeltes Volk muss mit dem zurechtkommen, was ihm die Natur dieses Ortes zur Verfügung stellt bzw. was diese Kultur durch bestimmte Strategien mithilfe der Natur anbauen und ernten kann. Früchte anzubauen, die auf dem vorhandenen Boden, in dem Klima oder mit den Wasserverhältnissen nicht zurechtkommen, wird keinen Beitrag zur örtlichen Nahrungsmittelproduktion leisten. Die Menschen dieser Gesellschaft mussten somit lernen, und Strategien entwickeln, welche Früchte auf ihrer kleinen Oase gedeihen und sich langfristig für das Überleben an diesem Ort eignen. Gleiches gilt auch für das gesamte kulturelle und wirtschaftliche Selbstverständnis aller an dem Ort lebenden Menschen, wie z. B. eine Frucht auf diesem besonderen Boden gedeiht oder abstirbt.

Die Begrenztheit unseres Planeten in seiner Gesamtheit zu verstehen, fällt uns Menschen in allen Ländern schwer. Der Planet ist für eine einzelne Person sehr groß und gibt uns fast unendlich erscheinende Möglichkeiten. Durch unsere global hohe Population verdrängen wir die übrige Natur und schaffen damit zugleich auch Ausweichräume ab, wie sie in der früheren Menschheitsentwicklung zur Verfügung standen. Im politischen Feld hat man die fehlende Ausweichmöglichkeit von Völkern für Wanderbewegungen dadurch geregelt, dass heute die Unverletzbarkeit der bestehenden nationalen Grenzen global ein sehr hohes politisches Gut darstellt, weil unbesetztes Land, was keiner anderen Nation bereits gehört, fehlt. Es ist für einen Menschen, unabhängig von seiner gesellschaftlichen Position, emotional/gefühlsmäßig schwer verständlich, dass dieser Ort „Erde“ Grenzen haben sollte. Jedoch kommen wir noch vor ca. 100 Jahren aus einer anderen emotional verankerten Welt, in der es noch auf allen Ebenen Ausweichräume gab, in der es ein „da draußen“ und ein „hier drinnen“ gab. Das „da draußen“ kann man heute in allen Gesellschaften in zahlreichen sprachlichen und kulturellen Verhaltensweisen finden. Die öffentlichen Äußerungen über die Suche nach einer zweiten Erde, z.B. die zukünftige Besiedlung des Mars oder ähnliche Dinge, erscheinen mir wie die Suche nach dem „da draußen“, einem neuen Raum, in den man ausweichen kann, der jedoch heute verloren gegangen ist.

Aus diesen gesellschaftlichen Entwicklungen/Strömungen der letzten ca. 250 Jahre stammen auch zahlreiche Wirtschafts- und politische Konzepte, die sich heute etabliert haben und als „Selbstverständlichkeit“ global verfolgt werden. Einzelne Kulturen lernen langsam. Viele unterschiedliche Kulturen lernen als eine globale Gesamtgesellschaft noch langsamer. Deshalb muss ein gewisses Verständnis aufgebracht werden, dass heute in den verschiedenen Nationen noch nicht vollständig verstanden wird, dass unser Planet in seiner Gesamtheit Grenzen hat und deshalb in der logischen Folge auch unser Handeln Grenzen haben muss. Das gilt zum einen auf der politischen Ebene, indem Territorien geachtet werden müssen, weil keine unbesetzte Landmasse mehr vorhanden ist. Auf der wirtschaftlichen Ebene gilt ein aus der historischen Entwicklung übernommenes und heute veraltetes Paradigma vom unendlichen Wachstum und von der Transformation natürlicher Ressourcen in abstrakte Werte sowie ihrer Akkumulation (Geld, Reichtum, Wohlstand) in sinnvollen Grenzen zu organisieren. Wenn wir als globale Gemeinschaft diese Konsequenz verstanden haben, dass z. B. ein unendliches Wirtschaftswachstum auf globaler Ebene eine langfristig falsche und ruinöse Strategie ohne reale Zukunft ist und in ihren Auswirkungen ähnliche gesellschaftliche Rückentwicklungen wie auf der Osterinsel sich entwickeln könnten, wir als Weltgemeinschaft eine neue Strategie entwickelt haben und den Übergang von der heutigen Wirtschaftsstrategie in die neue bessere Strategie konfliktfrei organisiert haben, haben wir die Grenzen unserer kleinen blauen Steinkugel realisiert.

Durch die Reise zu unserem nahen Mond können wir diese verletzliche Begrenztheit direkt im Bild des Erdaufgangs (Abb. 1.1) sehen. Die Abstraktion von einer kleinen Insel, die von den Weiten eines Ozeans umgeben ist, muss für unsere Erde nun nicht mehr vorgenommen werden. Wir können sie direkt sehen. Die Grenzen unseres kleinen Planeten zu erkennen, zu verstehen und aus dieser zukünftig bei allen Völkern vorhandenen Akzeptanz die richtigen Strategien auf allen Ebenen zu verfolgen, wird aus meiner Sicht im Schatten der Diskussionen zum Klimawandel die neue globale Aufgabe, die jedoch einen erheblichen Zeitraum einnehmen wird. Dieser globale Lernprozess wird aber nur dann stattfinden, wenn nicht andere Ereignisse wie Kriege, Wirtschaftskatastrophen, die nationale Fokussierung auf die Begrenzung einer globalen Durchschnittstemperatur mit hohen nationalen Risiken oder Ähnliches andere gesellschaftliche Prioritäten setzen. Insofern kann dieser wünschenswerte Lernprozess auch als ein fragiles Wohlstandsthema in den alten Industrienationen und als Zukunftsthema in den entwickelten Staaten sowie als gesellschaftliche Vision in allen anderen Ländern angesehen werden.

1.2 Wann wurde „der letzte Baum gefällt“?

Wie entsteht eine kritische Überforderung natürlicher Ressourcen? Wann war der Zeitpunkt, an dem „der letzte Baum gefällt wurde“? Diese Fragen erscheinen beim schnellen Lesen simpel oder trivial. Bei einer genaueren Betrachtung wird ein Universum an Komplexität sichtbar. Folgen Sie mir in diesem konzeptionellen und philosophischen Ansatz zum Verständnis der gesellschaftlichen Mechanik, die am Anfang immer im Kopf eines Menschen entsteht und nicht ein Naturgesetz ist. In diesem Kapitel schaue ich mit einem irgendwie reflexartigen Blick, fast wie zufällig, auf die Spiegelung einer längst vergangenen Erkenntnis, die im Spiegel unseres eigenen Verständnisses zur Natur sich matt und unwirklich vor unserem geistigen Auge abbildet. Ähnlich einer Zeitreise in die Zukunft betrachte ich in den folgenden Absätzen das Selbstverständnis einer untergegangenen Kultur. Man kann den gesellschaftlichen Kontext erahnen, in dem jeder einzelne Mensch aller heutigen Nationen dieses Planeten, am Ende aller nationalen und persönlichen Überheblichkeiten, doch auf einer kleinen blauen Insel in einem unendlichen Meer eines Nichts schwebt und davon überzeugt ist, die Welt, die Natur oder das Klima schützen zu können. Schauen wir uns nochmal gemeinsam den „Erdaufgang“ an: Ist es nicht eher umgekehrt? Begeben wir uns gemeinsam auf die Suche nach der verpassten Zukunftsentscheidung.

Die folgenden Abschnitte in diesem Kapitel 1 reihen sich entlang einer zivilisatorischen Entwicklungslinie, die man heute in fast allen Gesellschaften wiederfinden kann. Durch die Globalisierung unserer Märkte und der internationalen Arbeitsteilung haben wir eine in der gesamten Menschheitsgeschichte unbekannte Perfektion an globaler und globalisierter Arbeitsteilung erreicht. Diese Arbeitsteilung ist auch ein wichtiger Bestandteil in der gesellschaftlichen Entwicklung meines Analyseobjekts, der Osterinsel. Damit bildet diese Arbeitsteilung ein erstes Zahnrad in der gesellschaftlichen Mechanik. Ich werde die Entwicklungslinie einer Kultur als Rahmen gesellschaftlicher Entwicklung in Rückkopplung zum natürlichen Umfeld am Beispiel der Osterinsel genauer ansehen und deshalb Details aus den einzelnen Phasen beleuchten. Die Prinzipien, die sich aus diesen Phasenbeschreibungen einer vergangenen Zivilisation ableiten lassen, können auf unsere heutigen Entwicklungen im wissenschaftlichen Sinn transponiert werden.

1.2.1 Die Entdeckung

Entdeckung eines Gebiets durch gezielte Suche einer Gruppe von Menschen oder per Zufall.

Die Osterinsel ist bekannt geworden, weil ihre monumentalen Steinskulpturen, die Moai, gewaltige Ausmaße haben und in den folgenden Jahrhunderten nach ihrer Entdeckung am 5. April 1722, einem Ostersonntag, den anderen Menschen unerklärbar erschienen. Das Gewicht der Skulpturen und Plattformen liegt zwischen 10 und 270 t, die durch die damaligen Menschen einer untergegangenen Kultur bewegt wurden. Ein Gewicht von 270 t können heutige Kräne nicht heben. Für derartige Massen werden diese modernen Maschinen gebündelt. Die vielen Rätsel dieser Insel faszinierten bereits ihren ersten Entdecker, den Niederländer Jacob Roggeveen. Er fand bei seiner ersten Ankunft auf der Insel nur undichte Kanus mit einer maximalen Länge von ca. 3 m, die vielleicht zwei Personen aufnehmen konnten. Roggeveen schrieb dazu: „Was ihre Boote betrifft, so sind diese im Hinblick auf die Verwendbarkeit schlecht und zerbrechlich, denn ihre Kanus werden aus vielfältigen kleinen Planken und innen aus leichten Holzbalken zusammengesetzt, und diese werden sehr klug mit fein gesponnenen Fäden zusammengehalten, welche man aus der zuvor benannten Feldpflanze gewinnt. Aber da ihnen die Kenntnisse und insbesondere das Material fehlen, um die große Zahl der Ritzen in den Kanus zu kalfatern und abzudichten, sind diese dementsprechend undicht, aus welchen Gründen sie gezwungen sind, die Hälfte der Zeit mit Schöpfen zu verbringen.“Footnote 3

Wie konnte so ein „Boot“ Siedler über Tausende Kilometer über eine raue See transportieren? Wie konnte mit solchen Booten, mit denen auch Nutztiere, Werkzeuge, Nahrungsmittel, Wasserreserven, Samen und Pflanzen für eine Besiedlung mitgenommen worden wären, oder für eine Überfahrt von mehreren Wochen notwendiges Wasser und Nahrungsmittel transportieren? Das ist mit den damals gefundenen Booten nicht möglich gewesen. Ein weiteres Rätsel drängte sich förmlich dem Entdecker auf: Wie konnte ein Volk solche gewaltigen Steinsockel und Steinskulpturen fertigen, über mehrere Kilometer transportieren und vor allem anschließend aufstellen? Roggeveen vermerkte dazu in seinem Logbuch: „Die steinernen Bildsäulen sorgen zuerst dafür, dass wir starr vor Erstaunen waren, denn wir konnten nicht verstehen, wie es möglich war, dass diese Menschen, die weder über dicke Holzbalken zur Herstellung irgendwelcher Maschinen noch über kräftige Seile verfügten, dennoch solche Bildsäulen aufrichten konnten, welche volle neun Meter hoch und in ihren Abmessungen sehr dick waren.“Footnote 4

Eine weitere Frage drängte sich dem Entdecker auf. Unabhängig von den Methoden, wie die Steinsäulen aufgestellt wurden, würde Werkzeug wie Hebel aus Holz und starke Seile benötigt werden. Als Roggeveen die Osterinsel entdeckte, war sie kahl, Ödland, auf dem kein Baum oder höhere Büsche wuchsen. Er schrieb in sein Logbuch: „Ursprünglich, aus großer Entfernung, hatten wir besagte Osterinsel für sandig gehalten, und zwar aus dem Grund, dass wir das verwelkte Gras, Heu und andere versengte und verbrannte Vegetation als Sand angesehen hatten, weil ihr verwüstetes Aussehen uns keinen anderen Eindruck vermitteln konnte als den einer einzigartigen Armut und Öde.“Footnote 5 Aber die Frage, die sich aufdrängte, war: Wo sind die ganzen Bäume geblieben, die früher offensichtlich auf der Insel vorhanden gewesen sein mussten?

1.2.2 Lage und Örtlichkeit

Klimatische und örtliche Eignung des neu entdeckten Gebiets zur Ansiedlung. Die Einleitung der Anpassung.

Die Osterinsel muss für die ersten Menschen bei ihrer Ankunft einen paradiesischen Eindruck hervorgerufen haben. Die Insel ist fast dreieckig (Abb. 1.3Footnote 6). Sie entstand aus drei eng beieinanderstehenden Vulkanen, die sich über Millionen von Jahren dicht nebeneinander aus den Weiten des Meeres erhoben. Seit der Besiedlung der Insel brachen diese Vulkane nicht mehr aus und bewahrten deshalb die Siedler vor einem Untergang durch eine derartige Naturkatastrophe. Der letzte Vulkanausbruch erfolgte nach heutigen Erkenntnissen vor ca. 200.000 Jahren. Mit diesem Ausbruch entstand die größte Landfläche. Die Insel umfasst ca. 163 km2. Die höchste Erhebung ragt im nördlichen Drittel der Insel mit ca. 500 m über die Wasseroberfläche empor. Tiefe Täler, Schluchten oder weitere Berge sind auf diesem Eiland nicht vorhanden. An der Südwestspitze, sowie im Osten der Insel, an der Halbinsel Poike, ragen steile, bis zu 300 m hohe Kliffe aus dem Meer. Sieht man von den Kratern der Vulkane mit ihren steilen Abhängen ab, ist die Insel eine sich leicht über den Meeresspiegel erhebende Landfläche. Das Eiland liegt auf 27° südlicher Breite, was einem subtropischen Klima mit einer heutigen Durchschnittstemperatur von 21 °C entspricht. Damit ist das Klima relativ mild und ideal zur Entwicklung üppiger Vegetation. Durch den Vulkanursprung ist der Boden sehr fruchtbar und bietet damit beste Voraussetzungen für den Wuchs von Pflanzen und Bäumen – klimatisch ideale Bedingungen zur Entwicklung einer reichhaltigen Vegetation, jedoch durch die geringe Niederschlagsmenge von ca. 1260 mm pro Jahr zu wenig Wasser für eine regenwaldähnliche Pflanzenwelt.

Abb. 1.3
figure 3

Gebiet der Osterinsel von oben, Quelle: NASA image created by Jesse Allen, Earth Observatory, using data obtained from the University of Maryland’s Global Land Cover Facility. https://earthobservatory.nasa.gov/images/5366/easter-island-rapa-nui, 03.05.2022

1.2.3 Das Gebiet im Gleichgewicht

Das neue Gebiet befindet sich im natürlichen Gleichgewicht. Klima, Wetter, Pflanzen, Boden, Regen und Vegetation befinden sich in einem sich selbst regenerierenden Zyklus. Die neuen Siedler profitieren von den vorhandenen natürlichen Ressourcen. Sie müssen alte, mitgebrachte Gewohnheiten ablegen und sich den neuen Bedingungen anpassen. Die Inselgesellschaft lernt, wie sie sich den neuen Bedingungen anpassen kann.

