Freie-Wähler-Kandidatin Christine Singer: Die Europabäuerin
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Freie-Wähler-Kandidatin Christine Singer: Die Europabäuerin

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Christine Singer ist Spitzenkandidatin der Freien Wähler für die Europawahl und verabschiedet sich vom Dirndl – a bisserl. Ein Porträt.

München – Löwenzahn, weidende Kühe, die Alpen. „Es is so schee, dass fast scho kitschig is“, schwärmt Christine Singer in einem Video von 2021. Beschienen von einer milden Frühlingssonne stellt sie da ihren Hof im oberbayerischen Idyll vor. Damals war sie Kreisrätin für die Freien Wähler und Bezirksbäuerin im Bauernverband – rundum in ihrem Element.

Christine Singer will aus den Alpen bis nach Brüssel

Kreis und Bezirk, das lässt sie jetzt hinter sich. Nach drei Jahren will die 58-Jährige vom Bilderbuch-Voralpenland nach Brüssel. Zwei Sitze im EU-Parlament hat die bürgerlich-konservative Kleinpartei bisher. Ihr Chef Hubert Aiwanger hat die Landwirtin auf den Spitzenplatz für die Europawahl im Juni gehievt – mehr oder weniger aus dem Nichts.

Zumindest politisch gesehen. Denn ihren eigentlichen Karriereweg abseits des heimischen Milchviehbetriebs im Landkreis Garmisch-Partenkirchen ist Christine Singer schon zu Ende gegangen. 2022 wurde sie zur Landesbäuerin gewählt; das ist ein bayerisches Ehrenamt, das doch gewissen Erklärungsbedarf hat: Singer steht in dieser Rolle an der Spitze der Landfrauen und damit personifiziert für das konservative, traditionelle Bayern: Tracht, Hof, Heimat, Familie, Engagement vor Ort.

Christine Singer: Zur Person

Christine Singer
Geboren:1965
Partei:Freie Wähler
Landkreis:Garmisch-Partenkirchen

Christine Singer ist gewissermaßen Erste Frau in einem nach Geschlechtern getrennten System: dem bayerischen Bauernverband. Dem berufsständischen, „männlichen“ Zweig steht ein Bauernpräsident vor. Theoretisch könnte das auch eine Frau werden, versucht hat das jedoch noch keine – es gibt ja die Parallelstruktur der Landfrauen.

„Ich muss total raus aus der Komfortzone“, sagt Singer über ihren Schritt nach Europa.
„Ich muss total raus aus der Komfortzone“, sagt Singer über ihren Schritt nach Europa. © IMAGO/Future Image

Kandidatin der Freien Wähler kommt vom Bauernverband

Was alle im Verband eint, ist die Lobbyarbeit für herkömmliche Landwirtschaft und ländlichen Raum. Das war auch für Christine Singer stets Antrieb. Dem „Bayerisch Landwirtschaftlichen Wochenblatt“ sagte sie vergangenen Sommer: „Für mich war bislang immer klar, dass ich Lobbyistin und keine Politikerin bin.“ Und jetzt? Als Aiwangers Anfrage für Europa kam, erzählt sie, „da hats mich fast zerrissen“. Gerade im neuen Amt, am „persönlichen Ziel“, da war der erste Instinkt: „Nein, des geht jetzt nicht.“

Am Ende ging es doch. Landwirtschaft und die EU (beziehungsweise deren Vorgänger) sind bekanntlich keine getrennten Welten. In Brüssel und Straßburg wird über Subventionen entschieden, hier entlädt sich aber auch der bäuerliche Zorn über neue Auflagen und Verordnungen.

Christine Singer: Bäuerin mit Bilderbuch-Hof

Diese Welt kennt Singer: In neueren Videos von ihrem Bilderbuch-Hof oder von Bauerndemos stimmt sie in die Kritik am Kurs der Ampel ein. Nie fanatisch, meist mit einem Lächeln. Initiativen für weniger Tierhaltung zum Wohl der Umwelt kritisiert sie aber scharf. Und als kürzlich das EU-Parlament das Gesetz zur Wiederherstellung der Natur verabschiedete, rief sie beim Parteifreund auf EU-Ebene an, Engin Eroglu, um sicherzugehen, dass der auch dagegen stimmt. Die bisherigen Interessen dürften weiter an erster Stelle stehen.

Die bisher erschienenen Porträts zur Europawahl 2024:

Dem CSU-Spitzenkandidaten blieb 2019 der Spitzenjob der EU verwehrt. Jetzt tritt er bei der Europawahl an - hier geht es zum Porträt von Manfred Weber.

Trotz des Abwehrkampfs gegen rechts versucht die Grünen-Kandidatin Terry Reintke, eine positive Perspektive auf Europa zu bewahren.

