VALIE EXPORT: Der Körper ist das Mittel

Die Kunst der 1960er Jahre war geprägt von zwei radikalen Bestrebungen: der Suche nach einer puritanischen Medienspezifität, die letztlich zum Weg des Minimalismus führte, und erweiterten und konzeptuellen Praktiken, die die autonomen Realitäten der traditionellen Medien durch neue, erweiterte Realitäten ersetzten. Die einen stellten eine ontologische Herausforderung für die traditionellen Medien dar, indem sie sich gegen die Bedeutung richteten und auf einen Nullpunkt der Repräsentation hinarbeiteten. Die anderen stellten eine existenzielle Herausforderung dar, indem sie nach neuen Bedeutungszusammenhängen suchten und neuartige Beziehungen zwischen dem Kunstobjekt und dem, wofür es stand, entfalteten. Die Rolle der Künste in der Gesellschaft wurde von beiden Lagern in unterschiedlicher Weise in Frage gestellt, wobei die materiellen Belange im Vordergrund standen: traditionelle Materialien als Gegenstand der Kunst gegenüber neuen materiellen Überlegungen. VALIE EXPORTs Körperkunst, die Film, Video, Fotografie, Installation und Performance umfasst, entsprach der erweiterten Suche, die ihrer Auffassung nach ein Mittel zur Umgehung des patriarchalischen Würgegriffs in Gesellschaft und Kunst war. EXPORT, eine der bedeutendsten feministischen, Medien- und Performance-Künstlerinnen des 20. Jahrhunderts, nutzte Fotografie und Film als Mittel zur Dokumentation, Archivierung, Komposition und Konzeptualisierung. Dies wird in einer großen Retrospektive bei C/O Berlin vom 27. Januar bis 21. Mai 2024 präsentiert.

 

ASEMIE – DIE UNFÄHIGKEIT, SICH DURCH MINENSPIEL AUSZUDRÜCKEN, 1973, courtesy Galerie Thaddaeus Ropac and the artist, © VALIE EXPORT

Der Medientheoretiker Peter Weibel, Mitarbeiter und Partner von EXPORT in den 1960er Jahren, stellte fest: „Der menschliche Körper selbst ist das Kunstwerk, das Material.” Der Körper spielt in der gesamten Praxis von EXPORT und in ihren theoretischen Schriften eine zentrale Rolle. In der inszenierten feministischen Aktion ASEMIE – DIE UNFÄHIGKEIT, SICH DURCH MINENSPIEL AUSZUDRÜCKEN (1973) gießt EXPORT heißes Wachs zunächst auf einen Vogel und anschließend auf ihre eigenen Füße und Hände, bevor sie sich mit einem Messer im Mund freischneidet. Hier zeigt sie, dass Kommunikation für Frauen durch Sprache, Zeichen oder Symbole unmöglich ist. „Es war nicht möglich, ‚seine Worte zu finden‘, weil die Worte den Männern gehörten“, schrieb sie. In ähnlichen Aktionen aus dem Jahr 1973, die die Erfahrung von Schmerz in den Mittelpunkt stellten, wie HYPERBULIE und KAUSALGIE, übte EXPORT negative Kritik an der geschlechtsspezifischen Unterwerfung und den strafenden Normen der Gesellschaft, die auf den Körpern nicht konformer Frauen lasten. Amateurfotografen und Filmemacher begleiteten diese Aktionen, um ihre Dokumentation für die Nachwelt zu erleichtern. Die Präsentation dieser Werke in Ausstellungen stützt sich auf diese Aufnahmen sowie auf textliche Ausarbeitungen. Das Gleiche gilt für die Expanded-Cinema-Performances der 1960er Jahre, ihre berühmtesten Werke – TAPP UND TASTKINO (1968) und AKTIONSHOSE: GENITALPANIK (1969). Diese provokativen Werke ermöglichten den physischen und visuellen Zugang zu den Geschlechtsorganen der Künstlerin und verweigerten damit die eine wesentliche Voraussetzung für das männliche voyeuristische Vergnügen, das durch gesellschaftliche Tabus und Zensur gedeckt ist – die Privatsphäre. Sie verlegten den Ort der Erfahrung in die Öffentlichkeit.

 

TAPP UND TASTKINO, 1968, The ALBERTINA Museum, Vienna – The ESSL Collection © VALIE EXPORT, VG Bild-Kunst, Bonn 2023; Photo: Werner Schulz

 

Die Verwendung von Fotografie und Film zu Dokumentationszwecken war auch bei den an Happenings und Land Art beteiligten Künstlern üblich. Doch die mechanische Reproduktion war nicht die einzige Verwendung von Fotografie und Film bei EXPORT. Das beweisen ihre selteneren konzeptuellen Fotografien – das Herzstück der Ausstellung – und einige ihrer Kurzfilme. EXPORT verwendet in der bemerkenswerten Fotoserie AUS DEM GEOMETRISCHEN SKIZZENBUCH DER NATUR: ONTOLOGISCHER SPRUNG I – III (1974) das Bild innerhalb eines Bildschemas. Zunächst fotografiert sie ihre Füße auf Sand in Schwarz-Weiß von oben. Dann stellt sie sich neben ihre Füße und fotografiert sie erneut in Farbe. Schließlich (re)fotografiert sie das zweite Foto mit ihren Füßen auf ähnliche Weise und mit einer eigenartigen Verschiebung. Ihre Füße ruhen nun im Inneren auf einem Teppich. EXPORT zeigt auf, wie Reproduktion funktioniert und wie sich der Körper, sein Bild, der kulturelle Raum als Determinante des Bildes und die Natur gegenseitig beeinflussen.

