Voß, der eigentlich Staatsrechtler war, beschäftigte sich eigenen Angaben zufolgeFootnote 1 seit rund zwanzig Jahren mit Fragen zu Unterricht und Erziehung sowohl im öffentlichen als auch im privaten Kontext. Dabei müssen wir uns auf jene Selbsteinschätzung verlassen, da über Christian Daniel Voß keine Fachliteratur existiert. Die Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg schreibt, dass über ihren einstigen Professor nur wenige Informationen bekannt seien.Footnote 2 Gelebt hat er in den Jahren 1761 bis 1821.Footnote 3

Fakt ist, dass Voß im selben Jahr die Professur für Staatsrecht an der Hallenser Universität übernahm,Footnote 4 in welchem er die hier untersuchte zweibändige Schrift veröffentlichte. Des Weiteren gibt das Universitätsarchiv Aufschluss darüber, dass der Staatsrechtsprofessor in den Jahren 1788 bis 1794 als Lehrer am Hallenser Pädagogium tätig war.Footnote 5 Dies lässt den Rückschluss zu, dass die der Berufung vorangegangene Lehrtätigkeit als auch die Einbringung in den nationalpädagogischen Diskurs Voß’ Reputation als Staatsrechtler beförderten, was wiederum einen weiteren Rückschluss auf die Kohärenz von Politik und (National-)Pädagogik im besprochenen Zeitraum zulässt. Jene Kohärenz zeichnet sich unter anderem darin ab, dass es ein Ansinnen des Staatsrechtlers war, Pädagogik als Instrument der Verbesserung des Staatswesens einzusetzen.

Dies lässt sich aus eigenen Beschreibungen ableiten: Die Aussichten auf eine Radikalverbesserung des Erziehungswesens, die sich nun aufgrund des aufgeklärten und tätigen Regentengeistes als auch aufgrund des allgemeinen Patriotismus ergeben, hätten ihn veranlasst seinen „Versuch über die Erziehung für den Staat“ zu veröffentlichen.Footnote 6 Diesen „Versuch“ wollte Voß als einen Beitrag zum Patriotismus verstehen.Footnote 7 Jedoch machte die Tatsache einer mangelnden intensiven Beschäftigung seines Werkes durch die damalige wissenschaftliche Fachwelt seinen Verdienst am nationalpädagogischen Diskurs kleiner, als er tatsächlich war. In diesem Sinne urteilten auch Vertreter der historischen Bildungsforschung im 20. Jahrhundert, dass Voß’ Werk von 1799 es verdient, unter den Publikationen zur Nationalerziehung besonders genannt zu werden.Footnote 8

Dies begründet sich allein schon damit, dass die zweibändige Veröffentlichung des Staatsrechtlers zum Unterricht und zur Erziehung über 800 Seiten umfasst und, um allein anhand der einzelnen Kapitel und Überschriften zu urteilen, sehr ausgereifte Überlegungen zur Nationalerziehung, zum Staatsverständnis und zur Sichtweise auf andere Nationen beinhaltet. Dieses Volumen als auch der Versuch, Nationalerziehung ganzheitlich, und nicht allein auf das Schulwesen, zu denken, sie dabei nicht in den Rahmen von Methoden und Institutionen einzugrenzen, sticht in der hier vorliegenden Untersuchung sofort als ein Novum für die damalige Zeit hervor.

Voß zufolge war das gesamte Wesen der Erziehung im Sinne seines Versuchs „über die Erziehung für Staat“ in sechs Bereiche einzuteilen. Diesem gehörten die körperliche, die sittliche, die Erziehung für das staatsbürgerliche Verhältnis, eine „Industrie-Bürgererziehung“ und die Staatsdiener- und die Regentenerziehung an.Footnote 9 Der Hallenser dachte überdies eine Abfolge in der Erziehung an, nach welcher eine „zweckmäßige Erziehung für den Staat“ mit der Ausbildung der Körperkräfte beginnen solle. Auf diese sollte eine „Ausbildung der moralischen Kräfte“ folgen, die bezweckte, Eigenschaften zu vermitteln, welche „erste Bedingungen für die Aufnahme in das staatsbürgerliche Verhältnis“ enthielten.Footnote 10

Anders als das Modell von Resewitz hielt Voß also nicht an Berufsständen und Zünften fest, sondern wählte für seinen Erziehungsansatz eine Kombination aus grundlegenden menschlichen Fähigkeiten und Moral, die nur noch bedingt etwas mit den Ständestatus der Vergangenheit gemein hatte. Die Einteilung in Regent, Staatsdiener und Untertan, welche Voß im Duktus seines Ansatzes an vielerlei Stellen übernahm, war eindeutig angelehnt an das neue Bürger- und Staatsverständnis des im 18. Jahrhundert durch die Erfolge Königs Friedrich II. prosperierenden preußischen Staatsapparats.