Martin Schirdewan, Spitzenkandidat der Linken für die Europawahl, scheut auch vor Auseinandersetzungen mit dem Bundeskanzler nicht zurück. Hier finden Sie das Porträt.

Kein Parteimitglied und trotzdem Spitzenkandidatin der Linken für die Europawahl 2024. Hier finden Sie das Porträt zu Carola Rackete.

Die SPD-Spitzenkandidatin hat Eigenschaften, die bei Politikern selten anzutreffen sind. Das Porträt von Katarina Barley finden Sie hier.

Für die AfD wird er wegen Spionagevorwürfen immer mehr zum Problem: Spitzenkandidat Maximilian Krah, hier im Porträt.

Für das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) tritt ein Finanzexperte an, der für seine Kritik an Cum-Ex-Geschäften und der europäischen Geldpolitik bekannt ist. Hier geht es zum Porträt von Fabio de Masi.

Termine vor der Europawahl statt Arbeit auf dem Hof

Selbst ist sie bei der Hofarbeit wegen der vielen Termine „komplett raus“. Ihre Tochter, eines von zwei Kindern, ist in den väterlichen Betrieb eingestiegen. Hier liegt der Kern von Singers politischer Motivation: „Mir is einfach wichtig, des am Leben zu halten“, sagt sie. Nach viel Grübeln über die Karriere, über die Bedeutung der EU-Agrarpolitik, habe auch ihr Mann ihr schließlich gesagt: „Wenn du diese Chance nicht nutzt, dann bereust du das bis ins Grab hinein.“

Für die Freien Wähler ist Singers Nominierung ein kleiner Coup. Die Landfrauen sind Bayern pur – also eigentlich CSU pur. Singers Vorgängerinnen saßen auch fast alle für die Christsozialen in Kreis- oder Landtag. Dass nun die Landesbäuerin – das Ehrenamt will sie zunächst fortführen – für die Aiwanger-Partei gewissermaßen Europabäuerin werden will, das war auch im Vorfeld der Bayernwahl im Herbst ein Signal: Bayern ist nicht mehr nur gleich CSU.

Wenn du diese Chance nicht nutzt, dann bereust du das bis ins Grab hinein.

Christine Singer, FW-Spitzenkandidatin für die Europawahl 2024

Spitzenkandidatin Singer bei den Freien Wählern auf der Überholspur

Christine Singer nimmt auf dem Weg nach Brüssel die Überholspur bei den Freien Wählern. Erst vor wenigen Monaten ist sie der Bundesorganisation überhaupt beigetreten. Aus der Partei ist deswegen noch immer zu hören: Man müsste sie erstmal genauer kennenlernen.

Beim politischen Aschermittwoch Mitte Februar in Niederbayern spricht sie kurz vor Lokalmatador Aiwanger und bezeichnet das als „schöne Gelegenheit, um mich vorzustellen“. Auch beim Parteitag in Bitburg, wenige Tage später, wirkt sie zuweilen wie ein Fremdkörper. Zwar wird sie herzlich begrüßt, auch Selfies werden gemacht. Sie wird auf die Bühne gerufen, erhält dort einen Platz in der Reihe des Präsidiums, aber ein Namensschild gibt es dort für Singer nicht.

Bitburg ist erst ihr zweiter Bundesparteitag. 2023 wurde sie im hessischen Fulda für Europa nominiert – und erinnert sich: „Da bin ich mir vorgekommen wie jemand mit einer Schultüte.“ Auch hier tief in der Eifel, auf halbem Weg von Bayern nach Brüssel, fühlt sich das so an. Während ihr zukünftiger Brüsseler Kollege Eroglu den Entertainer gibt, aber auch am Rednerpult mitmischt, sitzt sie an der Seite. In die Debatten über die Abgrenzung zur AfD oder das Europawahlprogramm steigt sie nicht ein.

„Ich muss total raus aus der Komfortzone“, sagt Singer über ihren Schritt nach Europa. Woanders hat sie noch nicht gelebt und, „dass ich viel Englisch gebraucht hab“, räumt sie ein, „des war noch nie so in meinem Leben.“ Ihr Bayerisch schlägt voll durch, Altbairisch mit schwäbischem Einschlag. „Ich will“ wird dann zu „I wui“, „ich glaub“ wird zu „I glaab“. Sie will daran arbeiten, aber sich auch nicht verbiegen. Authentizität vermisse sie wie viele andere im Politikbetrieb. Wenn sie an die Zukunft in Brüsseler Parlament denkt, stellt sie aber klar: „Ich werde da ned jeden Tag im Dirndl aufkreuzen.“

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