Die ersten Siedler mussten trotz des relativ trockenen und windigen Klimas ein kleines Paradies mit zahlreichen Bäumen und Pflanzen vorgefunden haben. Heute geht man davon aus, dass die ersten Siedler aus Polynesien kamen und diesen kulturellen Hintergrund auf ihrer Reise über den Ozean mitnahmen. Im Verhältnis zu den polynesischen Inseln ist die Osterinsel relativ kühl, weil ihre Heimatinseln im tropischen Gürtel liegen. Insofern konnten die ersten Siedler vermutlich keine oder nur wenige der ihnen bekannten Nutzpflanzen verwenden. Die Folge der geringen Niederschlagsmengen sind ebenfalls geringe, an der Oberfläche leicht zugängliche Süßwassermengen, die vermutlich auch den ersten Siedlern in nur kleinen Mengen zur Verfügung standen. Deshalb schufen sie am Boden der Vulkankrater Brunnen, um sich ganzjährig mit ausreichend Süßwasser versorgen zu können.

Durch das die Insel umgebende relativ kalte und tiefe Meerwasser mit einer Wassertemperatur von ca. 18 °C können Korallenriffe, wie in anderen Atollen anderer Inselgebiete, mit ihren Fischen und Schalentieren nicht für Menschen bis an eine leicht erreichbare Höhe unter der Wasseroberfläche wachsen. Die Küste der Insel fällt steil bis zu einer Meerestiefe von ca. 3000 m ab. In diesem Gebiet des Pazifiks kommen nur wenige Fischarten vor. Somit wird ein aus den Tropen bekannter Fischfang in den Gewässern rund um die Insel nicht möglich gewesen sein.

Zusätzlich ist die Osterinsel durch ihre abgeschiedene Lage mitten im Meer einem starken Wind ausgesetzt, der anhaltend über die Landoberfläche weht, so wie es auch in verschiedenen Reiseberichten anderer Inselbesucher beschrieben wird. Die Folge war vermutlich, dass der Wind für die frühen Siedlern Probleme bei der Landwirtschaft bereitet haben wird (fehlender Vegetationsschutz, Bodenerosion, …). Damit war diese abgeschiedene Insel zwar ein paradiesisch einsamer Ort, der jedoch klug bewirtschaftet werden wollte, um vielen Generationen der Neusiedler eine Zukunft geben zu können.

1.2.4 Die Siedler

Die neuen Siedler bringen aus ihrer ursprünglichen Heimat kulturelle Eigenschaften/Eigenarten mit, die sich an dem neuen Ort wandeln.

Die heutige Forschung geht davon aus, dass die Osterinsel von Polynesiern besiedelt wurde. Wie 1774 in einem Reisebericht dokumentiert wurde, konnte sich ein Mannschaftsmitglied von Captain James Cook’s Bootsbesatzung mit den Inseleinwohnern in einem altpolynesischen Dialekt unterhalten. Weitere Indizien zeigten, dass die Siedler offenbar einen polynesischen Kulturstamm hatten. Ein weiteres Indiz dieses Kulturhintergrundes waren die typisch polynesischen Nutzpflanzen, die auf der Osterinsel teilweise heute noch angebaut werden und wurden, wie Bananen, Taro, Süßkartoffeln, Zuckerrohr und Papiermaulbeerbäume.

Aber wie wurde die Insel besiedelt? 1999 gelang es, mit dem experimentellen polynesischen Segelkanu Hokule’a eine 17-tägige Seereise von Mangareva zur Osterinsel erfolgreich durchzuführen – aus heutiger Sicht ein fast unvorstellbares, riskantes und lebensgefährliches Abenteuer, von Mangareva über eine offene See eine 15 km breite Insel im Nichts zu finden, ohne GPS oder eine andere moderne Navigationshilfe. Für mich ist bei den Arbeiten zu diesem Buch dieser an verschiedenen Stellen aufflammende, unglaubliche Mut dieser Menschen und Forscher voller Bewunderung, voller Respekt, beachtlich und zugleich faszinierend.

1.2.5 Die Besiedlung, gesellschaftliche Entwicklung

Nach der Erstbesiedlung des neuen Ortes entwickelt sich die Gesellschaft und beginnt zu wachsen. Das Anwachsen der Gesellschaft bedingt ein Wachstum auch in anderen Feldern, wie z. B. der Nahrungsmittelproduktion, Wassernutzung und Energieversorgung (Kochen, Wärmen, Werkzeugproduktion etc.). Der Ressourcenverbrauch steigt. Ein kultureller Austausch mit anderen Gesellschaften kann ein Motor für die Entwicklung der eigenen Gesellschaft sein, birgt jedoch auch Gefahren, z. B. durch die Einschleppung von neuen unbekannten Krankheiten, Landnahme oder von neuen Ideen/Überzeugungen, die eine Gesellschaft destabilisieren können. All diese Entwicklungen können auf der Osterinsel beobachtet werden.

In den ersten Datierungen ist die Osterinsel vermutlich um 300 bis 400 n. Chr. besiedelt worden. Bei der Bestimmung dieser ersten Daten waren offenbar zahlreiche Unsicherheiten/Unbekannte vorhanden. Interessant bei der Besiedlungsbestimmung ist, dass man u. a. auch mit der Radiokarbonmethode verschiedene Holzproben aus Grabbeigaben analysierte, die auf eine Bewaldung der Osterinsel schließen ließ. Spätere genauere Datierungen weisen auf eine Besiedlung um das Jahr 900 n. Chr. hin. Den Wissenschaftlern dienten Holzkohle und Knochen von Delfinen als Bestimmungsgrundlage eines genaueren Besiedlungszeitraums. Die Proben wurden aus den ältesten Erdschichten der Insel gewonnen. Heute geht man in der Forschung von einem Besiedlungszeitpunkt um das Jahrhundert 900 n. Chr. aus. Für unsere weitere Betrachtung ist jedoch der wissenschaftlich exakte Zeitpunkt der Erstbesiedlung der Osterinsel nicht relevant. Deshalb ist die modernere Datierung für unsere weitere Betrachtung ausreichend.

Nach verschiedenen Schätzungen von Archäologen betrug die Bevölkerung auf der Osterinsel zwischen 6000 und 30.000 Menschen, was einer geringen Bevölkerungsdichte von 35 bis 174 Menschen pro Quadratkilometer entspricht. Einige Wissenschaftler gehen von der etwas höheren Zahl von Einwohnern aus. Aus rein statistischen Gründen könnte eine zu geringe Bevölkerungszahl zu einem frühen Verschwinden der gesamten Kultur führen, weil zu wenige Menschen, eine zu geringe Population, die zukünftigen Katastrophen nicht ausgleichen können. Das Volk stirbt dann aus. Insofern ist eine Mindestanzahl an fortpflanzungsfähigen Menschen für das Überleben der Bevölkerung notwendig. Die Einschätzung der Bevölkerungszahl ist ein entscheidender Faktor für die Abschätzung des Verbrauchs der natürlichen Ressourcen. Sie muss in einem Gleichgewicht zwischen einer Mindestanzahl und einer Maximalzahl in Bezug auf ihren Ressourcenverbrauch liegen. Weitere Faktoren zur Einschätzung der Bevölkerungsentwicklung auf der Insel wurden/werden durch andere Disziplinen, wie Botaniker und Archäologen ermittelt.

So wurden zahlreiche lokale Epidemien nachgewiesen, die vor allem über die europäischen Besucher auf die Insel gebracht wurden und die Bevölkerung infizierten. Unter anderem führten diese Epidemien in den folgenden Jahrhunderten nachweislich zur Dezimierung der Inselbewohner. Eine zu geringe Population hätte beim Ausbruch einer lokalen Pandemie vermutlich zu einem vollständigen Aussterben der Bevölkerung geführt. Deshalb ist das Argument der höheren Bevölkerungszahl aus meiner Sicht plausibler.

Zum Zeitpunkt der ersten Entdeckung der Osterinsel im Jahr 1722 ernährten sich die Inselbewohner von selbst angebauten Früchten. James Cook beschrieb 1774 die Inselbewohner als „klein, mager, ängstlich und elend“. Die ersten Siedler ernährten sich durch den Fang von Delfinen und örtlich ansässigen Vögeln. Wie die Inselforschung nachweisen konnte, starben nach einiger Zeit zahlreiche Vogelarten aus. Da die Osterinsel nicht über Riffe oder Buchten verfügt, konnten die Bewohner auf solche Meeresgebiete nicht zurückgreifen. Durch den hohen Jagddruck auf die auf der Insel lebenden einheimischen Tiere ging der Bestand verschiedener natürlicher Nahrungsbestände, wie u.a. die lokal ansässigen Vögel, in einem langsamen Absinken der Populationen zurück.

Die Inselbewohner entwickelten nach der Besiedlung über Jahre, Jahrzehnte und Jahrhunderte immer klügere Methoden in der Landwirtschaft, um in dem rauen Klima möglichst gute Ernten erzielen zu können. Diesen Lernprozess konnten sie auch weitestgehend nutzbringend und erfolgreich umsetzen. Mit diesen weit entwickelten, an die örtlichen Verhältnisse angepassten Anbautechniken konnten sich die Inselbewohner zunächst eine Ernährungsgrundlage schaffen. Dieser Lernprozess ist das Ergebnis der Rückkopplung zwischen den natürlichen Umweltverhältnissen und dem Überlebensdruck, Nahrung verfügbar zu haben.

1.2.6 Die Kultur

Die Gesellschaft entwickelt sich und prägt komplexere soziale Verhältnisse aus. Die Aufteilung der Urgesellschaft in verschiedene neue gesellschaftliche Fragmente ist Teil des Wachstums. Die neue Arbeitsteilung und neue Herrschaftsbereiche können eine Spezialisierung verschiedener gesellschaftlicher Aufgaben entwickeln, deren Zusammenspiel organisiert und kontrolliert werden muss. In dieser neuen gesellschaftlichen Fragmentierung entstehen untereinander eine kulturelle Konkurrenz sowie Arbeitsteilung und neue Abhängigkeiten von Ressourcen aus anderen Gebieten.

Ein weiterer wichtiger Faktor in der Analyse der gesellschaftlichen Mechanik des sich relativ isoliert entwickelnden Inselreichs stellte die Kultur der Inselgesellschaft dar. Wie bereits weiter oben erwähnt, stellten Forscher fest, dass die Inselbewohner aus der polynesischen Kultur stammen mussten und viele dieser kulturellen Eigenschaften mit auf die Insel nahmen. Somit gliederten sich auch die Inselgesellschaften in Häuptlinge und die sie umgebende Elite, sowie dem Volk auf.

Die gesamte Gesellschaft, die auf der Osterinsel in der Blütezeit lebte, teilte sich nach Einschätzung der Archäologen in ca. zwölf Gebiete auf. Die Gebiete hatten mit Beginn der Aufteilung in Herrschaftsgebiete alle einen Küstenteil und verliefen bis ungefähr in die Inselmitte, sodass sich die Insel unter den verschiedenen Familienverbänden oder Sippen ähnlich wie ein Kuchen mit Kuchenstücken aufteilte. Über weitere archäologische Indizien stellten die Forscher fest, dass über den Häuptlingen der Sippen eines einzelnen Gebiets so etwas wie eine Oberautorität oder König geherrscht haben musste, der alle einzelnen Gebietshäuptlinge zu einem gewissen Zusammenhalt und zur Koordination der Arbeitsteilung geführt haben musste.

Die Aufteilung der einzelnen Gebiete ist deshalb interessant, weil offenbar jeder Gebietshäuptling über bestimmte einmalige und für anderen Teile der Inselgesellschaft wertvolle Ressourcen verfügte, die von anderen Gebietshäuptlingen und ihren Sippenmitgliedern genutzt wurden. Von Archäologen wird dafür beispielhaft das Tongariki-Territorium genannt. In diesem Territorium befindet sich der Rano-Raraku-Krater. Dieses Gebiet stellte das beste Gestein für die Herstellung der Statuen zur Verfügung. In einem anderen Herrschaftsgebiet kann man noch heute das beste Gestein für die Herstellung der Werkzeuge und Fundamente gewinnen. Andere Herrschaftsgebiete weisen einen feinen Sandstrand auf, der ein einfaches Anlanden von Kanus für den Fischfang ermöglichte. Im Süden und Westen der Insel kann man die besten Gebiete für eine Landwirtschaft finden. Die Nistgebiete der Seevögel lagen vor der Südküste, die wiederum zu anderen Hoheitsgebieten gehörte.

Nach der Aufteilung der Gebiete und der Entdeckung ihrer spezialisierten Ressourcen mussten sich eine Zusammenarbeit, eine Arbeitsteilung und ein Austausch an Waren entwickelt haben. Diese Arbeitsteilung sowie der Austausch der Waren und vermutlich auch von „Dienstleistungen“ mussten irgendwie zwischen den Herrschaftsgebieten koordiniert und vergütet worden sein. Konflikte, Unstimmigkeiten, sicherlich auch kriminelle Vorfälle müssen in dieser Phase der Gesellschaft geschlichtet und im Sinne einer friedlichen Gesellschaft befriedet worden sein. Eine „Oberautorität“ hätte diese wichtige gesellschaftliche Aufgabe ausfüllen können. Dennoch sind vermutlich auch Konkurrenzen und Rivalitäten zwischen den Herrschaftsbereichen entstanden.

Betrachtet man diese Entwicklung aus Sicht der notwendigen Fähigkeiten einer Stammesführung (Häuptling), müssen aus diesen Entwicklungen sich auch neue Organisationsfähigkeiten bei den Häuptlingen wie das Verhandeln mit anderen Häuptlingen, das Erkennen eines Bedarfs in der eigenen Sippe, die Kenntnis über die Sippen, die Dinge haben, die den eigenen Bedarf decken können, und vieles mehr entwickelt haben. Damit ein Stammesführer gegenüber anderen Häuptlingen sich in eine gute Verhandlungsposition bringen konnte, wird die Sippe kulturelle „Attribute“ entwickelt haben, die gegenüber anderen Sippen einen sichtbaren Vorteil dargestellt haben müssen (eigenes Ansehen). Diese Attribute wurden vermutlich vor und bei den Verhandlungen zwischen den Sippen besonders herausgestellt und als Verhandlungsbestandteil eingesetzt, um Vorteile erreichen zu können. Diese Entwicklungen führen zum nächsten Abschnitt.

1.2.7 Symbole, Glaube und Verehrung … und Konkurrenz

Die sich entfaltende Gesamtgesellschaft entwickelt spirituelle Elemente in allen Herrschaftsbereichen, die als gesellschaftliche Attribute/Ausprägungen gegenüber den anderen am Ort ansässigen Gesellschaften verstanden werden können. Sie sind Bestandteil einer identitätsstiftenden und für den gesellschaftlichen Zusammenhalt notwendigen „Verankerung“. Die Symbole dieser spirituellen Anker dienten auch einem Konkurrenzstreben der Herrscher untereinander sowie der nach innen und außen gerichteten eigenen Darstellung.

Die kulturellen Symbole, die Steinstatuen, liefern für die Archäologen den Beweis, dass über den Häuptlingen der einzelnen Gebiete eine oberste Autorität geherrscht haben musste. Die Statuen befinden sich in allen Häuptlingsgebieten. Statuen und Fundamente bestehen aus unterschiedlichen Gesteinen und wurden mit Werkzeugen aus anderen Gebieten hergestellt. Die Steinmetzarbeiten zur Herstellung der Statuen, der Transport und die Aufstellung mussten also über mehrere Territorien koordiniert werden.

