Biedermeierlicher Spaziergang in Gießen
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Biedermeierlicher Spaziergang in Gießen

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Jutta Failing (rechts) und Dagmar Titsch überzeugen mit ihren schauspielerischen Leistungen. Foto: Schäfer © Schäfer

Teilnehmer eines historischen Rundgangs machen eine kurzweilige und teils schlüpfrige Zeitreise durch Gießen.

Gießen . »Das iss mei Kischemeedsche, mei Lisettsche. Ich bin die Frau Brofessor. Mir wohne da owe und mein Gadde issen Medizinischr«: An Frau Babbisch und Frau Struwwelisch aus der Mainzer Fassenacht erinnert fühlen sich die Älteren des geführten Rundganges vom Kirchenplatz über den Wochenmarkt zum Botanischen Garten. »Biedermeierlicher Gartenspaziergang mit Madame Biedermann und ihrem Dienstmädchen Lisette« ist das Ganze überschrieben. Im Botanischen Garten und entlang der Jour, der ehemaligen Wall-Anlage, flanieren Professorengattin Biedermann (Dr. Jutta Failing) und Lisette (Dagmar Titsch) in bester Gemütsstimmung. Im Schlepptau ein paar Dutzend Lauschende.

Feudale Strukturen

Klatsch und hessischer Zungenschlag mischen sich amüsant mit Gießener Stadtgeschichte. Unterhaltsam, kurzweilig, auch teils ein bisschen schlüpfrig. Fast im Minutentakt unterbricht lauthalses Lachen die beiden Komödiantinnen ob ihrer Mono- und Dialoge und der großartigen schauspielerischen Leistungen der Gestik und Mimik. Eingeladen dazu hatte der SPD-Ortsverein Gießen-Süd. Die Landtagsabgeordnete Nina Heidt-Sommer prophezeite zu Beginn: »Die nächsten anderthalb Stunden werden sehr kenntnisreich und auch unterhaltsam sein.«

Die Biedermeierzeit dauerte von 1814 bis 1848, gleichsam auch der Vormärz. Der Wiener Kongress anno 1814 hatte die demokratischen Errungenschaften der Französischen Revolution (1789 - 1799) wieder in feudale Strukturen umgekehrt. Als Folge davon duckten sich die Bürger, zogen sich zurück in ihre Häuser und in den Kreis ihrer Familie, gaben sich bieder. Daher der Begriff Biedermeierzeit.

Dagegen kämpften zur gleichen Zeit - Vormärz genannt - Revolutionäre wie Wilhelm Liebknecht und Georg Büchner um die Wiederherstellung demokratischer Strukturen und einen Nationalstaat.

Die Führung beginnt am Kirchenplatz. Wir sind im Jahr 1840, Madame Biedermann erzählt: »Habd Ihr den ewwe gesehn? Da vonne läufd er noch. Das is dr junge Liebknecht. Ach der ahrme Bubb. Der is da hinne geborn worn. Da um die Ägg. Da um die Kirsch rum stehd’s Geburdshaus. Vier Geschwisdr haddr und kein Pappa und kei Mama. Is allein uffgewachse. Bei de Omma hadde hald gelebd. Unn die is jädz dood. Umgefalle isse einfach. Unn da isse in de Nachbarschafd rumgereischd worde unn keinr wolld ihn hawwe. Wer weiß, was aus dem Bubb noch wird. Von mir aus alles, nur kein Bolíddischr.«

Und Lisette erzählt: »Mit wem isch zusamme war? Das war mein Schosch, de Büchner. Awwr das war vielleichd en Kärl. Flause hadd der im Kopf gehabd. Revoludioniere wolldr midde Studände. So en ahrmr Bauer. Un jeds wird där von de ganse Schandarmerie gesuchd. Der ist fodd nach Idalien. Unn, was habb isch von dem Bolídische gehabbd? Nix.«

Daraufhin Madame Biedermann: »Als wir jung warn, war ja där Káffeegenuss fier einfache Arbeidr verbohde. Weil das warn lüsterne Ausgaben genau wie Dábbagg. Däss ist ersd heud, 1840, für einfache Leud auch erlaubd. Wir Biedermänner, wir wolle unser stilles Gligg im Gadde, wir wolle genieße. Mir esse von Bozzellan. Unn nedd vom Tisch. Ja, Blümschebozzellan hamme deheim. Wir wolle nedd revoludioniere odr Bolidígg mache. Nedd uns midde Arbeidr gemein mache. Es sinn einfach neue Zeide. Die Industrialisierung, Fabriggarbeidr. Wänn die sich mal susammeschließe, eieiei.«

Zudem weiß sie zu berichten: »Mein Gadde ist deheim fier die Bildung zuständisch.« Und wie wird man Frau Professor? »Isch komme aus gleine Vehäldnisse. Awwr ohne dass ich drauf aus war, habb isch ihn geheiraad. Biss dass de Dood euch scheided, heißd es beim Heirade. Manchmal mussme da e bisssche nachhelfe, mit Laudanum.«

Und Lisette? »Als isch jung Dunze von Ulrichstein nach Gieße kam, ach, dachd isch, jäds fängd eh neues Leewe an. Peifedäggel war’s. Nur rauchgeschwärzde Häusr. Unn gestunke hat’s hier. Unn die Häusr, die wisse nedd, ob se nach links oder rechts falle solle. Drum bleiwe se stehn. Unn dann dr Rinnsal, der da vorne do langfließt. Was da alles drin rumwusseld. Wenn se ihre Kohlstügge darinschmeiße und die Häringsschwens und alles endsorsche ausm Haushald. Ei, Pfuideuwel!«

Von Balser bis Liebig

Die Frau Professor erinnert sich: »Ich weiß noch, als ich noch jünger war: 1826 waarn da so ahrme Bauern ausm Hinnerland. Die hadde das Gäldkärnsche überfalle, sind dann gefange und verurteilt worde. De Stab gebroche übern Kopf. Dann wurde die bei Wieseck uffgehängd, nee de Kobb abgeschlaache. Sind hald dumme Leud. Die wisse ja gar nedd mit Geld umsegehe. Ei was die middem ganse Geld gemachd hawwe? Ihre Steuern bezahld. Ha,ha,ha!« Auch Lisette weiß viel: »Seidehm die Fransose 1796 Gieße besädsd hadde, da saache die Leud auch Dróddwar, Párablü, Kócko-woahh. Also für misch ist däss e dood Hinkl im Rotwein.«

Von der Frau Professor ist dann noch zu hören: »Diese Medisinis, die die Schwangere uffschneide und dirägd vorher die Doode uffgeschnidde hawwe. Ei da dääd isch ja liwwr ins Wassr gehe. Was isch awwr saache muss: Da endbinde nur die liederlische Mänsche. Unehelische Geburde ausem ganse Umgreis, die müsse dordhin. E Frau wie isch, verheiraded, machd das daheim.«

Allerlei lustige Episoden über die »Medizinischen« und »Botanischen«, die Professores Balser, Hillebrand, Walther, von Ritgen sowie Liebig und Goethe, beendeten einen Stadtspaziergang, den wohl so schnell keiner der Teilnehmer vergessen dürfte.

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