Darum durften Frauen früher nicht allein in Kassel spazieren gehen
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Darum durften Frauen früher nicht allein in Kassel spazieren gehen

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In der Pandemie gingen vor allem „Querdenker“ spazieren. Mittlerweile ist Spazierengehen ein Trend für alle, sagt ein Kasseler Hobby-Historiker. Hier erklärt er, wie die Freizeitgestaltung entstanden ist.

Kassel – In der Pandemie war der Spaziergang eine Protestform, mit der „Querdenker“ gegen Corona-Maßnahmen protestierten. Mittlerweile gehen die Menschen wieder ohne politischen Hintergrund spazieren. Jürgen Fischer vom Geschichtsverein fragt in einem Vortrag am morgigen Sonntag (11 Uhr) im Stadtmuseum: „Spazierengehen – Gehört sich das?“ Wir haben mit ihm gesprochen.

Herr Fischer, in Ihrem Vortrag stellen Sie fest: Spazierengehen ist heute angesagt. Wie kommt das?

Es ist eine einfache Form der Freizeitgestaltung. Man kann allein oder mit Freunden und der Familie hinausgehen, sich austauschen und die Umgebung entdecken. Vielleicht hat der Trend auch etwas mit der Pandemie zu tun, wo es hieß, man solle zuhause bleiben. Der Freiheitsbegriff hat schon eine Bedeutung. Man kann sich den Ort aussuchen, an dem man spazieren geht.

Wann geht man eigentlich spazieren? Und wann wandert man beispielsweise?

Beides geht ineinander über. Das Spazierengehen ist kurzweiliger und auch zeitlich kürzer. In Kassel gibt es so viele Möglichkeiten. Viele Parks kann man schnell erreichen. Zum Wandern gehört dagegen eine bestimmte Vorbereitung. Oft wandert man auch von A nach B, während ein Spaziergang meist ein Rundgang ist.

Spazieren gehen in Kassel: „Man hat sich das Vergnügen zurückgeholt“

In der Pandemie kritisierten Sie das „Kapern einer bürgerlichen Kulturtradition“ durch die „Querdenker“, die bei Spaziergängen gegen die Corona-Maßnahmen demonstrierten. Viele dachten beim Wort „Spaziergang“ automatisch an die Proteste. Gab es danach eine erfolgreiche „Entspazifizierung“?

Auf jeden Fall. In der Pandemie wurden sogar Kinder für den Protest instrumentalisiert. Mittlerweile ist das Spazierengehen für die gesamte Bevölkerung wieder eine nicht belastete Tätigkeit. Man hat sich das Vergnügen zurückgeholt.

Das moderne Spazierengehen entwickelte sich ab 1800. Welche Funktion hatte dieses Hobby, wie man heute sagen würde?

Ich würde es lieber Freizeitbeschäftigung nennen. Oft heißt es, das Bürgertum habe ab 1800 das Promenieren als Gepflogenheit vom Adel übernommen. Ich halte die Einschätzung für falsch. Vielmehr gab es ganz eigene Gründe für das Bürgertum. Nach der Schleifung der Stadtmauern, also dem Abtragen von Befestigungsanlagen und dem Einebnen von Gräben, konnte man aus den wachsenden Städten hinausgehen. In Kassel war es beispielsweise bis dahin umständlich, aus der Stadt nach unten in die Karlsaue zu kommen.

Hier wurde 1787 einer der ersten Bürgerparks in Deutschland eingerichtet, der Park im Tannenwäldchen. Ist Kassel beim Spazierengehen, Pardon, vorweg gegangen?

Das kann man so sagen. Der Park am Tannenwäldchen befindet sich an der Kölnischen Straße. Von dort gingen viele über Kirchditmold und die Ochsenallee bis zum Schloss im Bergpark und wieder zurück. Das war eine Tagesbeschäftigung. Leute mit Geld konnten sich später die Straßenbahn bis nach Wilhelmshöhe leisten. Für viele Familien war das jedoch zu teuer. Stadtbaumeister Johann Wolff hat für Kassel damals sehr weitsichtig planen können – mit der Ausdehnung der Stadt nach Norden, aber auch mit Parks wie dem Tannenwäldchen.

„Das erinnert ein bisschen an die Diskussionen von heute über das Radfahren in der Aue“

Frauen durften damals nicht ohne männlichen Begleiter in der Karlsaue unterwegs sein. Inwiefern erzählt die Geschichte des Spazierengehens auch etwas von der Emanzipation?