Die lokalen Ressourcen mussten für diese Arbeiten geteilt worden sein. Offenbar lagen die einzelnen Gebiete auch im Wettstreit um ihr Ansehen um die „größtmögliche Verehrung“ ihrer Ahnen (spirituelle oder Glaubensebene einer Gesellschaft). Jedes Territorium besaß deshalb eigene zeremonielle Plattformen mit Statuen (insgesamt 113 mit Statuen, 25 große Statuen, den Glaubenssymbolen). Zunächst musste ein friedlicher Wettstreit um die besten und größten Plattformen geherrscht haben. Derartige Wettbewerbe über die kulturellen höchsten Verehrungen entwickeln sich nach einiger Zeit – ohne starke gesellschaftliche Regularien – in der Regel zu erbitterten Wettkämpfen der unterschiedlichen Sippen (Aufschaukeln), wovon die Forscher auch in der Analyse der Gesellschaften auf der Osterinsel ausgehen.

1.2.8 Rituale

Symbole und Rituale dienen der öffentlichen Präsentation und werden nach außen für die Abgrenzung zu anderen Herrschaftsbereichen oder den Konkurrenten genutzt, nach innen dienen sie der Stärkung der Identität der Sippe bzw. dem Zugehörigkeitsgefühl eines Herrschaftsbereichs (Identitäts- und Identifikationsmerkmale).

Die kleineren Plattformen werden in ihrem Gewicht auf bis zu 300 t geschätzt. Die größeren Plattformen werden auf ca. 900 t Gewicht geschätzt, das von den Inselbewohnern bewegt wurde. Die Statuen auf den Plattformen werden als Moai bezeichnet. Nach dem heutigen Stand der Forschung stellen sie hochrangige Vorfahren oder Ahnen dar. Insgesamt wurden auf der Insel 887 behauene Statuen gezählt.

Eine Hälfte dieser Statuen wurde aus den Steinbrüchen abtransportiert und aufgestellt. Eine durchschnittliche Statue wiegt geschätzt 10 t und ist 4 m hoch. Die größte Statue wog ca. 87 t. Der Bau der Steinplattformen wurde auf eine gesellschaftliche Entwicklungsphase zwischen 1100 bis 1600 n. Chr. datiert, was einem Zeitraum von ca. 200 bis 700 Jahren nach der Erstbesiedlung entspricht. Zunächst besaßen die Plattformen keine Statuen, die erst später – nach dem Aufstellen der Plattformen – entstanden. Forscher gehen davon aus, dass die anschließend auf die Plattformen gestellten Statuen und ihre mit der Zeit zunehmende Größe ein Ausdruck des Wettbewerbs unter den einzelnen Häuptlingsgebieten waren.

Die genannten Daten sollen veranschaulichen, wie viel gemeinschaftlicher/gesellschaftlicher Aufwand, Nutzung von Ressourcen, Anzahl von beteiligten Menschen und dafür notwendiger Verbrauch an Nahrung aufgebracht werden mussten, um diese Ehren-, Glaubens- und Statussymbole herstellen sowie aufstellen zu können. Dieser Prozess war eine Transformation der natürlichen Ressourcen in einen abstrakten gesellschaftlichen Wert, der Macht und Größe repräsentierte, so wie wir heute natürliche Ressourcen in den abstrakten Wert von „Geld“ umwandeln. Aber wie hoch war dieser Aufwand?

1.2.9 Werkzeuge aus der Natur

Symbole und Rituale haben innerhalb der Gesellschaften einen so hohen Wert, dass für ihre Herstellung und Erhalt alle verfügbaren Mittel ohne Einfluss von Rationalität genutzt werden. Damit entsteht eine irrationale, zur Erfüllung von gesellschaftlichen Symbolen und Ritualen scheinbar notwendige Handlung (Aufwand), die eine Schonung der natürlichen Ressourcen ausschließt. Die gesellschaftliche Priorität liegt in der Bedienung der Rituale mit den von ihr selbst geschaffenen Symbolen, sowie der Transformation/Umwandlung der dazu notwendigen natürlichen Ressourcen.

Wie hoch war der Aufwand dieser Inselgesellschaft, die fragmentiert in kleine Sippen mit „Gebietshäuptlingen“ aufgeteilt war, um solche außerordentlich schweren Plattformen und Monumente herstellen, transportieren und aufstellen zu können? Einige Experimentalwissenschaftler konnten eine durch Experimente gestützte, plausible Methode zum Transport derartig großer und schwerer Steine aufstellen. Sie wird als „Kanuleiter“ bezeichnet. Diese Kanuleiter besteht aus verschiedenen Holzbalken, die über lange Strecken verlegt werden. Über dieses Schienenkonstrukt werden dann die schweren Lasten gezogen.

Der Aufbau der Kanuleiter und das Ziehen der Lasten benötigen zahlreiche Arbeiter, die mit Wasser und Lebensmitteln versorgt werden müssen. Um Lasten von 10 bis 90 t über das Transportsystem ziehen zu können, wurden vermutlich 50–500 Menschen benötigt, die in einer synchronisierten gemeinsamen Leistung entsprechende Lasten bewegten. Für das Aufstellen und für andere Mechaniken notwendiger Hebel wurden zahlreiche Holzstämme benötigt, was bestimmte handwerkliche Fähigkeiten von Personengruppen voraussetzt. Die ersten europäischen Besucher bemerkten, dass auf der Osterinsel jedoch nur kleinere Bäume unter 3 m Höhe vorhanden waren. Wo waren die Bäume geblieben, die das Grundmaterial für Seile, Hebel, Transportschienen etc. geliefert hatten?

1.2.10 Natürliche Ressourcen

Die sich entwickelnde Gesamtgesellschaft auf der Osterinsel hat sich in verschiedene, auf unterschiedlichen Feldern konkurrierende Herrschaftsbereiche (Neu- oder Teilgesellschaften) aufgeteilt. Der Verbrauch natürlicher Ressourcen ist auf dem Inselgebiet insgesamt gestiegen. Die Konkurrenz zwischen den Teilgesellschaften ist ritualisiert. Die Rückkopplung dieser gesamtgesellschaftlichen Entwicklung mit den natürlichen Ressourcen ist real, jedoch nicht Bestandteil dieser gesamtgesellschaftlichen Entwicklung und damit nicht im gesellschaftlichen Fokus (kein Bestandteil eines gesellschaftlichen Kontextes). Offenbar wurde die Verfügbarkeit der natürlichen Ressourcen als im gesellschaftlichen Kontext „selbstverständlich“ angesehen oder die Inselgesellschaft verstand sich im Rahmen ihres Glaubens als Herrscher über dieselben.

Wenn ich meine Recherchen richtig interpretiere, konnte die moderne Forschung nach eigenem Verständnis nachweisen, dass noch bis kurz nach der Besiedlung der Osterinsel ein subtropischer Wald mit hohen Bäumen und dichtem Gebüsch vorhanden gewesen sein musste. Man geht heute davon aus, dass große Palmen bzw. Riesenpalmen die Insel bewaldeten. Die Osterinsel musste bei der Ankunft der ersten Siedler ein artenreicher Urwald mit vorwiegend großem Palmenbewuchs gewesen sein, was auch den Transport der großen Steine ermöglicht hätte.

Durch vergleichende Studien von historischen Müllplätzen auf der Insel konnte festgestellt werden, dass sich im Verlauf der Besiedlung die Nahrungsgrundlage stark veränderte. So wurden u. a. die heimischen Landvögel vollkommen ausgerottet und standen deshalb in den späten Entwicklungsphase als Nahrungsquelle nicht mehr zur Verfügung. Die Palmen und Riesenpalmen, die einst auf der Insel heimisch gewesen sein mussten, verschwanden.

Man konnte nachweisen, dass vor allem Bäume zur Verbrennung der Toten in den Krematorien verwendet wurden (Bedienung von Ritualen). Die Krematorien auf der Osterinsel enthalten große Mengen an Knochenasche, die durch hohe Temperaturen und einen großen Einsatz von Brennmaterial entstanden waren. Der natürliche Urwald der Insel wurde vermutlich in Teilen auch für den Aufbau der Landwirtschaft gerodet (zivilisatorischer Flächenbedarf). Holz musste auch für den Bau von Kanus genutzt worden sein, um Fischfang betreiben zu können. Zusätzlich zu der menschlichen Nutzung des Urwaldes kamen eingeschleppte Ratten, die sich immer stärker ausgebreitet haben mussten. Das zeigen unzählige Fressspuren an historischen Funden von zahlreichen Früchten und Nüssen. Die Nager wurden später für die Bevölkerung selbst ein Teil ihrer Nahrung.

1.2.11 (Über-)Nutzung von Ressourcen im gesellschaftlichen Kontext

Die Rückkopplungsprozesse zwischen den Inselgesellschaften und den natürlichen Ressourcen beeinflussen sich gegenseitig. Die Zeiträume der Rückkopplungsprozesse mit ihren Auswirkungen sind für Gesellschaften schwer fassbar, fast unmerklich, da sie über mehrere Generationen ablaufen. Können Gesellschaften einen lang andauernden Rückkopplungsprozess, den sie selbst ausgelöst haben, aufhalten? Welche Strategie muss eine Gesellschaft entwickeln, um diesen Rückkopplungsprozess zu ver- und zu be-stehen?

Heute gehen die Forscher davon aus, dass die Waldzerstörung unmittelbar nach der ersten Besiedlung um 900 n. Chr. begann. Mit dem ersten Besuch des Entdeckers Roggeveen im Jahr 1722, ca. 800 Jahre nach der Erstbesiedlung, muss der Kahlschlag bereits vollzogen worden sein, da Roggeveen keine hohen Bäume mehr gefunden hatte. Die meisten Palmnüsse stammen aus dem Jahr 1500 n. Chr. , also ungefähr 600 Jahre nach der Erstbesiedlung und einer gesellschaftlichen Entwicklung. Daraus kann abgeleitet werden, dass nach dieser Zeit die Palmen im Bestand abnahmen bzw. ganz verschwanden. Spätestens ab 1300 n. Chr., somit ca. 400 Jahre nach der Erstbesiedlung, kann eine radikale Entwaldung mit zunehmender Bodenerosion nachgewiesen werden. Auf der Poike-Halbinsel verschwanden die Palmen vermutlich um das Jahr 1400 n. Chr. Sedimentproben aus dem Krater des Rano Kao haben bestätigt, das für die Zeit um 1466 n. Chr. eine Trockenperiode herrschte. Der Wissenschaftler Grant McCall nimmt an, dass der Klimawandel in der Kleinen Eiszeit für die Destabilisierung und den Umbruch der Gesellschaft im 17. Jahrhundert mitverantwortlich warFootnote 7.

Zusammenfassend geht man davon aus, dass mit der Besiedlung der Osterinsel die Waldzerstörung begann, diese um 1400 n. Chr. und somit 500 Jahre nach Erstbesiedlung ihren Höhepunkt erreichte und 1500–1700 n. Chr. abgeschlossen wurde, was einem Zeitraum von ca. 600 bis 800 Jahren nach Erstbesiedlung entspricht. Damit verschwand der Wald vollständig und die heimischen Baumarten starben aus. Die Inselgesellschaft existierte damit in ihrem ursprünglichen kulturellen Verhalten wahrscheinlich ca. 600–800 Jahre, was einen langen kulturellen Zeitraum und mehrere Generationen an menschlicher Population umfasste. Die sich für die Menschen schleichend ändernden Umfeldverhältnisse konnten vermutlich nur über viele Generationen hinweg bemerkt werden, was eine Beobachtung, Dokumentation und Auswertung von Daten vorausgesetzt hätte. Ähnliches wäre auch in einem Prozess zur Verhinderung einer erkannten Katastrophe notwendig gewesen, was bereits auf die Probleme derart großer Zeiträume für eine Kultur hinweist.

Die Folge für die Inselbewohner war, dass sich damit ihre natürlichen Ressourcen dramatisch veränderten. Mit dem Verschwinden großer Bäume kam auch die Aufstellung der Statuen zum Erliegen, ihrer Glaubens- und Kultursymbole. Demzufolge änderte sich auch im Zuge dieser Katastrophe ihre kulturelle Grundlage. Alle von der Holzgewinnung abhängigen Tätigkeiten und Nutzungen mussten eingestellt werden oder verschwanden aus dem gesellschaftlichen Leben. Um die verbliebenen holzigen Sträucher muss es heftige Verteilungskämpfe gegeben haben. Zugleich mussten sich die Bestattungsmethoden und Verehrungsmethoden der verstorbenen Ahnen geändert haben, was einen tiefen kulturellen Wandel bedeutet haben musste.

Das Verschwinden des Waldes hatte auch Auswirkungen auf die Landwirtschaft auf der Insel, was Forscher nachweisen konnten. Nach der Abholzung der Palmen kam es zu starken Bodenerosionen, in deren Folge sogar ganze Siedlungen verlassen wurden. In der Konsequenz all dieser Auswirkungen entstanden eine Hungersnot, der Zusammenbruch der Bevölkerung und der sozialen Strukturen sowie ein gesellschaftlicher Niedergang mit Hungerkatastrophen, lokalen Pandemien mit zahlreichen Toten, Schrumpfung der Population, lokalen Kriegen etc. Forscher konnten in der weiteren Entwicklung der Inselgesellschaft sogar Kannibalismus nachweisen, was einem vollständigen Zerfall der Gesellschaft nahekommt.

1.2.12 Die Anker und der Verlust gesellschaftlicher Ordnung

Die Legitimation der an der Spitze einer Gesellschaft stehenden Autoritäten basiert auf einem in die Zukunft gerichtetes „Wohlstandsversprechen“ („eine bessere Zukunft“), das auch mit Ritualen und Symbolen verstärkt wird. Können diese Wohlstandsversprechen nicht mehr eingehalten werden, erodiert die Legitimation der gesellschaftlichen Autoritäten mit Folgen für die ganze Gesellschaft. In der Folge dieser Entwicklung entsteht eine gesellschaftliche Katastrophe, die von den Autoritäten hätte verhindert werden können, sofern ihnen dazu entsprechendes Wissen vorlag oder sie selbst es besaßen. Hier stellt sich die prinzipielle Frage, ob Gesellschaften bzw. Nationen im globalen Maßstab heute ebenfalls nur über Katastrophen lernen oder ob auf Basis rationaler Erkenntnisse diese Katastrophen im globalen Maßstab verhindert werden können.

Mit der Besiedlung der Osterinsel konnten die Häuptlinge und Priester ihre herausgehobene gesellschaftliche Stellung aus ihren Ursprungsgebieten übernehmen. Der Ahnenkult war sicherlich ein Teil ihres Glaubens. Die Statuen dienten der Verehrung dieser Ahnen, von denen man sich Wohlstand und eine reiche Ernte erbeten konnte. Die Statuen wurden auch zur Verehrung eigener verstorbener Angehöriger aufgestellt. Priester und Häuptlinge konnten ihre herausgehobene gesellschaftliche Stellung als ihre Vertreter zum Reich der Ahnen begründen und stellten dafür die Moai auf. Ihre Glaubensideologie wurde durch monumentale Statuen, die durch viele Menschen hergestellt und bewegt werden mussten, ausgebaut (Präsentation von Macht). Die Zeremonien mussten mit den Statuen und ihren hell scheinenden, durchdringend blickenden Augen eine starke Wirkung bei der restlichen Bevölkerung entwickelt haben. Dieser Glaubenskult wurde mit der Ausbeutung der natürlichen Ressourcen erkauft und funktionierte so lange, bis der „letzte Baum“ des Urwaldes gefällt war. Das frühzeitige Erkennen einer Übernutzung der natürlichen Ressourcen, wie auch die daraus abzuleitenden Folgen und Handlungen für eine lokale Sippschaft/Herrschaftsbereich, wären originäre Felder der herrschenden Häuptlinge gewesen.

