Moderne Kunst und „Des Kaisers neue Kleider“

Fragen Sie jeden Schriftsteller: Oft kommen die tiefgreifendsten Einsichten erst nach Ende eines Interviews, wenn das Notizbuch geschlossen und das Aufnahmegerät ausgeschaltet ist, und oft, wenn das Gespräch völlig vom Thema abweicht.
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Auf einer Illustration von Hans Tegner aus dem Jahr 1853 präsentiert sich der Kaiser stolz in seinen neuen Kleidern.Foto: Public Domain
Von 12. Mai 2024

Genau das ist mir letztes Jahr passiert. Ich hatte gerade ein faszinierendes Interview in London mit einer angesehenen Kunstsammlerin aus einer renommierten Kunstsammlerfamilie geführt. Als ich zusammenpackte, fragte mich meine Gesprächspartnerin, wohin ich als Nächstes gehen würde.

Ich hatte ein Ticket für die Besichtigung der Painted Hall im Old Royal Naval College in Greenwich gebucht – ein prächtiger barocker Festsaal, den der britische Künstler Sir James Thornhill in 19-jähriger Arbeit ausmalte. Der Saal selbst wurde vom Architekten Sir Christopher Wren entworfen.

Falls Sie noch nicht davon gehört haben, haben Sie den Saal vielleicht schon im Fernsehen gesehen, da er häufig in Filmen und Kostümdramen im Fernsehen zu sehen ist.

Ich bin nicht mehr dort gewesen, seit er umfassend restauriert worden ist. Und als ich meiner Interviewpartnerin sagte, dass ich dorthin fahren würde, erfüllte mich der Gedanke, den Saal zu sehen, mit so viel Freude, dass mir die Tränen kamen.

Die Painted Hall im Old Royal Naval College in Greenwich, London, in der Hunderte Figuren auf Sir James Thornhills Gemälden zu sehen sind: eine Hommage an die britischen Monarchen und die Macht der Marine und des Handels. Foto: James Brittain

Es war einer dieser wundervoll unerwarteten Momente, die einen völlig aus dem Konzept bringen. Leicht verlegen erklärte ich meine Gefühlsreaktion: Viele der traditionsreichen Kunstgalerien und -museen werden inzwischen so sehr von moderner Kunst dominiert, dass unser einstiges Kulturerbe der Bildenden Künste zugunsten von Kunst mit politisch korrekter Agenda vielerorts verdrängt worden ist.

Der Gedanke, traditionelle Kunst und Architektur zu sehen, ohne sich durch den Rest wühlen zu müssen, war wie ein Aufatmen.

Meine Gesprächspartnerin verstand dies und bemerkte: „Es ist wie ‚Des Kaisers neue Kleider‘.“

1849 illustrierte Vilhelm Pedersen den Kaiser, der in seinen magischen neuen „Kleidern“ durch die Straßen paradiert, für Hans Christian Andersens „Des Kaisers neue Kleider“. Foto: Public Domain

Die Wahrheit sagen oder das Gesicht wahren

Sie erinnern sich sicher an das Märchen von Hans Christian Andersen: Es war einmal ein Kaiser, der liebte neue Kleider so sehr, dass er Kleider für jede Gelegenheit hatte. Der Kaiser war so besessen davon, neue Kleider zu kaufen, dass er sich wenig um seine offiziellen Pflichten kümmerte, es sei denn, er konnte sie dafür nutzen, seine neuen Kleider zu präsentieren.

Zwei Betrüger hörten von der Besessenheit des Kaisers und gaben sich als Weber aus. Sie behaupteten, prächtige Kleider weben zu können, besser, als sie der Kaiser je gesehen hätte. Sie seien nicht nur atemberaubend, sondern der Stoff hätte auch eine besondere Fähigkeit: Er würde für alle unsichtbar sein, die entweder dumm sind oder für ihre Aufgabe ungeeignet.

Der Kaiser war beeindruckt: Er konnte neue Kleider bekommen und gleichzeitig erfahren, welche seiner Beamten ungeeignet für ihr Amt waren. Die Betrüger machten sich an die Arbeit. Sie versteckten die feinen Seiden- und Goldfäden, die sie zur Herstellung des Stoffes erhalten hatten, und gaben vor, zu weben. Die Klick-Klack-Geräusche der leeren Webstühle waren Tag und Nacht zu hören.

Der Kaiser wollte wissen, wie der Stoff aussah, und schickte seinen ehrlichsten Beamten zu den Webern. Der Beamte beobachtete die Weber bei der Arbeit an den Webstühlen, konnte aber keinen Stoff sehen. Er wusste, dass das Material für jeden unsichtbar ist, der untauglich oder dumm war. Da er nicht dumm war, vermutete er, dass dies bedeuten musste, dass er für seine Arbeit ungeeignet war.