Wie in allen gesellschaftlichen Bereichen ist die Emanzipation auch beim Spazierengehen offensichtlich. Ohne Begleitung irgendwohin zu gehen, schickte sich damals nicht für eine Frau. Das sieht man auch auf historischen Grafiken. Es gibt Zeichnungen von Beginn des 19. Jahrhunderts, auf denen Männer an der großen Fontäne im Bergpark den Frauen zeigen, wohin sie schauen müssen. Zehn Jahre später gibt es Abbildungen, bei denen deutlich wird: Frauen brauchen keinen Mann mehr, um die Schönheiten des Bergparks zu kapieren. Und wieder zehn Jahre später zeigen Lithografien Frauen allein auf dem Friedrichsplatz und am Bassin in der Karlsaue. Solche Freiheiten sind also erst entstanden. Eine Postkarte aus dem Jahr 1905 zeigt, wie eine Frau allein die Schlosstreppe hinunterkommt. Sie sieht selbstbewusst aus und trägt einen kleinen Arbeitsbeutel um die Hüfte, wie es damals üblich war. Das ist heute die Handtasche.

Ebenfalls im 19. Jahrhundert wurde der Begriff Landschaft bedeutsam. Wieso wird sie für Städter zum Sehnsuchtsort?

Hierzu hat Lucius Burckhardt, der in Kassel die Spaziergangswissenschaft erfand, wichtige Untersuchungen gemacht. Man nimmt einen leeren Bilderrahmen, schaut hindurch und fragt sich: Warum ist die Landschaft schön? Bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts wohnten die Menschen in der Stadt noch beengt und konnten nicht hinaus. Durch das Schleifen der Stadtmauern wird es möglich, ohne Aufwand hinauszugehen. Die Bürger entwickeln eine ganz andere Sicht auf die Umgebung, die auf einmal als Landschaft wahrgenommen wird. Die neue Perspektive ist romantisch und wird auch sentimental verklärt. Das ist aber zugleich fortschrittlich. Betrachten wir beispielsweise den Friedrichsplatz. Anders als die meisten innerstädtischen Plätze ist er als Öffnung zur Landschaft angelegt. Richtung Süden schauen wir auf Park, Wiesen und Berge. Da kommen Sehnsüchte auf.

Sie sagen, dass Kasseler die Karlsaue seit 1734 nutzen können – wenn sie sich gut benehmen. Welche Vorschriften gab es früher dort?

Das ist durchaus kurios. Landgraf Wilhelm VIII. erlaubte seinen Untertanen ausdrücklich, den Au-Garten zu benutzen und zu genießen. Zugleich schimpfte er in einer Verordnung von 1743 über viel Zerstörung. Er weist an, dass „böse Buben und Gesindel“ fernbleiben sollen, weil sie Nester ausplündern und Vögel vertreiben würden. Zugleich verbietet er Knechten, die Pferde dort auszureiten. Fuhrwerke müssen um die Karlsaue herum fahren. Pförtner, die in den Wachthäusern wohnten, mussten das alles kontrollieren. Das erinnert ein bisschen an die Diskussionen von heute über das Radfahren in der Aue.

Auf der Schlosstreppe hinunter Richtung Fulda: Diese Postkarte aus dem Jahr 1905 zeigt eine Frau, die womöglich zum Spazierengehen in der Karlsaue verabredet war.
Auf der Schlosstreppe hinunter Richtung Fulda: Diese Postkarte aus dem Jahr 1905 zeigt eine Frau, die womöglich zum Spazierengehen in der Karlsaue verabredet war. © Verlag Louis Glaser/Leipzig/nh

Wie halten Sie es als Spaziergänger mit dem Radfahren in der Karlsaue?

Ich begrüße die neue Regelung, die eine Querung der Karlsaue ermöglicht. Ich habe es nie als Problem empfunden, wenn einem beim Spazierengehen Radfahrer begegnen. Man hat sich immer arrangiert. Trotzdem bin ich gegen eine generelle Freigabe des Radfahrens in der Karlsaue.

Wo gehen Sie am liebsten spazieren?

Ich wohne mit meiner Frau in der Nähe des Park Schönfelds. Darum freue ich mich auf die Erweiterung dieses Parks, die bald fertiggestellt ist. Mit Freunden sind wir gern im Bergpark unterwegs, aber auch viele andere Grünanlagen wie den Dorothea-Viehmann-Park in Niederzwehren finde ich sehr gelungen. Überall kann man das Grün genießen und sich am Zwitschern der Vögel erfreuen. Spazierengehen ist einfach etwas Schönes für die Seele. (Matthias Lohr)

Termin: Vortrag von Jürgen Fischer (Spazierengehen – Gehört sich das?“) am Sonntag (11 Uhr), Stadtmuseum, Ständeplatz 16.

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