Um einen Bevölkerungsteil oder eine andere Sippe zu demütigen, wurden die Statuen nach den vorliegenden wissenschaftlichen Erkenntnissen umgestoßen. Ab dem Jahr 1868 konnten Seefahrer keine aufgestellten Statuen mehr entdecken. Nachdem die natürlichen Ressourcen auf der Insel dezimiert waren, konnten die Versprechungen der Eliten auf Wohlstand und reiche Ernten nicht mehr eingehalten werden. Forscher gehen davon aus, dass um die Jahre um 1680 eine „Revolution“ auf der Insel stattfand und die vor dieser Zeit herrschenden Eliten gestürzt wurden. Die Gesellschaft auf der Osterinsel brach ab diesem Zeitpunkt auseinander. Bürgerkriege beherrschten offenbar nun das Inselgeschehen. Die Wohnsiedlungen wurden verlassen und andere Behausungen, wie u. a. auch Höhlen, wurden bewohnt. Nach mündlichen Überlieferungen der Inselbewohner wurden die letzten Statuen um das Jahr 1620 aufgestellt. Dieser Zeitraum zwischen 1620 und 1640 muss der Zeitraum gewesen sein, an dem die letzten Bäume zur Aufstellung der Götzen und damit dem Glauben und den Kulthandlungen geopfert wurden.

1.2.13 Der Verfall

Hat eine Gesellschaft die Glaubwürdigkeit ihrer Autoritäten verloren, beginnen gesellschaftliche Turbulenzen, die zahlreiche Opfer bedeuten können. Dieser Prozess des Verfalls kann über einen langen Zeitraum von mehreren Generationen der menschlichen Population andauern und damit von einer Gesellschaft selbst relativ unbemerkt bleiben.

Ein Hinweis auf den Verfall der Inselgesellschaft als ganzes konnten die Archäologen u. a. darin finden, dass die Plantagen zur Versorgung der Arbeiter in den Steinbrüchen zwischen 1600 und 1680 n. Chr. schrittweise aufgegeben wurden. Nach der Blütezeit der einzelnen Inselgesellschaften, in der insgesamt die größte Bevölkerungsanzahl erreicht wurde, die meiste Nahrungsmittelproduktion erzielt werden konnte, große ideologisch geprägte Konkurrenz zwischen den Klans und dem maximalem Verbrauch der natürlichen Ressourcen stattfand, brachen die einzelnen Inselgesellschaften schnell zusammen.

Die Überlebenden stellten sich in den folgenden Jahrhunderten dem gesellschaftlichen Wandel und auf die neuen Verhältnisse ein. Sie entwickelten auch einen neuen Glauben mit neuen Götzenbildern (Vogelmenschen, Vögel etc.), die nur sehr geringe natürliche Ressourcen verbrauchten. Die restliche Bevölkerung arrangierte sich so gut wie möglich, um mit den neuen Verhältnissen zu überleben, denn es war ihr nicht ohne Weiteres möglich, auf andere Inseln ausweichen zu können. Der Prozess der gesellschaftlichen Anpassung war damit eingeleitet und fand nun unter schlechteren Bedingungen für die übriggebliebene Gesellschaft statt, als sie es bei der Besiedlung des Ortes vorfanden.

Mit den katholischen Missionaren der europäischen Segler (ab 1864 n. Chr.), die die Osterinsel besuchten, wurden die letzten Reste der ursprünglichen Inselgesellschaft beseitigt. Ab 1872 n. Chr. waren lediglich noch 111 Inselbewohner übrig. Im Jahr 1888 n. Chr. annektierte Chile die Osterinsel.

1.2.14 Die innere Mechanik der Gesellschaft

Wie kann eine Gesellschaft lang anhaltende, die eigene Stabilität gefährdende Prozesse selbst erkennen und anschließend Korrekturen real wirksam auf allen notwendigen Handlungsebenen entwickeln? Kann eine Gesellschaft fundamentale Korrekturen selbst einleiten und durchführen oder sind gesellschaftliche Katastrophen unvermeidbar bzw. sind diese Katastrophen der eigentliche Lernprozess, den eine Gesellschaft durchleben muss?

Der interessante Zeitraum liegt zwischen der Erstbesiedlung um 900 n. Chr. und 1300 bzw. 1500 n. Chr., was einem Wachstums- und Wohlstandszeitraum von ca. 400 bis 600 Jahren entspricht. Die innere Mechanik des Verfalls dieser Inselgesellschaft scheint vor allem an einem großen Verbrauch natürlicher Ressourcen für das Ausfechten von gesellschaftlichen Konkurrenzen zu liegen. Es können im Wesentlichen natürliche Katastrophen wie z. B. ein Vulkanausbruch, Überschwemmungen etc. für den Untergang der ersten Inselgesellschaft ausgeschlossen werden. Die eingeschleppten Krankheiten in dieses isolierte Inselvolk, die zu schweren Pandemien und der Dezimierung des Inselvolkes geführt haben, betrachte ich nicht als einen natürlichen Einfluss, sondern als einen externen Eintrag durch andere Kulturen.

Interessant erscheint mir u. a. der zeitliche Verlauf dieser langen, lokalen Krise zu sein, der sich über mehrere Jahrhunderte erstreckte. Aufstieg und Niedergang dieser Kultur waren ein lange währender gesellschaftlicher Prozess, der über die Lebenszeit eines einzelnen Bewohners weit hinausragte. Einzelne Inselbewohner hatten deshalb nicht die Möglichkeit, ihre eigenen Erfahrungen für diesen langen Zeitraum nutzen zu können. Dazu war ihre eigene Lebenszeit zu kurz. Offenbar fehlte die Einsicht zu einer Notwendigkeit eines gesellschaftlichen Lernprozesses für diesen Bereich der Ressourcennutzung. Im Bereich der landwirtschaftlichen Anpassung an die örtlichen Verhältnisse scheint ein generationenübergreifender Lernprozess jedoch stattgefunden haben. Insofern konnten immer nur reaktive Entwicklungen auf aktuelle kritische Einflüsse von der Inselgesellschaft erfolgen. Ein gesellschaftliches Lernen über diesen langen Zeitraum im Kontext der kulturellen Sichtweisen und Überzeugungen war aus vielen Gründen offenbar nicht möglich (u. a. fehlende systematische Aufzeichnungen und ihre Auswertungen). Im Verlauf des Niedergangs (Krise) beschränkten sich die gesellschaftlichen Handlungen auf ein fundamentales und vom Überleben getriebenes Anpassen jedes Individuums.

In meiner Interpretation ist diese Inselkultur, wie viele andere Kulturen auch, durch innere Mechanismen in Krisen geraten, die von den damals führenden Autoritäten nicht oder falsch verstanden wurden. Aus diesen Fehlschlüssen wurden in konsequenter Folge falsche Maßnahmen von den gesellschaftlichen Autoritäten beschlossen, die jedoch im Kontext des gesellschaftlichen Selbstverständnisses lagen. So konnte als gesellschaftliche Wendemarke der „letzte Baum“ gefällt werden, ohne dass diese isolierte Gesellschaft im Vorfeld ihrer Handlung auch nur die Vorstellung entwickeln konnte, welche Auswirkungen ihre eigenen Handlungen in einer ferneren Zukunft für sie hätten.

Eine genaue Übertragung der auf der Osterinsel abgelaufenen gesellschaftlichen Entwicklung kann natürlich auf unsere heutige Zeit nicht erfolgen. Aber es sind zahlreiche Ähnlichkeiten erkennbar (Aufteilung einer Besiedlungslandschaft in viele Völker, globale Arbeitsteilung, Austausch und Nutzung von Ressourcen zwischen Völkern, erheblicher Ressourcenverbrauch aller entwickelter Völker, verschiedene gesellschaftliche Selbsteinschätzungen/Überzeugungen/„Kulturen“ mit fundamental unterschiedlichen gesellschaftlichen Prioritäten, Transformation von natürlichen Ressourcen in Geld/Kapital mit seiner Anhäufung als höchstes individuelles Streben, globale gegenseitige gesellschaftliche Abhängigkeiten, fehlende Ausweichmöglichkeiten auf andere Gebiete oder Planeten, etc.). Fundamental unterscheidet sich unsere heutige Zeit von der damaligen Inselwelt in den verfügbaren Daten über den Zustand unserer globalen Ressourcen. Unsere globale Gesellschaft ist durch Technologie zusätzlich in der Lage, den Austausch dieser Daten zu organisieren, sodass jedes Volk und seine Autoritäten gleiche Zugänge zu den Daten haben können. Ebenfalls haben wir global als moderne Gesellschaften eine generationenübergreifende Weitergabe an Erfahrungen und Wissen organisiert, was somit jede neue Generation in ein ähnliche Verantwortung setzt, wie die Generationen davon. Das Gleiche gilt ebenfalls für die aus den Daten ableitbaren möglichen Folgen für einzelne Völker bzw. ganze Regionen, die die Autoritäten auf der Osterinsel vermutlich nicht einschätzen konnten. Heute ist es möglich, auch Zeiträume außerhalb einer Lebenszeit eines Individuums abschätzen und daraus notwendige Handlungen ableiten zu können, sofern unsere heutigen „Autoritäten“ das für notwendig erachten, die richtigen Maßnehmen auf Basis rationaler, in einer globalisierten Welt vernetzten und für eine Gesellschaft tragfähigen/akzeptablen Strategie(n) umzusetzen.

1.2.15 Den Blick weiten

Ich blicke zurück auf das erste Bild, den Erdaufgang über dem Mondhorizont. Nachdem ich zahlreiche Bücher, Berichte, Studien und andere Quellen über die Osterinsel gelesen hatte, musste ich immer wieder an dieses Foto denken. Dieser kleine blaue Planet ist in diesem unendlichen Meer der dunklen Leere eine Insel der Wärme und des Lebens, auf der sich über Millionen von Jahren natürliche Kreisläufe entwickelt haben, die wir noch heute nicht vollständig verstehen – ein Platz, der uns Nahrung und Wärme gibt, sodass wir in unserer heutigen Zeit eine nicht vorstellbare Bequemlichkeit, technologische Perfektion und umfassendes Wissen, sowie umfassende Kenntnisse in zahlreichen Wissensgebieten entwickeln konnten. Wir erleben eine Glanzzeit/Hochzeit einer globalen menschlichen Gesellschaft, die sich in verschiedene Hoheitsgebiete bzw. Machtbereiche unterteilt hat. Sie stehen untereinander in Konkurrenz, aber auch in Kooperation, und nutzen die natürlichen Ressourcen des Planeten, solange es dafür „Geld“ gibt. Ihre am weitesten verbreitete Ideologie ist ein wirtschaftlicher Glaube an ein unendliches Wachstum sowie ein in die Zukunft gerichtetes Versprechen an jeden Einzelnen, ebenfalls Wohlstand und Macht erlangen zu können (das grundlegende Versprechen des Kapitalismus). Wachstum bedeutet die ständig währende Wandlung von – bevorzugt – natürlichen Ressourcen in „Geld“, dessen Anhäufung Reichtum, gesellschaftliche Anerkennung, Macht, Einfluss, Herrschaft über Andere und vieles mehr für die „Häuptlinge“ der heutigen „Inselgebiete“, wie auch für eine einzelne Person in diesem Umfeld (Eliten), hervorgebracht hat. Wie in den einzelnen Völkern, so auch global, hat unsere menschliche Gesellschaft auf diesem Planeten zahlreiche Götzen, zu denen auch das Geld gehört. Aber auch der Glaube an ein unendliches Wachstum unserer heutigen „Wirtschaftsreligion“ ist ein Glaubenssymbol, das uns heilig ist. Wir haben unsere eigenen Moai aus unseren kulturellen Steinbrüchen unserer Entwicklungsgeschichte gehauen und aufgestellt.

Die Forschung um die Vorgänge auf der Osterinsel hat zahlreiche Forscher beschäftigt und tut es immer noch, von denen einige auch der Überzeugung sind, dass der Wald auf der Insel durch natürliche Vorgänge verschwunden ist. Zur Vollständigkeit weise ich auf die unterschiedlichen Interpretationen der Daten aus der Inselforschung hin.

Ein Argument auf meinem Weg zum Verständnis um den Ablauf und der Bestimmung des Zeitpunktes, wann der „letzte Baum“ (als Synonym für den Zeitpunkt der Unumkehrbarkeit in der Vernichtung einer natürlichen Ressource) gefällt wurde, ist, dass unsere modernen Gesellschaften mithilfe von Technologie das Problem der „fehlenden Bäume“ als Vorstufe zum „letzten Baum“ beabsichtigen zu lösen, bzw. sich auf den Weg gemacht haben, die dafür notwendige Technologie zu entwickeln. Mit Blick in Richtung anderer gesellschaftlicher Teile könnte auch argumentiert werden, dass … der endgültige Beweis fehlt, dass es keine Bäume mehr geben wird, und die Bereitstellungen von … mehr Forschungsgeldern und neuen Forschungen zu diesem Thema sind unzureichend und müssen deshalb besser finanziert werden. Ein an die Emotionen gerichtetes Argument kann man auch in den heutigen Zeitungen finden, wie … in dem kein Beweis für einen „letzten Baum“ vorhanden ist und die Warnung nur allgemeine Ängste schürt. Ein weiteres Argument in unserer heutigen Zeit kann wahrgenommen werden, dass wir mithilfe von neuen Technologien den angerichteten Schaden im Verbrauch von Ressourcen ausgleichen werden (in Bezug auf den Klimawandel z. B. Climate Engineering: Sonnenspiegel im Orbit zur Verringerung der Sonneneinstrahlung; große technische Anlagen zur CO2-Entnahme aus der Luft [Air Cleaning]; durch Flugzeuge in den oberen Schichten der Atmosphäre ausgesprühte, dass Sonnenlicht reflektierende Mikropartikel, somit weniger Sonnenlicht auf die Erdoberfläche gelangen würde, …).

Bei allen Recherchen zu diesem Thema und einer Bilanz der Energiewende der letzten 30 Jahre, sowie den vor allem in diesem Kapitel dargestellten Grundlagen in der Entwicklungsmechanik in unseren vernetzten Gesellschaften sind mir für unsere heutige Zeit keine plausiblen Strategien, Konzepte oder Pläne begegnet, wie eine global sich ausbreitende, weiter wachsende menschliche Gesellschaft, die in zahlreiche politische, partikulare Ziele verfolgende, religiös vollkommen divergente Völker, die in kulturelle, wirtschaftliche und unterschiedlich reiche Kulturen unterteilt ist, die zudem allesamt in einem globalisierten Wettbewerb und Austausch von Ressourcen stehen, und die eine unfassbar kleinteilige, global organisierte Arbeitsteilung entwickelt hat, einen sich über Jahrhunderte entwickelnden Klimawandel verhindern will, ohne dabei wirtschaftliche, kriegerische oder andere Katastrophen vermeiden zu können. In der Konsequenz dieser nicht trivialen Zusammenhänge und vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Mechanik der oben beschriebenen Entwicklungen des Volkes auf der Osterinsel zeichnet sich ein binärer Entscheidungsbaum unserer zukünftigen Handlungsalternativen ab: die Katastrophe, durch die viele Völker in der Geschichte zahlreicher Nationen bereits gegangen sind, oder eine rational basierte orchestrierte globale Entwicklung zur Anpassung an sich ändernde Umweltverhältnisse.