 

VARIATION C aus der Serie KÖRPERKONFIGURATIONEN, 1972 © VALIE EXPORT / Artists Rights Society (ARS), New York / VBK, Austria

Natur und Landschaft spielen auch in anderen konzeptionellen Ausgrabungen der Fotografie eine wichtige Rolle, wie etwa in GLASPLATTE MIT SCHUSS aus dem Jahr 1972. EXPORT hält in der Landschaft einer belgischen Düne eine Glasplatte mit einem Loch, das auf vier Fotografien die Augen, die Stirn, die Brüste und die Genitalien der Künstlerin zeigt. Dieses Werk, das an die bahnbrechenden „Spiegel-in-der-Landschaft”-Arbeiten von Joan Jonas erinnert, bevor es zum Klischee wurde, unterstreicht durch seine spielerische Interpretation des Schießens – mit einer Kamera und einem Gewehr – auf eindrucksvolle Weise das schiefe Machtverhältnis zwischen dem Fotografen und dem Subjekt, in das der Blick eindringt anstatt reflektiert zu werden. Die Krönung dieser reichen Periode ist zweifellos die Serie KÖRPERKONFIGURATIONEN (1972-1982). Darin besetzen EXPORT oder ein Modell mit ihren Körper Landschaften und architektonische Strukturen der Nachkriegszeit in Wien, die manchmal mit geometrischen Mustern überlagert sind. Diese Arbeiten drücken innere Zustände aus und befragen die Beziehung zwischen Körpersprache und Umgebung. In seltenen nicht-körperlichen Fotoserien wie STUDIE ÜBER BEWEGTE WEG BILDER (1970/1972) und ZEITGEDICHT / 24 STUNDEN 24 MAL FOTOGRAFIERT (1970) erforschte EXPORT die Intervallfotografie, um die natürliche und urbane Topografie zu verzeitlichen, die filmisches Denken widerspiegelt.

 

Die leicht verstörende Installation FRAGMENTE DER BILDER EINER BERÜHRUNG (1994) überzeugt weniger durch ihren filmisch-allegorischen Anspruch. Sie besteht aus Flüssigkeiten und Elektrizität und ist durchaus sehenswert – auch wenn sie nicht ganz so beeindruckt wie die anderen Werke der Ausstellung. Die 18 Glühbirnen und die Flüssigkeiten mit unterschiedlicher Transparenz, in die sie eintauchen, haben eine schwache referenzielle Bindung an die Projektionsgeschwindigkeit von Film und Filmstreifen. Sie sind großzügig im Erdgeschoss der Ausstellung in der Posthalle installiert.

 

SYNTAGMA , 1983, courtesy Galerie Thaddaeus Ropac and the artist, © VALIE EXPORT

In den 1970er und 1980er Jahren hat EXPORT das Filmemachen selbst zu einem zentralen Bestandteil ihrer künstlerischen Aktivitäten gemacht. Der 16-mm-Film war für EXPORT ein zentrales Medium. REMOTE REMOTE… (1973) zeigt die Selbstverstümmelung eines weiblichen Körpers. Im Vordergrund steht ein Foto von missbrauchten Kindern aus einem Polizeiarchiv. Der Film ist digital auf einem Monitor im Erdgeschoss installiert. Das Blut, das aus den Fingern fließt, die von der Gewalt zeugen, wird in Milch getaucht, die mütterliche Quelle der Ernährung. Der symbolisch aufgeladene Film veranschaulicht, wie viele der Aktionen und Fotografien, eine verletzte weibliche Psyche unter patriarchalischem Zwang. In SYNTAGMA (1983), einer Kurzfilmreihe, die im Vorführraum des Veranstaltungsortes gezeigt wurde, fotografierte EXPORT Ritzellöcher. Mit dieser Arbeit weist  sie auf die gegenseitige Abhängigkeit von Material und Gegenständlichkeit im Film hin. Sie setzte eine Vielzahl formaler Bildmanipulationen wie Überlagerungen, Spiegelungen und Aufspaltungen ein, um konventionelle Identifikationen zu problematisieren. Außerdem stellte sie ihre Fotografien aus den Serien AUS DEM HUMANOIDEN SKIZZENBUCH und KÖRPERKONFIGURATIONEN in ein narratives Feld. SYNTAGMA ist die filmische Verkapselung schlechthin von EXPORTs konzeptionell dichter fotografischer Arbeit, die sich mit Perspektive, Ausschnitt und Verzeitlichung befasst.