Verwirrt kehrte er zum Kaiser zurück und berichtete ihm, was er gefunden hatte. Er sagte, er habe die feinsten Stoffe mit den exquisitesten Mustern gesehen. Er gab nicht zu, dass er den Stoff nicht sehen konnte, denn das hätte bedeutet, dass er für seine Aufgabe ungeeignet war.

Auch andere Beamte konnten den Stoff nicht sehen, aber alle taten so, als ob sie ihn sehen konnten, aus Eitelkeit oder aus Angst, dumm dazustehen oder ihren Job zu verlieren. Obwohl der Kaiser den Stoff ebenfalls nicht sehen konnte, war auch er der Meinung, der Stoff sei prächtig, weil alle Beamten, denen er vertraute, behaupteten, sie könnten ihn sehen. Schon bald waren die prächtigen neuen Kleider des Kaisers mit ihren magischen Fähigkeiten in aller Munde und jeder wollte sie sehen.

Der Kaiser trägt stolz seine neuen Kleider zur Schau, während seine Adligen die Schleppe des Umhangs tragen. Um sich selbst nicht bloßzustellen, spielen alle Bürger die Scharade anscheinend fröhlich mit. Illustration von Hans Tegner aus dem Jahr 1853. Foto: Public Domain

Für den Kaiser wurde eine Prozession veranstaltet, um seinem Volk seine neuen Kleider zu zeigen. Der Kaiser zog sich aus, und die Weber taten so, als ob sie ihn in all seine neuen Kleider kleideten. Sie erzählten sogar den Beamten, dass der Mantel eine Schleppe habe, die die Beamten gerne zu tragen vorgaben.

Als der Kaiser und sein Gefolge durch die Straßen zogen, jubelte sein ganzes Volk über die schönen Kleider. So etwas hatte man noch nie gesehen. Keiner wollte zugeben, dass er die Kleider nicht sah, denn das hätte bedeutet, er sei ein Idiot oder untauglich. In der ganzen Stadt waren alle voll des gleichen Lobes.

Plötzlich hörte man eine kleine Kinderstimme sagen: „Aber der Kaiser hat doch gar keine Kleider an.“ Das Geflüster des Kindes hallte durch die ganze Stadt und rüttelte die Menschen auf. Das Kind hatte recht: Der Kaiser hatte keine Kleider an.

Selbst als der Kaiser von seinem Volk die Wahrheit erfuhr, beschloss er, seinen Kopf hochzuhalten und die Prozession mit seinen Beamten fortzusetzen, die die Schleppe des unsichtbaren Umhangs hochhielten.

Aus der Analogie meiner Gesprächspartnerin verstand ich Folgendes: Nur weil ein großer Teil der Bevölkerung glaubt, dass etwas richtig und gut ist, muss es das nicht unbedingt sein. Das Kind in „Des Kaisers neue Kleider“ sprach aus seiner Unschuld heraus, weil das Kind die Wahrheit wissen wollte.

Die Idee, die moderne Kunst mit „Des Kaisers neue Kleider“ zu vergleichen, gefällt mir sehr.

Des Kaisers neue Kleider entlarven

Früher habe ich geglaubt, dass alles Kunst ist. Jetzt weiß ich es besser.

Meine Vorstellung entstand aus einer aufrichtigen Ehrfurcht vor allem Lebendigen, sodass dieses Konzept „Alles ist Kunst“ für mich Sinn ergab.

Mir war jedoch nicht bewusst, dass sich die Vorstellung „alles ist Kunst“ an dem Werk des französischen Konzeptkünstlers Marcel Duchamp orientiert, der oft mit der Dada-Bewegung in Verbindung gebracht wird, die zur Entweihung der traditionellen westlichen Kunst beigetragen hat.

Welche Rolle Duchamp bei der Entweihung der Kunst spielte, würde den Rahmen dieses Artikels sprengen, aber wenn Sie mehr darüber erfahren möchten, lesen Sie bitte Kapitel 11 der Epoch Times-Publikation „Wie der Teufel die Welt beherrscht“.

Duchamp schuf eine Anti-Kunst-Bewegung, indem er Kunst machte, die den Konventionen der traditionellen Kunstpraxis zuwiderlief. So stellte er beispielsweise Alltagsgegenstände aus, die er „Readymades“ nannte, wie ein umgedrehtes Urinal mit dem Titel „Fountain“, dessen Nachbildung in der Tate Modern in London zu sehen ist.

Duchamp erklärte: „Ein normaler Gegenstand kann durch die bloße Wahl eines Künstlers zu einem Kunstwerk erhoben werden.“ Im Wesentlichen sagte er damit: Alles ist Kunst – wenn ein Künstler es so sagt.

Diese Sichtweise verlagert den Schwerpunkt vom Künstler als einem Virtuosen, der Gottes Schöpfungen abbildet, hin zu einem falschen Götzen, der glaubt, dass sein Standpunkt wichtiger ist als das Werk selbst.