Das scheint eine düstere Aussicht unserer eigenen Zukunft zu sein, was sie jedoch real nicht ist! Der Grund für eine positive Zukunftsaussicht liegt genau in dieser Erkenntnis, also dem Wissen um die Problemfelder, die Aufgabe und den Weg zur realistischen Lösung zu finden. Das genau unterscheidet auch unsere heutige globale Lage aller Völker, der globalen Gesellschaft, von zahlreichen anderen historischen Völkern und ihren Entwicklungen. Die große Frage stellt sich jedoch auf einem anderen Feld. Können wir uns als global vernetzte Gesellschaft auf realistische Entwicklungslinien untereinander verständigen, um ein kulturelles Verständnis über uns selbst und unsere Umwelt, das aus einem vorindustriellen Zeitalter stammt, zu modernisieren? Wir haben die Zeit, diesen Wandel einzuleiten und einen Modernisierungsprozess zu durchlaufen. Die hoffnungsvolle Nachricht ist: Es gibt keinen durch einen Klimawandel verursachten Zeitdruck. Das Fenster, in dem wir ein Jahrtausende währendes, klimatisches Gleichgewicht nicht gestört hätten, liegt zeitlich bereits weit hinter uns, wie wir im nächsten Abschnitt sehen werden. Der Klimawandel ist damit ein Fakt unseres heutigen und zukünftigen Daseins, mit dem wir nur noch nicht gelernt haben umgehen zu können. Unser Schwerpunkt unseres heutigen Handelns muss die Vermeidung zusätzlicher selbst verursachter Katastrophen, durch unter Zeitdruck/Panik und gesellschaftlicher Zukunftsangst entstanden Handelungsdruck sein, also die Vermeidung einer Emotionalisierung des globalen Problems Klimawandel. Diese seit Jahren entstehende, zunehmende Emotionalisierung (siehe auch Kapitel 3, 4, 9) verstellt uns global die Fähigkeit, pragmatische und funktionierende Lösungen finden zu können. Eine durch eine Emotionalisierung und in Panik handelnde Menschheit/Gesellschaft, sowie eine dadurch verursachte zusätzliche Krise wird uns in ihrer Folge/Auswirkung viel stärker beschäftigen und den Zeitgeist der Klimafokussierung wandeln bzw. von den notwendigen langfristigen globalen Lösungen entfernen.

1.3 Eine turbulente Entwicklung

Ich möchte nun der Frage nachgehen, wo ein Zeitpunkt in der Vergangenheit oder der Zukunft gewesen sein könnte, an dem wir das Klimasystem in dem „Systemzustand“ der letzten 100.000 Jahre hätten halten können (0 °C Änderung der globalen Durchschnittstemperatur bzw. vorindustrielle Klimaverhältnisse). Zusätzlich möchte ich eine vereinfachte Modellvorstellung über das GLOBALE Klimasystem entwickeln. Eine modellartige Visualisierung eines hochkomplexen Klimasystems hilft, die Komplexität, die außerordentliche Systemgröße und unsere eigene Rolle für eine Problemfindung und -lösung so nahe wie möglich an reale Zielsetzungen heranzubringen. Damit entsteht eine Perspektive/Sichtweise, die zu neuen Ansätzen/Lösungen befähigen kann.

Das CO2-System ist ein Teil des Klimasystems. Es besteht im Wesentlichen aus drei Elementen: der Atmosphäre, dem Ozean und der Landbiosphäre. Alle drei Systemelemente sind Subsysteme eines überlagerten Systems: dem Erdsystem mit seinem Trabanten Mond und den anderen Teilen unseres Sonnensystems (andere Planeten, Asteroiden etc.). Alle Teil- oder Subsysteme sind in verschiedener Weise miteinander rückgekoppelt und damit untereinander verbunden. Das Klimasystem insgesamt besteht noch aus wesentlich mehr Systembestandteilen, wie u. a. der Sonneneinstrahlung, der Planetenbahn, der Rotationsachse, der Planetenneigung zur Sonne (Ekliptik) und vielen weiteren Teilen. Eine wesentliche Einflussgröße sind die menschlichen Emissionen an unterschiedlichen Gasen, aber auch die starken menschlichen Einflüsse auf die anderen Klimasubsysteme wie die Veränderung der Landoberflächen und Landstrukturen (z. B. künstliche Inseln, künstliche Oasen in Wüsten, Staubecken, künstliche Berge oder Bergabtragungen etc.) sowie die Meere. Mikroklimatische Auswirkungen haben u. a. Städte, künstliche Flüsse, Staudämme, Landwirtschaft, Forstwirtschaft, Viehwirtchaft, Industrie, Deponien, etc. und die zahlreichen Tagebaue zum Abbau von Bodenschätzen.

Welche verändernden Einflüsse all diese klimatisch wirksamen Teilsysteme insgesamt auf das Makroklima haben, wird erst in der letzten Zeit immer besser verstanden. Es ist aus meiner Sicht deshalb relativ unverständlich zu behaupten, dass unsere gesamten Handlungen nicht Auswirkungen auf das globale Klima hätten. Versteht man das Klimasystem als ein zusammenhängendes Teilsystem des Systems Erde, sind all diese Teilsysteme miteinander verbunden und untereinander rückgekoppelt. Dass wir auf unserer kleinen blauen Kugel wie Raumfahrer in einem Raumschiff mit einem Durchmesser von 12.756 km mit 961.200 km/h durch ein schwarzes Nichts rasen (mit 1.987.000 km/h relativ zur kosmischen Hintergrundstrahlung), hatte die Mondlandung dramatisch gezeigt und durch das wunderschöne Bild des Erdaufgangs dokumentiert. Wir befinden uns bereits auf einem großen Raumschiff, das uns Menschen und alle anderen Lebewesen perfekt versorgt, sofern wir unsere Versorgung nicht selbst abschalten. Das Klimasystem, das uns am Leben erhält, kann somit als komplex bzw. nichtlinear angesehen werden. Aber was bedeutet das?

Die Vorstellung des „Chaos“, der Nichtlinearität, als ein möglicher Zustand eines Systems entwickelte sich vor allem mit den Arbeiten von Boltzmann. Er beschäftigte sich im 19. Jahrhundert im Wesentlichen mit der Thermodynamik und der statistischen Mechanik. Durch seine Arbeit wurde der Begriff der Wahrscheinlichkeit in die Physik als feste Größe eingeführt. Boltzmanns Sicht im 19. Jahrhundert war jedoch eher eine reduktionistische Sichtweise, in der er alle Dinge letztendlich als berechenbar angesehen hatte. In demselben Zeitfenster entdeckte Darwin den Zufall als Motor der biologischen Evolution. Zufällige Mutationen in Lebewesen schufen die Grundlage der Anpassung an ein sich änderndes Umfeld. Ende des 19. Jahrhunderts, mit der sich entwickelnden Industrialisierung, herrschte in der Wissenschaft ein reduktionistisches Weltbild vor, in dem alles wie eine Mechanik (mechanisches Uhrenwerk) funktionierte und damit auch berechenbar war. Mit der Entdeckung des Zufalls, wie in der Biologie und der Thermodynamik, öffnete sich jedoch das Fenster zu einer neuen Sicht auf komplexe, unberechenbare oder chaotische Vorgänge, die man über nichtlineare Gleichungen beschreiben kann. Die nichtlinearen Gleichungen waren Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts bekannt.

Erst mit der Entwicklung des Computers konnten diese nur schwer handhabbaren nichtlinearen Gleichungen zur Lösung von unsteten Vorgängen nutzbringend eingesetzt werden. In einer nichtlinearen Gleichung können bereits sehr geringe Änderungen einer Variablen große Auswirkungen haben. Wenn sich ein System über einen langen Zeitraum und einen großen Wertebereich konstant verhält, ist das System stabil. Es schwingt in einer Periodendauer (Zyklusweite) und einer Amplitude. Das System kann bei Änderungen von bestimmten Parametern und Werten ein robustes Verhalten zeigen, sodass es trotz Störungen immer wieder in seinen bisherigen Zyklus zurückkehrt (typisch für zahlreiche natürliche Systeme ist eine 10- bis 25-%-Spitze-Spitze-Systemtoleranz). Trotz Änderungen in den Beziehungen seiner Elemente und einigen Werten verbleibt das System weiterhin in seinem stabilen Systemzustand oder kehrt nach einer Weile wieder in sein ursprüngliches Systemverhalten zurück. Dieses Systemverhalten wird als stabiles Systemverhalten bezeichnet. Ändert sich in diesem System jedoch ein bestimmter Parameter in einem sehr kleinen Wertebereich, kann das gesamte System umkippen und in einen neuen, turbulenten Zustand übergehen, der nicht mehr dem vorherigen Systemverhalten entspricht. Man kann diesen Effekt z. B. bei plötzlich auftretenden Materialbrüchen oder bei Luft mit hohen Windgeschwindigkeiten beobachten. Ein Bruch eines Materials – hier vereinfacht dargestellt – ist eine plötzliche Veränderung in der Gitterstruktur z. B. eines Metalls. Hohe Windgeschwindigkeiten führen in der Luft selbst zu neuen, untereinander wechselwirkenden Wirbeln. Der plötzliche Bruch eines Metalls oder die Entstehung von neuen, wechselwirkenden Wirbeln kann mit nichtlinearen Gleichungen dargestellt bzw. berechnet werden.

Bei linearen Gleichungen können die Lösungen eines Systems auf ein Anderes übertragen werden. Das Ergebnis der Gleichung kann somit auf andere lineare Systeme verallgemeinert werden. Die Lösungen von nichtlinearen Systemen können nicht ohne Weiteres auf andere Systeme übertragen werden. Sie verhalten sich chaotisch und teilweise unvorhersehbar. Kurven von nichtlinearen Systemen weisen Lücken, Schleifen, Rekursionen, Sprünge oder ähnliche Merkwürdigkeiten auf. Heute kann turbulentes Systemverhalten mit nichtlinearen Gleichungen annähernd gut beschrieben werden, wie z. B. die Wettervorhersage, die mit zunehmender zeitlicher Prognose immer unwahrscheinlicher wird, dass das prognostizierte Ereignis (z. B. Regen, Schneeschauer, Temperatur etc.) auch wirklich eintreffen wird. Lineare Gleichungen würden exakt für eine bestimmte Sekunde den Regentropfen an genau diesem Ort vorhersagen können. Umgekehrt fällt es schwer, in einem chaotischen, komplexen System ein Ereignis vorherzusagen, wie z. B., ob es um genau 14 Uhr an dem einen bestimmten Ort regnen wird. Das Gleiche gilt auch für die Vorhersage einer Lufttemperatur an einem bestimmten Ort oder in einer bestimmten Region zu einem bestimmten Zeitpunkt. Die Temperatur verhält sich in einem nicht linearen System genau so, wie man es mit den Formeln bestimmt hat. In einem nichtlinearen System würde z.B. die exakte Vorhersage am Anfang eines Jahres, ob der nächste Winter galt oder warm wird, bzw. WIE kalt oder warm der nächste Winter wird, nicht möglich sein. Die Prognose in diesem System könnte lediglich die Aussage treffen, dass ein Winter kommen wird. Hier kommt die Wahrscheinlichkeit zurück, mit der man dann ein Ereignis dennoch vorhersagen kann, indem man eine Wahrscheinlichkeit mit dem Ereignis verknüpft, dass dieser Regenschauer um 14 Uhr höchst wahrscheinlich auch an dem vorhergesagten Ort auftreten wird. Auf das Beispiel der Temperaturvorhersage bzw. der Prognose des Winters bezogen, würde man unter Angabe einer Wahrscheinlichkeit lediglich die Tendenz eines warmen oder kalten Winters vorhersagen können. Ob dann tatsächlich der Winter warm oder kalt geworden ist bzw. wie hoch die Temperatur an einem bestimmten Wintertag war, somit die Verifikation/Nachprüfbarkeit des Vorhersagemodells richtig oder falsch war, wird erst nach dem nächsten Winter möglich sein (Falsifizierbarkeit von wissenschaftlichen Thesen).

Nichtlineare Gleichungen können zwar so ein komplexes, chaotisches System wie z. B. das Wetter beschreiben und den Wissenschaftlern tiefe Einsichten in das Systemverhalten geben. Eine genaue Vorhersage über den Ort und den Zeitpunkt eines Ereignisses ist jedoch nicht möglich, wie man sie z. B. bei linearen Systemen durchaus bestimmen könnte. Ein anderes Beispiel für den komplizierten Einsatz nichtlinearer Systemgleichungen sind die Simulationen der Klimaforscher oder Klimamodellierer, die auf Basis von verschiedenen Gaskonzentrationen in der Atmosphäre, Erdbahnparameter, Wasserdampfkonzentrationen (das am stärksten wirkende „Klimagas“), Sonneneinstrahlung etc. unterschiedliche Szenarien erstellen und Prognosen für die Erderwärmung in den nächsten Jahrzehnten berechnen (erdgeschichtlich extrem kurze Zeiträume). Ohne ein Verständnis über chaotische, nichtlineare Systeme und den Einsatz von Hochleistungscomputern wären diese Prognosen nicht denkbar. Worin besteht nun der Unterschied dieser beiden Systemmodelle?

Nichtlineare Systeme wie unser Klima zeichnen sich vor allem dadurch aus, dass ihre Systemelemente und Teilsysteme miteinander wechselwirken bzw. miteinander rückgekoppelt sind. Alle Systemteile sind miteinander verbunden und wechselwirken. Wechselwirkung bedeutet, dass der eine Teil den anderen Teil beeinflusst und umgekehrt. Eine Änderung in einem Teilsystem wirkt sich auf alle anderen Systemteile unterschiedlich aus. Die kleine Änderung in dem einen Teilsystem kann sich somit auf das ganze System gravierend auswirken. In unserem Beispiel über den Regenschauer würde z. B. durch ein kleines Ereignis weit vom eigentlich prognostizierten Ort entfernt, an dem der Schauer abregnen sollte, die Wolkendecke aufbrechen und anstelle des Schauers die Sonne erscheinen. Die einfachste Rückkopplung ist die Heizung im Haus. Durch das Thermostat ändert sich der Zufluss des warmen Wassers, abhängig von der Temperatur im Raum. Öffnet man z. B. ein Fenster, strömt kalte Luft in den Raum. Das Thermostat kühlt ab und öffnet den Regler für mehr warmes Heizungswasser, sodass die Raumtemperatur ansteigen kann. Es regelt die Raumtemperatur. Zusätzlich beeinflusst es jedoch auch den Zufluss von Wasser in die Heizung, was wiederum z.B. den Öl- oder Gasbrenner der Heizungsanlage beeinflusst (negative Rückkopplung bei genügend hoher Wohnraumtemperatur). Bei einer Fernheizung mit Tausenden von Heizungskörpern regeln alle Heizungen zusammen ein ganzes Kraftwerk, wie viel warmes Wasser zu den Häusern transportiert oder zurückgehalten werden muss, wenn die Wohnungen warm genug sind. Damit haben wir zwei wichtige Rückkopplungen in Systemen beschrieben, die positive und negative Rückkopplung. Die positive Rückkopplung verstärkt und die negative Rückkopplung schwächt ab bzw. wirkt dämpfend. Rückkopplung und Nichtlinearität kommen in fast allem vor, was wir kennen. Sie sind eine grundlegende Eigenschaft aller komplexen natürlichen Systeme.

So wie das Wetter als kleiner Bruder des Klimas, ist auch das Klima ein komplexes System, in dem zahlreiche Nichtlinearitäten und Rückkopplungen vorhanden sind. Man kann deshalb auch davon ausgehen – zugleich auch in der Erdgeschichte, wie in der oberen Grafik zu sehen ist, nachvollziehen –, dass unser Klima insgesamt nicht stabil ist. Es schwankt. Über die letzten Jahrtausende können Zyklen zwischen Warmzeit und Kaltzeit erkannt werden (Temperaturschwankungen der globalen Durchschnittstemperatur). In noch größeren Zeiträumen von Millionen Jahren werden weitere Zyklen erkennbar, die jedoch für meine Betrachtung nicht von Relevanz sind. In den letzten Jahrtausenden (ca. 800.000 Jahre) schwankte unser Klimasystem, in dem sich Warmzeit und Eiszeit abwechselten. Man kann diese Schwankungen der Amplituden pro Periodendauer über den genannten Zeitraum auch als Systemzustand des Klimasystems verstehen, in dem unser jüngstes Klima in dieser durchschnittlichen Schwankungshöhe (Amplitude Spitze-Tal) so etwas wie einen stabilen Zustand erreichte (Abb. 1.4Footnote 8). Die globalen CO2-Konzentrationen betrugen in diesem vorindustriellen Systemzustand, mit geringer menschlicher Population, minimal um 170 ppm und maximal um 280 ppm CO2-Konzentration (gemittelte Abschätzung). Eine Spitze an CO2-Konzentrationen von ca. 300 ppm trat vor ca. 380.000 Jahren auf. Sie zeigt für den dargestellten Zeitraum einen statistischen Ausreißer, der die Systemstabilität offensichtlich nicht gefährdete und das System anschließend wieder zu einem normalen Verhalten in den bisherigen Grenzwerten zurückkehrte. Die globale Durchschnittstemperatur (blaue Kurve) schwankte in ähnlichen Zyklen. An den Kurven der Grafik kann man gut erkennen, dass das Klimasystem nach einer hohen oder geringen CO2-Konzentration jeweils wieder in einen anderen Systemzustand zurückfiel (Schwankungen). Dieser Rückfall von einem Hoch in ein niedrigeres Niveau und umgekehrt ist auf zahlreiche Rückkopplungen von Systemelementen im Klimasystem zurückzuführen. Deshalb kann für diese zeitliche Auflösung auch keine direkte optische Korrelation zwischen einer dem Temperaturanstieg vorlaufenden CO2-Konzenration abgelesen werden. Für meine Betrachtung ist auch die Frage nach einem direkten oder indirekten Zusammenhang beider Kurven irrelevant. Relevant ist, dass es heute einen wissenschaftlich fundierten Zusammenhang, eine Rückkopplung, beider Systemgrößen gibt. Die Grafik zeigt auch, dass am rechten Rand gegen den Wert 0 Jahre von heute, der Ausschlag der klimawirksamen CO2-Konzentration einen hohen Anstieg im Jahr 2021 mit ca. 420 ppm CO2-Konzentration ausweist (Abb. 1.4 rechte Seite „Today“). Dieser Ausschlag zeigt die aktuelle globale Konzentration an CO2-Gasen an. Interessant für meine Analyse sind der klimageschichtlich extrem kleine Zeitraum (Dynamik) und die Höhe des Anstiegs (Ausmaß/Dimension) am rechten Bildrand der Grafik. Dieser Anstieg ist wie ein Impuls, Anstoß oder eine Art „Explosion“ eines spezifischen Systemparameters in einem globalen komplexen Systems, des Klimasystems.

Abb. 1.4
figure 4

Eisbohrkernmessungen: Langzeitauswertung (Daten aus Parrenin et al. 2013; Snyder et al. 2016; Bereiter et al. 2015), Quelle: Ben Henley (Monash University), Nerilie Abram (Australian National University), https://theconversation.com/the-three-minute-story-of-800-000-years-of-climate-change-with-a-sting-in-the-tail-73368, 18.12.2021

Einige grundlegende Eigenschaften des Klimasystems, die quasi zyklische Schwingung in bestimmten Systemgrenzen und ihre relative Systemstabilität über einen für uns Menschen langen Zeitraum, habe ich bereits beschrieben. Eine weitere wichtige Eigenschaft ist die Systemträgheit. Das Klimasystem reagiert auf äußere Änderungen träge. Ein Indiz dafür kann auch in der oben dargestellten Grafik (Abb. 1.4) erkannt werden, denn die Zyklen (Periodendauer) liegen mehrere Tausend Jahre auseinander. Eine Hochphase der beiden Systemgrößen Temperatur und CO2-Konzentration wechselten mit einer Periodendauer von ca. 100.000 Jahren von einem Maximum zu einem Minimum und umgekehrt. Dieser Zeitraum korreliert mit der Schwankung der Erdumlaufbahn um die Sonne, deren Verlauf einen wesentlichen Einfluss auf unser Erdklima hat. In kleineren Zeiträumen, wie z. B. einem Zeitraum von 1000 Jahren, werden weitere, kleinere Zyklen erkennbar. Diese Zeiträume sind jedoch für unsere menschliche Spezies unfassbar groß. Das relativ stabile Klima der letzten 100.000 Jahre hat mit Sicherheit die Entwicklung unserer Spezies unterstützt. Ein Klima reagiert somit in einem Zeitraum, der für einen einzelnen Menschen über seine eigene Lebenspanne weit hinwegreicht und damit etliche Generationen bzw. eine ganze Entwicklungsgeschichte einer Spezies überstreicht. Damit möchte ich zum Ausdruck bringen, dass die für die gesamte Menschheit bevorstehende, bewusst zu gestaltende Aufgabe, auf den Klimawandel zu reagieren, eine bisher ungeahnte Dimension hat, wobei heute noch unklar ist, wie diese zeitliche Dimension sich tatsächlich auswirkt und überhaupt von den Völkern in ihren Kulturen behandelt werden kann: Das Klima reagiert nach menschlichen Zeitvorstellungen sehr träge.

Neben den großen Massen, Energiemengen, Bewegungsgeschwindigkeiten, Turbulenzen, Rückkopplungen etc., die im Klimasystem interagieren, existiert ein weiterer wichtiger Faktor, die Verweilzeit der Klimagase in der Atmosphäre. Die verschiedenen Klimagase haben sehr unterschiedliche Verweilzeiten, wobei ich hier nur das CO2 in der Abb. 1.5Footnote 9 betrachten möchte. Dennoch haben auch die Verweilzeiten der anderen Klimagase Auswirkungen auf die Trägheit des Systems, was erneut die hohe Komplexität des Klimasystems deutlich macht. Die Abschätzungen der charakteristischen Verweilzeit eines Kohlendioxidmoleküls in der Atmosphäre ist eine komplizierte Mischung von verschiedenen Faktoren (siehe dazu auch IPCC, Working Group IFootnote 10). Daraus kann man schließen, dass

Abb. 1.5
figure 5

Verweilzeit und Abbau von CO2 in der Atmosphäre, Quelle: Decay of a small pulse of CO2 added to today’s atmosphere, based on analytic approximation to the Bern carbon cycle model (Joos F et al., An efficient and accurate representation of complex oceanc and biospheric models of anthropogenic carbon uptake, Tellus, 48B, 397-417, 1996; Shine et al., Alternatives to the global warming potential for comparing climate impacts of emissions of greenhouse gases, Clim. Change, 68, 281-302, 2005, see equation given in figure).

  1. 1.

    fast die Hälfte der neu hinzugefügten Kohlendioxidmoleküle verbleibt wenige Jahrzehnte in der Atmosphäre verbleibt,

  2. 2.

    etwa 1/3 für ein Jahrhundert oder länger in der Atmosphäre verbleibt und

  3. 3.

    ca. 20 % nach 1000 Jahren noch vorhanden ist.

Ein Beispiel: Im Jahr 1990 werden von irgendeiner Quelle 100 t CO2 emittiert. Von diesen 100 t CO2 befinden sich im Jahr 2020 noch ungefähr 50 t in der Atmosphäre. Im Jahr 2090 befindet sich exakt von dieser einen Emission noch ungefähr 1/3 der Gasmoleküle in der Atmosphäre. Die Verweilzeit solcher atmosphärisch wirksamen Moleküle wird im Durchschnitt für ein bis zwei Jahrhunderte (100–200 Jahre) definiert (siehe auch Tabelle Tab. 1.1 weiter unten). Ich gehe deshalb davon aus, dass unsere CO2-Moleküle aus den letzten 30 Jahren noch in 100–200 Jahren in der Atmosphäre zu einem erheblichen Anteil vorhanden sein werden und 20 % davon werden auch noch in 1000 Jahren vorhanden sein. Unsere Emissionen von heute, im Jahr 2022, werden demnach im Jahr Zweitausendeinhundertzweiundzwanzig (2122!) noch zu 1/3 vorhanden sein. Im Jahr 3022 werden noch ca. 20 % der CO2-Moleküle aus diesem Jahr in der Atmosphäre nachweisbar sein. Das Molekül, das gerade in diesem Jahr abgebaut wurde, ist demzufolge im Durchschnitt ungefähr 100 Jahre alt und stammt somit aus den Jahren um 1920. Zu diesem Zeitpunkt betrug die CO2-Konzentration global ca. 300 ppm, also ca. 120 ppm weniger als heute. Die Welt hatte zu dieser Zeit wenige Industriestaaten, die globale Population betrug gerade mal ca. 1,93 Mrd. Menschen und der Erste Weltkrieg war gerade überwunden, der Zweite Weltkrieg war noch unvorstellbar. Dieser kleine Ausflug in die Grundlagen der Klimaforschung zeigt die zeitliche Dimension eines Klimawandels, die viel zu wenig bei den heutigen Strategievorschlägen und Lösungskonzepten, aber vor allem in den öffentlichen Diskussionen mit bedacht wird. Das gilt für die zahlreichen Forderungen nach schnellen Maßnahmen genauso wie für die Erwartungshaltung zahlreicher Klimaaktivisten, durch schnelle Änderungen Klimaeffekte in ihrer eigenen Lebenszeit erwarten zu können. Ich werde aber auf diesen Aspekt später noch einmal zurückkommen. Die Tab. 1.1Footnote 11 gibt die Richtwerte des IPCC für die Verweilzeit der Klimagase an.

Tab. 1.1 Atmosphärische Verweilzeiten der Klimagase (IPCC), Quelle:  IPCC Working Group I, https://archive.ipcc.ch/ipccreports/tar/wg1/016.htm, 08.12.2021.

Die Tab. 1.1 zeigt eindrücklich, dass lediglich Methan in einer Dekade in der Atmosphäre abgebaut wird. Methan ist jedoch klimatechnisch erheblich aggressiver als Kohlendioxid. Das nächste wichtige Klimagas, N2O (Lachgas), wird über 100 Jahre abgebaut. Auch dieses Gas hat erhebliche Klimaeffekte. Zusätzlich möchte ich auf die Zuwachsraten der Klimagase schauen. Bei CO2 ist ein durchschnittliches Wachstum von ca. 1,5 ppm/Jahr zum Zeitpunkt der Datenerhebung erkennbar. Bei Methan, dem mehrfach wirksameren Klimagas im Verhältnis zu CO2, ist ein Wachstum von 7,0 ppb/Jahr ablesbar, was einem Bruchteil eines ppm entspricht. Die Konzentration der Klimagase im vorindustriellen Zeitraum, also dem Zeitraum des stabilen Klimazustandes der letzten Jahrtausende, gibt eine gute Orientierung, welche Ausgangsparameter bei den Klimagasen im Klimasystem über einen längeren Zeitraum vorhanden waren. Weiterhin ist erkennbar, das bereits im Jahr 1998, dem Referenzjahr für zahlreiche Klimakonferenzen und Klimaanalysen, außergewöhnliche Zuwächse an Gasen in die Atmosphäre zu sehen waren.

In der Langzeitbetrachtung habe ich an den Eisbohrkernmessungen zeigen können, dass über die letzten 800.000–400.000 Jahre das Klima im Bereich einer CO2-Konzentration zwischen ca. 170 und 280 ppm schwankte und einen Maximalwert von ca. 300 ppm annahm, was einer durchschnittlichen Schwankungsbreite (Amplitude von Spitze-Tal) von ca. 110 ppm entspricht (siehe vorherige Abb. 1.4). Diese Schwankungsbreite kann auch als stabiles Systemverhalten des Klimas verstanden werden, was sich in einem Bereich von ungefähr 110 ppm (Spitze-Spitze) globaler CO2-Konzentration über einen langen Zeitraum etabliert hat. Die Periodendauer betrug ca. 100.000 Jahre. Die Temperaturen folgten der CO2-Konzentration oder umgekehrt, was u. a. durch Schwankungen in den Erdbahnparametern, schwankenden Sonnenaktivitäten und Entwicklungen auf der Erde zurückzuführen ist. In den letzten ca. 60 Jahren ist ein exponentielles Wachstum bei der Klimagaskonzentration in der Atmosphäre mit einem Delta von ca. 140 ppm zum langzeitlichen, durchschnittlichen Maximalwert zu beobachten. Rein statistisch ist damit die Schwankungsbreite des langzeitlichen Klimasystems mehr als verdoppelt worden. Die Folge ist damit eindeutig erkennbar, dass das System in einen turbulenteren Zustand übergeht, der sich über einen langen Zeitraum weiterentwickeln wird. Dieser klimatisch wirksame Zeitraum übersteigt bei Weitem die Lebenszeit eines einzelnen Menschen.

Die zivilisatorischen Konsequenzen sind in dieser entstehenden neuen, turbulenteren Phase unserer globalen Umweltbedingungen für alle heute existierenden Völker epochal, sofern ein Volk in diesem langen Zeitraum des grundsätzlichen Wandels unserer Lebensgrundlagen überlebt. Dabei denke ich nicht vorrangig an die rein klimatischen Auswirkungen, sondern an die Folgen von örtlichen Verschiebungen von fruchtbaren Regionen, Fluchtbewegungen, regionale Verschiebungen der Regenmengen, der damit politischen und wirtschaftlichen Veränderungen und anderen zivilisatorischen Änderungen. Eine bisher wenig beachtete Folgewirkung wird auch die sich ändernde Artenvielfalt bzw. die Änderung der Artenzusammensetzung in einer Region sein. In der Konsequenz werden heute seit Jahrhunderten angestammte Gebiete mit bestimmten Umwelteigenschaften neue, andere Eigenschaften erhalten. Wie ich bereits darauf hingewiesen habe, läuft der Vorgang eines Klimawandels in einem für uns Menschen sehr langen Zeitraum ab (nach wissenschaftlichen Erkenntnissen über Jahrhunderte bzw. Jahrtausende). Diesen sehr langen Zeitraum über mehrere Generationen sehe ich als unsere wichtigste Chance an, sich diesen Änderungen im gesamten Existenzbereich einer Kultur anpassen zu können. Ebenfalls gibt dieser lange Zeitraum zusätzlich die Perspektive, die Anpassungen der heute stark bevölkerten und vernetzten Welt mit zahlreichen Völkern untereinander möglichst friedlich vornehmen zu können. Anpassung ist das Grundprinzip des Lebens auf unserem Planeten, auf große Herausforderungen seiner Umwelt/Mitwelt/Lebensgrundlagen reagieren zu können (siehe auch Darwin oder Humboldt). Die heutige Strategie zur Sicherung eines 1,5- oder 2,0-Grad-Ziels in den COP-Konferenzen (COP = Conference of the Parties fast aller Staaten der Welt zur Verabredung von Klimazielen) ist keine Strategie der Anpassung, sondern der Versuch einer Klimakontrolle für eine klimatische Zustandsbewahrung der letzten Jahrtausende. In der Bilanz der letzten 30 Jahre wird jedoch sichtbar, dass diese Zielverfolgung nicht gelungen ist und vermutlich auch im globalen Rahmen weiterhin nicht gelingen wird, was nach diesem Zeitraum endlich als Selbsterkenntnis verstanden werden müsste. Deshalb müssen die nationalen Strategien von einem globalen Anspruch, in dem alle Völker idealerweise gleich handeln werden und damit ein globales 1,5-Grad-Ziel erreicht werden würde, zu einer vernetzten, nationalen Anpassungsstrategie auf allen gesellschaftlichen Ebenen geändert werden! Ein Strategiewechsel von der Verfolgung eines globalen Gradziels hin zu einer globalen, präventiven, zwischen den Staaten vernetzten Anpassung erscheint mir mehr als geboten, er ist zwingend notwendig. Damit gewinnen wir als einzelne Nationen auch Zeit für wirksame und in die Zukunft gerichtete, tragfähige Maßnahmen, die vor dem Hintergrund eines sehr sehr langen Zeitraums des Wandels zukünftigen Generationen hilft, mit neuen Umweltverhältnissen gut leben zu können. Jedes einzelne Volk wird den Wandel erfolgreich bestehen, wenn die Völker den Wandel gemeinsam managen und nicht versuchen, ihre gesamte Kraft auf das Verhindern eines Klimawandels zu konzentrieren.