Duchamps Ideologie weicht von der Definition des Künstlers aus dem 16. Jahrhundert ab. Laut der Website Etymonline ist damit eine Person gemeint, „welche die schönen Künste pflegt“. Die traditionellen schönen Künste, wie sie in der Renaissance definiert wurden, sind Malerei, Bildhauerei und Architektur.

Interessanterweise bezieht sich das „schön“ in „schöne Künste“ nicht auf das Aussehen und den Grad der Perfektion des Kunstwerkes, sondern bedeutet, dass der Künstler seine Werke in einer rein traditionellen abendländischen Kunstdisziplin geschaffen hat, so der Philosoph David Clowney in einer 2011 erschienenen Ausgabe von „The Journal of Aesthetics and Art Criticism“.

Die Rückwand der Painted Hall in Greenwich, London. Foto: James Brittain

Der verstorbene Philosoph Roger Scruton hat diese Definition erweitert und in seinem Buch „Beauty“ erklärt, „dass wahre Kunst ein Appell an unsere höhere Natur ist, ein Versuch, jenes andere Reich zu bestätigen, in dem eine moralische und spirituelle Ordnung vorherrscht“.

Wenn ein Künstler moralische und spirituelle Szenen malt, muss er in der Lage sein, nicht nur das oberflächliche Geschehen wiederzugeben, sondern auch den Wesenskern des gesamten Motivs zu erfassen. Und wenn Künstler solchermaßen aufrechte Themen malen, werden ihre Bilder von diesen Eigenschaften durchdrungen.

Wahre Kunst spricht zur Seele

Daher ist es nur logisch, dass Kunstwerke, die mit einer aufrichtigen Geisteshaltung gemalt werden und die besten moralischen und geistigen Themen verkörpern, einen Menschen zu Tränen rühren können. Das ist der Grund, warum wahre Kunst unsere Seele anspricht, und wenn die Seele berührt wird, ist das etwas, das Worte nicht so leicht vermitteln können.

Wenn die Kunst dagegen verkommene Themen wie ein Pissoir oder flüchtige Themen wie menschliche Gefühle und Wünsche außerhalb eines geistigen oder moralischen Kontextes wiedergibt, dann kann diese Kunst nur eine negative Wirkung auf den Betrachter haben. Ein Gemälde, das von diesen Eigenschaften durchdrungen ist, stellt kein Gemälde dar, das die schönen Künste kultiviert.

Es verstärkt die negativen menschlichen Emotionen im Zeichen der Unzufriedenheit und sollte nicht auf der Leinwand verewigt werden. Gemälde, die Emotionen, Wünsche oder egoistische Handlungen festhalten, wirken wie Momentaufnahmen eines Augenblicks, ohne eine Konsequenz aufzuzeigen, aus der wir lernen oder unseren Charakter verbessern können. In der wahren Kunst wie auch im wirklichen Leben hat jede Handlung eine Konsequenz.

Moderne Kunst ist sinnlos

Gute Kunst folgt diesem Sinn und dieser Ordnung: Sie fördert das Gute, leitet unsere Moral und inspiriert uns, besser zu werden. Sie verkörpert die daraus entstehende Vernunft. Folglich: Gute Kunst ergibt Sinn.

Aber moderne Kunst, die von den Werten der traditionellen abendländischen Kunst abweicht, ist sinnlos. Sie verkörpert das Irrationale, das Sensationelle und das Emotionale; sie ist ohne Ratio – Ratio im wahrsten Sinne des Wortes: seinen Verstand – die Vernunft – gebrauchen, statt sich von Emotionen leiten zu lassen und damit ein durch Denken bestimmtes geistiges menschliches Vermögen zur Erkenntnis.

Daher fällt Kunst im Sinne von Duchamp in die Kategorie „Des Kaisers neue Kleider“. Ich glaube, dass die meiste nicht-traditionelle Kunst, die ab der Zeit der Impressionisten (ab etwa 1860) geschaffen wurde, ebenfalls in diese Kategorie fällt.

Wahre Kunst führt den Betrachter immer zum Guten, und Kunst mit einem anderen Ziel ist vergleichbar mit „Des Kaisers neue Kleider“.

Über den Autor:

Lorraine Ferrier schreibt für Epoch Times über Kunst und Kunsthandwerk. Sie konzentriert sich auf Künstler und Kunsthandwerker, vor allem in Nordamerika und Europa, die ihre Werke mit Schönheit und traditionellen Werten verbinden. Sie ist besonders daran interessiert, die seltenen und weniger bekannten Kunstwerke ins Bewusstsein zu rücken, in der Hoffnung, dass wir unser traditionelles Kunsterbe bewahren können. Sie lebt und schreibt in einem Vorort von London in England.

Dieser Artikel erschien im Original auf theepochtimes.com unter dem Titel: “Modern Art and ‘The Emperor’s New Clothes’. (deutsche Bearbeitung nh)

Dieser Beitrag stellt ausschließlich die Meinung des Verfassers dar. Er muss nicht zwangsläufig die Sichtweise der Epoch Times Deutschland wiedergeben.


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