1.3.1 Wann war der Zeitpunkt, an dem eine vorindustrielle Klimastabilität verlassen wurde?

Die wichtigen Parameter der heutigen Klimadiagnostik sind die globale CO2-Konzentration in ppm (Parts per Million), die globalen Klimagasemissionen in CO2-Äquivalenten (CO2 in Mio. t), die globale Durchschnittstemperatur in °C (Grad Celsius), aber auch die globale Population der Menschen. Diese Daten habe ich in der folgenden Grafik Abb. 1.6 zu einem zeitlich übereinstimmenden Ablauf zusammengeführt (bildliche Analyse). Dabei hat der letzte Parameter im Kontext des globalen Wirtschaftskonzepts, des Kapitalismus, eine besondere Bedeutung, auf die ich später noch genauer eingehen werde. In der Grafik habe ich anhand der mir verfügbaren wissenschaftlichen DatenFootnote 12 die globale CO2-Konzentration, den Temperaturverlauf seit dem Jahr 1750 – seit der vorindustriellen Zeit – und die Population der Menschheit auf unserem blauen Planeten zusammengestellt. Die Kurven sind so aufgetragen, dass eine zeitliche Übereinstimmung gegeben ist und damit eine optische Korrelation möglich wird. Dabei sind für meine Abschätzung eine zeitliche Übereinstimmung, der Kurvenverlauf und der Zeitpunkt, an dem ein Verlauf einer Kurve in einen exponentiellen Verlauf übergeht, wichtig.

In der ersten Übersicht kann aus der Grafik abgelesen werden, dass um das Jahr 1906 eine globale CO2-Konzentration von ca. 290 ppm gemessen wurde. Um das Jahr 1948 wurden ca. 320 ppm rechnerisch ermittelt. Der Anstieg in diesem Zeitraum lag bei ca. 30 ppm (in ca. 50 Jahren 30 ppm entspricht einer Wachstumsrate von 0,6 ppm/Jahr). Im Jahr 2021 lag die globale CO2-Konzentration bei ca. 420 ppm, was einem ungefähren Anstieg von 100 ppm in 70 Jahren entspricht (Wachstumsrate beträgt 1,43 ppm/Jahr). Die Populationskurve folgt dieser exponentiellen Entwicklung ebenfalls um das Jahr 1950. Eine Sonderrolle nimmt in meiner Darstellung die Population ein. Sie soll in dieser Darstellung nicht den Zusammenhang mit dem Emissionswachstum in der Vergangenheit darstellen, weil natürlich die Verteilung der Emissionen pro Nation sehr unterschiedlich war und ist. Eine höhere Population verbraucht mehr natürliche Ressourcen, heute und vor allem in Zukunft. Ein bisher wenig berücksichtigter Zusammenhang ist, dass die globale menschliche Population eine in die Zukunft gerichtete Option jedes einzelnen Volkes enthält, sein Recht auf Wachstum, Wohlstand, Unabhängigkeit sowie ein „gutes Leben“ ebenso wahrnehmen zu können, wie das aller anderen Völker, u. a. wie die der sich ab dem Jahr 1750 entwickelnden und heute den Wandel beherrschenden Industrienationen. Die „alten“ Industrienationen haben mit der Entwicklung ihrer eigenen Völker – der Industrialisierung – hin zu einem „besseren Leben“ begonnen, sich ihren Wohlstand unter sehr großen zivilisatorischen „Entwicklungsschmerzen“ (siehe auch Abschn. 5.2 „Gesellschaftliches Klima im 19ten Jahrhundert: Hintergrund der sich entwickelnden Industrialisierung und des industriell geprägten Kapitalismus“) bis zu dem heutigen Wohlstandsniveau zu erarbeiten. Die Entwicklung der ersten europäischen Industrienationen ist geprägt von einerseits großem menschlichem Leid, Kriegen und starker Konkurrenz der damals bestehenden Herrschaftsgebiete untereinander, andererseits von Wissensentwicklung, Neugierde, Erfindergeist und Mut zu großen Risiken sowie vom Geist der Aufklärung, des Aufbruchs und des Wandels. Dabei war die Entwicklung von Wissen über die Natur und ihre Gesetzmäßigkeiten sowie dessen Nutzung durch die Entwicklung von Ingenieurwissen von zentraler Bedeutung. Diese Entwicklung musste bis heute für andere Völker ein Signal gewesen sein, ähnliche Ziele für ein „besseres Leben“ für sich selbst zu verfolgen. Etwas später werde ich auf diesen Zusammenhang zurückkommen.

Ich möchte die anderen Langzeitkurven wie die Kohlendioxidemissionen, die globale Temperaturentwicklung und die CO2-Konzentration der Abb. 1.6 in die Analyse aufnehmen und etwas genauer betrachten (siehe auch Kapitel 5 „Wie entsteht der globale Wert der CO2-Konzentration“). Im Jahr 1750, vor ca. 270 Jahren, herrschte eine Zeit, in der Europa in zahlreiche (ca. 200) Herrschaftsgebiete aufgeteilt war und das landwirtschaftliche Leben vorherrschte. Es war die vorindustrielle Zeit. Vor der Einführung der realen CO2-Messungen durch den Chemiker Charles David Keeling (1958) konnten durch umfangreiche Messungen an Eisbohrkernen sehr genaue Messungen der globalen CO2-Konzentration vergangener Epochen vorgenommen werden. Dazu wurden aus einem Eisbohrkern die mikroskopisch kleinen Gasblasen aus einer Schicht (zeitliche Epoche) extrahiert und chemisch analysiert. Die graue Kurve im Hintergrund der Abb. 1.6 (CO2-Konzentration) zeigt den gesamten Verlauf dieser Entwicklung bzw. die ermittelten Daten aus den Gasanalysen. Aus dem Verlauf kann abgelesen werden, dass ab ca. dem Jahr 1780 bis ca. 1870 eine Erhöhung der Konzentration gegenüber den Jahren vor 1780 zu sehen ist. Der Verlauf der grauen Kurve blieb ca. 100 Jahre auf einem ähnlichen Niveau. Dieser Entwicklung der Kohlendioxidemissionen läuft die Kurve der CO2-Konzentration mit einem Versatz von einigen Jahrzehnten hinterher und beginnt ihren exponentiellen Anstieg in den Jahren 1955–1960. Dieser Zeitraum, ab dem die Kurven in einen exponentiellen Verlauf übergehen, wäre der relevante und ideale Zeitraum einer globalen Emissionskorrektur gewesen.

Abb. 1.6
figure 6

Das verpasste Zeitfenster, Quelle: Eigene Darstellung. Datenquellen: eigene Berechnungen u. Darstellung „CO2 Emissions worldwhide-owid-co2-data“; Daten: Weltbank, https://databank.worldbank.org/reports.aspx?source=world-development-indicators#, 12.12.2021; Mauna Loa, Observatory, Hawaii, SIO, R. F. Keeling, S. J. Walker, S. C. Piper and A. F. Bollenbacher, https://scrippsco2.ucsd.edu/data/atmospheric_co2/primary_mlo_co2_record.html, 20.11.2021; NOAA National Centers for Environmental information, Climate at a Glance: Global Time Series, from https://www.ncdc.noaa.gov/cag/ 20.11.2021

Aus der Grafik kann zusätzlich die Entwicklung der globalen Temperaturkurve (gelbe und rote Kurve) abgelesen werden. Sie beginnt nicht im Einstiegsjahr 1750, sondern zeitlich erst im Jahr 1880. Die rote Kurve stellt den gleitenden Durchschnitt der Temperatur dar und beginnt deshalb etwas später, zeitlich hinter der gelben Kurve. Die Temperaturkurven stellen die globale Temperatur in Grad Celsius (°C) dar, wobei die y-Skala hier wegen der besseren Sichtbarkeit aufgeweitet ist. Die x-Skala entspricht der dargestellten Zeitskala. Die genaue Temperaturangabe ist hier in diesem Schaubild nicht von Relevanz, sondern ihr Kurvenverlauf! Beide Temperaturkurven wurden aus optischen Gründen in den oberen Bereich der Kurve der CO2-Konzentration verlegt, sodass eine bessere Übersicht aller Kurven gegeben ist. An dem Verlauf kann grafisch abgelesen werden, dass die zeitliche Temperaturentwicklung der CO2- und Emissionsentwicklung mit einem Versatz von ca. 20–25 Jahren hinterherläuft.

Um die Jahrhundertwende (um 1900) ist ein leichter Abfall der globalen Durchschnittstemperatur zu sehen (gelbe und rote Kurve). Erst ab ca. 1910 beginnt die globale Temperatur wieder anzusteigen und erreicht bis 1930 das Niveau des letzten Jahrhunderts. Zwischen 1940 und 1950 erreicht sie einen neuen Höchststand, sinkt über die nächsten Jahrzehnte etwas ab und bleibt recht konstant auf einem etwas höheren Niveau als im letzten Jahrhundert, obwohl CO2-Konzentration und Kohlendioxidemissionen sich bereits seit Jahrzehnten in einem starken Anstieg befinden. Erst ab den 1980er Jahren folgt die globale Temperatur den anderen Kurvenverläufen.

An dem Zehn-Jahres-Trend (gleitender Durchschnitt) der gemessenen globalen Durchschnittstemperatur wird erkennbar, dass mit großer Wahrscheinlichkeit auch weiterhin/zukünftig ein starker Anstieg der globalen Temperatur zu erwarten ist (rote Kurve). Durch den wissenschaftlich sehr gut beschriebenen Zusammenhang von Klimagasen und Erwärmung, die zu einem globalen Treibhauseffekt führen, den weiterhin ansteigenden Klimagasemissionen, weiter ansteigender CO2-Konzentration sowie durch Wachstumseffekte in der menschlichen Population und der Wohlstandsentwicklung/Nahrungsproduktion zahlreicher Staaten, dem Trägheitseffekt des globalen Klimas in Bezug auf Klimagaseintrag und Erwärmung sowie der mindestens 100–200 Jahre anhaltenden Verweildauer von CO2 in der Atmosphäre muss von einem weiteren steil ansteigenden Verlauf bei den Schadstoffparametern und der globalen Temperaturentwicklung ausgegangen werden, was auch einige Modelle/Szenarien des IPCC zeigen. Eine Abflachung der Temperaturkurve oder ein Rückgang auf ein vorindustrielles Niveau ist in den nächsten Jahrzehnten – ich denke auch nicht in dem nächsten Jahrhundert – eher nicht zu erwarten.

In der statistischen Analyse kann eine interessante Entwicklung im Zeitfenster von ca. 1906 bis 1948 beobachtet werden (hellblauer Bereich). In dem oben genannten Zeitraum ist eine leichte Abflachung bei den Emissionen und der Konzentration zu sehen. Dagegen entwickelte sich im gleichen Zeitraum der Temperaturanstieg rasant (Nachlaufeffekt der vorherigen Emissionen?). In dem genannten, kurzen Zeitraum lag die globale CO2-Konzentration bei ca. 290–320 ppm. In der klimatischen Langzeitbetrachtung von 800.000 Jahren stieg die Konzentration auf ein Maximum von 280 bis ca. 300 ppm und fiel anschließend wieder auf seinen bisherigen Grenzzyklus zwischen 170 und 280 ppm zurück. Daraus folgere ich, dass für das damalige Klimasystemverhalten eine Systemtoleranz bei den betrachteten Parametern von ca. 8–14 % angenommen werden kann (Abschätzung). Die Folge aus dieser groben Abschätzung wäre, dass das Klimasystem mit diesen Parametern an Kohlendioxidemission bzw. Emissionen an CO2-Equivalenten und daraus folgender globaler CO2-Konzentration in einem Fenster zwischen 302 und 319 ppm zu seinen ursprünglichen Zyklen von selbst zurückgefunden hätte. Diese Werte entsprächen ungefähr den Angaben im markierten Zeitfenster von 1906 bis 1948 (mit einer Schwankungsbreite von grafisch abgeschätzt ca. zehn Jahren), das ich in der Grafik hellblau markiert habe. Demzufolge hätten nach dem Jahr 1948 (max. plus zehn Jahre) keine zusätzlichen Treibhausgasemissionen in die Atmosphäre gelangen dürfen. Bei der hier vorgenommenen Betrachtung werden die vom Menschen verursachten Kohlendioxidemissionen als beeinflussbare Regelgröße angesehen. Hätte die Menschheit ab dem genannten Zeitraum keine weiteren Emissionen in die Atmosphäre abgegeben, wäre das Klimasystem vermutlich von selbst nach einigen Jahrzehnten in seinen Jahrtausende alten Systemzustand zurückgekehrt. Heute, im Jahr 2021, beträgt die globale CO2-Konzentration ca. 420 ppm, bei einer steigenden Tendenz, und liegt damit weit außerhalb der angenommenen Systemtoleranz bzw. des Grenzzyklus des Klimasystems. Da das Klimasystem eine gewisse Trägheit besitzt, wird sich die hohe Dynamik einiger weniger Systemparameter erst mit einer sehr unterschiedlichen Zeitverzögerung in zahlreichen rückgekoppelten Unter- oder Teilsystemen, wie z. B. dem Wasserdampfhaushalt in der Atmosphäre, den Niederschlägen, lokalen Temperaturen, dem Oberflächenwasser, der Meereserwärmung, der Vegetation etc. vollständig auswirken. Entsprechende Entwicklungstendenzen können jedoch bereits heute beobachtet werden. Die Analyse deutet auf eine weitere Auswirkung hin, dass die Klimadynamik (langer Zeitraum), und in der Folge die lokale Wetterdynamik (kurzer Zeitraum), ansteigen werden oder anders formuliert: Die Dynamik des Klimasystems erhöht sich. Ein weniger bekannter Deutscher Forscher, Hermann Flohn, erkannte bereits 1941: „Mit einem Fortschreiten dieser sehr langsamen Erhöhung der Temperatur … muss gerechnet werden. Damit wird aber die Tätigkeit des Menschen zur Ursache einer erdumspannenden Klimaänderung, deren zukünftige Bedeutung niemand ahnen kann.“

In den letzten 400.000 bis 800.000 Jahren befand sich das Klimasystem in einem gleichgewichtsähnlichen Zustand. Durch die exponentiellen Veränderungen wichtiger Systemparameter, die durch die Menschheit von außen in dieses System seit der Industrialisierung eingetragen wurden, wird das Klimasystem über wenige Jahrzehnte aus diesem lange vorherrschenden Gleichgewichtszustand mit einer heutigen (2021) globalen CO2-Konzentration von ca. 420 ppm katapultiert. Ein weiteres stark ansteigendes Wachstum eines weiteren kritischen Systemparameters ist die Population als Zukunftsindikator für klimawirksame Emissionen. Ein Systemverhalten wie z. B. das Klimasystem in einem exponentiellen Wachstumsbereich zu ändern, ist fast unmöglich bzw. besonders aufwendig, riskant und teilweise unwirksam (Lernkurve), was man bei zahlreichen anderen natürlichen Systemen nachvollziehen kann, u. a. bei einer Virusinfektion mit ebenfalls einem exponentiellen Wachstum und ihrem Verlauf. So verhält es sich auch mit den Maßnahmen zur CO2-Reduktion bzw. dem geforderten Umbau der globalen Gesellschaften und Wirtschaftssysteme zugunsten der Bewahrung klimatischer Verhältnisse eines vorindustriellen Zeitalters. Das Fenster, in dem die globale, menschliche Gesellschaft das über Jahrtausende stabile Klimasystem in seinem Zustand hätte bewahren können, scheint – wie bereits oben beschrieben – in den Jahren von 1906 bis 1948 gewesen zu sein. In diesem Zeitfenster betrug die Population ca. 1,7 bis 2,5 Mrd. Menschen weltweit. Die globalen Kohlendioxidemissionen betrugen ca. 2,6 bis 5,4 (heute ca. 34,8) Gt (Gigatonnen) pro Jahr und die CO2-Konzentration betrug in dem Zeitfenster ca. 290 bis 320 ppm. Durch die Klimasystemträgheit hätten wir als Menschheit diese Werte für noch mindestens 100 bis 200 Jahre als maximale Grenzwerte global einfrieren müssen, um in Zukunft nicht in neue Klimaverhältnisse eintreten zu müssen. Der Weg der Völker war jedoch ein anderer. Das „Warum“ wird in den späteren Kapiteln analysiert.

Heute befinden wir uns in einem exponentiellen Wachstum relevanter Systemparameter des Klimasystems. Durch technische Lösungen versuchen wir, ein imaginäres Ziel von 1,5 bis 2,0 °C globaler Temperaturanhebung zu verfolgen, indem wir in den nächsten Jahrzehnten mithilfe der erneuerbaren Energien (Energiewende) global CO2-neutral werden wollen (Absichtserklärungen der meisten Staaten in den Klimaschutzabkommen). Nach meiner Interpretation der Daten haben wir längst den Zeitpunkt, spätestens in dem Zeitraum von 1948 bis 1955 hinter uns gelassen, an dem wir bereits „den letzten Baum gefällt“ haben (siehe auch Abschn. 1.2). Mit der analytischen Suche nach der langfristigen oberen Systemtoleranz des Klimasystems der letzten 800.000 Jahren habe ich versucht, den Zeitpunkt zu bestimmen, an dem das System von selbst noch in seinen ursprünglichen, stabilen Zustand hätte zurückkehren können. In der Metapher „des letzten Baumes“ aus der Entwicklung der Osterinsel stünden bis zu dieser oberen Grenze noch ausreichend „Bäume“ zur Regeneration des natürlichen System zur Verfügung, sodass sich der „Wald“ hätte selbst erneuern können, sofern keine weiteren „Bäume“ gefällt worden wären, wie es jedoch auf der Osterinsel und in der Analogie zu den Klimagasen erfolgt ist. Die heutigen modernen Klimawissenschaften haben einen klimatischen Kipppunkt für das Jahrzehnt zwischen 2030 und 2040 ermittelt (eine genaue öffentliche Jahresangabe wie z. B. das Jahr 2030 halte ich für höchst problematisch. Die Lesart derartiger, präziser Angaben ist heute in der Öffentlichkeit, den Weltuntergang genau vorhersagen zu wollen/können und damit politischen Druck im gewünschten, eigenen Interesse auszuüben). Dieser offiziell kommunizierte Zeitraum eines Klimakipppunktes wäre in unserer Metapher exakt der Moment, an dem tatsächlich der letzte Baum des Waldes gefällt wird, der jedoch nur den bereits laufenden Wandel in seiner Unumkehrbarkeit für alle offiziell sichtbar machen würde. Damit ist jedoch der Zeitpunkt zur Rückkehr zu einem vorindustriellen Klima in einem für Menschen nachvollziehbaren Zeitraum längst überschritten! Die heutige sich global immer stärker etablierende Strategie einer nationalen CO2-Neutralität mit der Präferenz des Einsatzes technischer Lösungen, u.a. der Energiewende, sowie der Verfolgung eines maximalen globalen Temperaturanstiegs von 1,5 °C (Pariser Klimaabkommen) ist deshalb vollkommen verfehlt. Sie stellt eher den Versuch einer Bindung von besonderen Hoffnungen von Milliarden, vor allem junger Menschen dar, einer für diese Zielverfolgung gigantischen Kumulation an Ressourcen und der Ignoranz erheblicher globaler Risiken innerhalb der Völker und ihrem Konkurrenzverhalten untereinander, sowie der wirtschaftlichen Systeme. Auf Basis der Strategie der international als Begriff bekannten Energiewende erscheint diese internationale Zielsetzung unrealistisch, ein fataler Irrweg. Bei einer genaueren Betrachtung des Begriffs Strategie in dem gesetzten Kontext erweist sich jedoch die damit verbundene klare Zielsetzung, ihre konsequente Verfolgung und das damit verbundene planhafte Vorgehen als eine substanzlose Betitelung.

Die alten Industrienationen hatten ihre Industrialisierung vor ca. 250 bis 220 Jahren begonnen. Sie sind heute erneut die Staaten, die eine neue Epoche des Wandels (Initiator und Vorreiter in der Klimaanalyse, deren Datenbeschaffung, Interpretation der Daten, Schlussfolgerungen mit Klimazielen und Produktangeboten zur Entwicklung von Staaten hin zur Klimaneutralität) einleiten, die global einen ähnlichen Zeitraum benötigen wird, wie die Industrialisierung mit ca. 200 Jahren Entwicklungszeit selbst. Heute hätten wir, die Menschheit, jedoch das Wissen und die Fähigkeiten, eine derartige globale Entwicklung aktiv zu gestalten, um die in der Entwicklungsgeschichte der Industrialisierung durchlebten verheerenden gesellschaftlichen Verwerfungen zu vermeiden. Genau diese Fähigkeiten nutzen wir zurzeit jedoch nicht. Damit unterscheiden wir uns in dem grundlegenden Verständnis über die Verzahnung unserer heutigen und zukünftigen Wohlstandsentwicklung und der Nutzung der natürlichen Ressourcen offenbar noch nicht von der gesellschaftlichen Entwicklung der Klans auf der historischen Osterinsel.

Der sich heute entwickelnde gesellschaftliche Mechanismus im Umgang mit dem (Klima-)Wandel auf allen Ebenen ist noch unfertig und muss sich weiter entwickeln, damit die Chancen und Risiken in diese notwendigen Fähigkeiten zur bewussten Gestaltung dieses Wandels eingebracht werden können. Der Mechanismus kann kurz in dem sich entwickelnden Ablauf zusammengefasst werden: Die Menschheit verursacht klimaverändernde Emissionen zugunsten einer globalen Wohlstandsentwicklung. Damit verändert sie global ihr Umweltsystem, von dem sie abhängig ist. Diese Änderungen sind sehr langfristig und übersteigen die Lebenszeit einzelner Menschen und damit ihren Erfahrungshorizont. Diese nicht bewusst beabsichtigten, selbst verursachten Änderungen des natürlichen Umweltsystems birgt langfristige für die Wohlstandsentwicklung der Völker neue Chancen, ein anderes Wachstum und neuen Wohlstand generieren zu können. Die Umweltänderungen werden in Zukunft global stark zunehmen, so wie sich immer unser Trabant verändert hat. Das Bewusstsein der Völker, sich diesen neuen Bedingungen zu stellen, steigt. Damit steigt auch global eine Bereitschaft, neue Produkte zur Anpassung bzw. vermeintlichen Verhinderung der Umweltveränderungen einzukaufen. Auf Basis dieser Mechanik werden die Völker in Zukunft von diesem Wandel profitieren, die ihn verstehen und Produkte für andere Völker zur Anpassung an diesen Wandel zur Verfügung stellen können. Produkte zur vermeintlichen Verhinderung dieses (Klima-)Wandels werden nur eine geringe Zukunft haben. Windräder und PV-Anlagen erscheinen vor diesem Hintergrund eher als Übergangstechnologie, deren problematische Abhängigkeiten von ihren Standorten in einem sich ändernden Klimasystem in den späteren Kapiteln noch genauer betrachtet werden. Somit ist eine Entwicklung einer grundlegenden Strategie zur Anpassung ganzer Nationen dringend notwendig.

Deshalb wäre die Entwicklung einer dem Begriff Strategie würdigen Grundsatzvereinbarung auf globaler Ebene notwendig, in der der Klimawandel als eine zukünftige Änderung unserer Lebensverhältnisse über mehrere Generationen von allen Regierungen verstanden und kommuniziert werden müsste. Da der Klimawandel alle Völker betrifft, wäre die Entwicklung einer vernetzten, abgestimmten Strategie zur globalen kooperativen Anpassung der Völker notwendig. Sie würde damit dem Grundprinzip allen Lebens, das der Anpassung an sich ändernde Umweltverhältnisse, in den Handlungsmittelpunkt stellen. Beispiel: Ändern sich zukünftig die alt angestammten Anbaugebiete für Nahrungsmittel in einem Land oder Region, werden die sich ändernden Umweltverhältnisse bei ärmeren Völkern zu Wanderungsbewegungen/Flüchtlingsströmen führen. Bei reicheren Völkern werden in den Regionen wirtschaftliche Veränderungen stattfinden, die dann zu Wohlstandsverlusten bzw. einer Verarmung der örtlichen Landwirtschaft führen können/werden. Ein präventives Handeln der Regierungen aller Völker im Rahmen einer abgestimmten Strategie (anstelle eines Klimaabkommens, in dem als Ziel eine maximale globale Temperaturabweichung vereinbart wird) würde diese Entwicklung durch Anpassungen der Versorgungsströme, Unterstützungsleistungen und Ausgleichshandlungen zwischen den betroffenen Völkern bzw. Regionen regeln und damit heute bereits für die Zukunft absehbar zunehmende Konflikte verhindern, damit aber auch den Grundsatz der Unveränderbarkeit heutiger territorialer Grenzen sichern helfen. Dieser Ansatz könnte, ähnlich dem Völkerrecht, als ein Teil einer Neue Charta der Nationen entwickelt und ständig den sich ändernden Umweltbedingungen bzw. sozialen Bedingungen ganzer Regionen angepasst werden – ein lang anhaltender, stetiger Vorgang über Generationen und damit dem zeitlichen Verlauf des Klimawandels entsprechend. Die Charta könnte u. a. folgende Themenfelder enthalten:

  • neue Sicherheits- und Verteidigungsstrategien, die die sich ändernden klimatischen Verhältnisse inkludieren (wie ändern sich die Machtverhältnisse z. B. im Nahen Osten mit den Ölreserven, wenn Rohöl und/oder Erdgas nicht mehr genutzt werden bzw. keinen Markt mehr finden);

  • neue Strategien für sich fundamental ändernde Produktionsvoraussetzungen in der Industrie für eine globalisierte Weltwirtschaft mit vernetzten Lieferketten;

  • „Umsiedlungsprojekte“ ganzer Landwirtschaftsregionen zur Sicherung der Nahrungsmittelproduktion unter neuen klimatischen Bedingungen (Versteppung, Wasserknappheit, Pflanzen- und Insektensterben, …);

  • langfristig angelegte Umsiedlungsstrategien zur Vermeidung großer Wanderungsbewegungen ganzer Gesellschaften inkl. des darin enthaltenen Destabilisierungspotenzials in den Zielnationen;

  • Strategie zur Erschließung neuer Territorien in anderen Ländern für zukünftig klimatisch bedrohte Gebiete und Völker;

  • Wassersicherungsstrategien zur Versorgung von gefährdeten Gebieten, zur Anpassung an Wasserknappheit in heute gut versorgten Gebieten wie auch Strategien bei einem Wasserüberschuss;

  • Entwicklung von Ersatzprodukten schwindender natürlicher Produkte, wie z. B. Rohstoff Holz und anderes;

  • etc.

Es ist zu befürchten, dass bei einer weiterhin nicht vorhandenen, fundierten, globalen „Transformationsstrategie“ die nationalen Interessen unter dem Anpassungsdruck eines sich ändernden Klimas zwangsläufig zu Kriegen zwischen verschiedenen Völkern führen werden. Diese Konsequenz ist bereits heute eine zukünftige Option und wäre im globalen Kampf der Nationen auch folgerichtig. Eine Strategie auf der Ebene der UN zu entwickeln, die die Einleitung eines langsamen und vorsichtigen Umbaus der globalen Märkte als Wohlstandsbasis auf die absehbaren neuen Klimaverhältnisse vornehmen würde, hätte eher eine realistische Chance, die im Klimawandel enthaltenen Risiken zu minimieren, als die in den heutigen Proklamationen (1,5-Grad-Ziel) enthaltene Saat der zukünftigen Enttäuschung großer Bevölkerungsgruppen, mit dem darin innewohnenden Destabilisierungspotenzial ganzer Staaten.

Bereits heute haben Forscher die durch den Klimawandel auf uns zu kommenden Gefährdungspotenziale von verschiedenen Regionen auf der Weltkarte kartiert. Auf dieser Basis können heute Strategien für die in diesen Regionen angesiedelten Völker entwickelt werden, um den erlangten Lebensstandard in Zukunft erhalten zu können und damit Konflikte zu vermeiden. In der Konsequenz wird auch ein zweifelhaftes Ziel verlassen, die globale Erwärmung zu stoppen (Verhinderungsstrategie) und eine progressive Entwicklung angestoßen, den erreichten Wohlstand für die in den betroffenen Regionen angesiedelten Völker langfristig zu erhalten (Anpassungsstrategie).

Damit wir den zeitlichen Anforderungen von Jahrhunderten eines sich ändernden Klimasystems gerecht werden, müssen andere Strategien gefunden werden, die die globale Gesellschaft auf ein neues Klima in den nächsten 100 bis 500 Jahren einstellt bzw. anpasst. Die bisher ungelöste und verdrängte Frage ist die Zeitdimension dieses erzwungenen gesellschaftlichen Wandlungsprozesses, wie wir einen bewusst eingeleiteten Umbau aller auf dem Globus existierenden Gesellschaften über Jahrhunderte konfliktfrei verankern können. Bei sich weiter verändernden klimatischen Verhältnissen in verschiedenen Regionen dieser Welt werden im Rahmen der heutigen politischen Verhältnisse die nationalen Prioritäten und Egoismen im Vordergrund stehen. Eine arbeitsteilige Nutzung von global verteilten Ressourcen kann zukünftig unter geänderten klimatischen Bedingungen zu neuen Abhängigkeiten und Begehrlichkeiten konkurrierender Staaten führen (u. a. neue Handelsrouten z. B. durch das Polarmeer), was zur Änderung des heutigen Status quo in der globalen Machtbalance führen wird. Im Kapitel 4 „Gesellschaftsphänomen Klimawandel und die Sicherheitspolitik“ wird diese Entwicklung genauer analysiert. Der Glaube, mit dem heutigen Konzept der Energiewende den zukünftigen Herausforderungen einer globalen Klimaänderung begegnen zu können, damit eine sich bereits entwickelnde Erderwärmung stoppen zu können oder sogar ohne eine wirkliche Strategie auf einer nationalen Ebene der Generationenherausforderung begegnen zu wollen, ist das tieferliegende und gefährlichere Problem des Klimawandels.