Von einer Erziehung, die das Ständewesen akzeptierte, distanzierte sich Voß schließlich ausdrücklich: „Es gab eine Zeit, […] in welcher man die Erziehung mehr nach den Ständen im Staate, als nach der Bestimmung für den Staat, classificirte. Man hatte eine Erziehung für den Bürgerlichen, für den Gelehrten, für den Adel oder Personen vom Stande.“Footnote 11 Damit war klar, dass der Staatsrechtler auf die Ansätze wie jene von Basedow und Resewitz blickte, die er nun für seine Zeit nicht mehr adäquat hielt. Er führte fort, dass eine „Ideen-Revolution“ des letzten Jahrzehnts (1789) Vorstellungen von Erziehung für Stände in Richtung einer Erziehung für den Staat verändert habe.Footnote 12 Im Umkehrschluss bedeutete dies, dass eine Erziehung zur Aufrechterhaltung der Vorrechte von Gelehrten und Edelmännern nicht mit einer Staatserziehung überein kommen konnten. Es lässt sich daher, trotz einiger im Werk enthaltener Widersprüche, der Versuch einer Demokratisierung der politischen Verhältnisse durch den nationalpädagogischen Ansatz von Voß konstatieren.

7.1 Voß’ Grundansichten über Erziehung im Kontext von Selbstbefähigung, Zweckmäßigkeit und der Abgrenzung zu anderen Nationen

Voß schwor seine Leserschaft auf eine antifranzösische Stimmung zu Beginn seines umfassenden Werkes ein. Hierbei beschrieb er die auch aus anderen Quellen zu verzeichnenden Untaten französischer Besatzer, welche als persönliche monetäre Bereicherung Einzelner beschrieben wurden. Insbesondere das den Deutschen ab 1794 auferlegte Steuern- und Abgabensystem sowie das Eingreifen in Wirtschaftskreisläufe sorgte für großen Unmut. Voß beschrieb unter sehr kritischer Betrachtungsweise, dass die Einkünfte der durch Frankreich eroberten Länder bloß in die Kassen der Machthabe flößen, deren „Kostbarkeiten und Schätze“ in Umlauf gesetzt und privates Eigentum einfach enteignet würde. All dies zeige die unermesslichen Bedürfnisse der Besatzer.Footnote 13

Bezeichnenderweise wird Frankreich mit der Auferlegung des Versailler Vertrages und der Besetzung von Teilen des Rheinlandes und des Ruhrgebietes in den 1920er- und 1930er-Jahren einen ähnlichen Eingriff in das Finanz- und Wirtschaftswesen der Preußen vornehmen wie bereits zur napoleonischen Zeit. Auch die Reaktionen der Deutschen, welche unter anderem in einer Suche des „neuen Nationalen“ und nach einem neuen nationalen Einheitsgefühl zur Geltung kamen, werden verblüffend ähnliche Parallelen aufweisen.

Die Suche nach dem nationalen Einheitsgefühl lässt sich mithilfe der Beschreibung des Fremdartigen in Voß’ Schrift ausmachen. Um „fremde gefährliche Grundsätze“, welche die Nation heimsuchen könnten, nicht einziehen zu lassen, müsse man „alle Cultur des Auslands entfernt halten“Footnote 14 und außerdem „die Denkkraft der Nation überhaupt in Fesseln legen; und wo dies nicht mehr ganz möglich sey, ihr eine, zur Sicherung der Monarchie abzweckende, feste und bestimmte Form und Richtung geben“.Footnote 15 Diese Maßregeln seien das Verbot aller fremden Zeitungen, Zeitschriften und Bücher, sofern sie nur im Geringsten politische Gegenstände berührten,Footnote 16 als auch die Schließung aller Grenzen. „gegen alle Fremde jeder Nation“.Footnote 17 Jünglinge, die im Ausland Erziehungs- oder Unterrichtsanstalten besuchten, müssten das Land unter Androhung von Strafen verlassen.Footnote 18

Deutlich wird an Voß’ Thesen, dass ein ausländischer Einfluss als etwas „Fremdes“ galt und wie das Auferlegen von Fesseln wahrgenommen wurde oder wahrgenommen werden sollte. Dahingegen betonte er die „Entfesselung“, welche seiner Überzeugung nach von Bildung und Erziehung ausgingen: „Erziehung und Unterricht haben unser Vaterland, wie alle cultivierte Staaten, der Barberey entrissen; sie haben es der Geistes-Knechtschaft entzogen; sie haben es von der Verblendung des religiösen Fanatismus geheilt; – sie allein können es auch zu dem Tempel der ächten politischen Weisheit und Vaterlandsliebe führen.“Footnote 19

Subtil bewirkte dies, dass der Leser davon überzeugt werden sollte, dass er die neuen ausländischen Einflüsse ebenso zu bekämpfen hat wie einst die Barbarei und die Geistesknechtschaft, wobei mit letzteren beiden Begriffen die Gräueltaten des Mittelalters und die kirchliche Inquisition gemeint sein mussten. Mit dem Verweis auf die erfolgreiche Überwindung jener gesellschaftlichen und politischen Missstände durch Erziehung und Unterricht zog Voß einen direkten Vergleich zur Situation des Jahres 1799, welche pädagogisches Gegenlenken erst noch erforderte.

Ein Novum an dessen Gedankengang war, dass der Hallenser die bereits vorhandene nationalpädagogische Idee um den Aspekt der Wehrhaftigkeit gegen äußere Einflüsse erweiterte. Dies markierte einen Wendepunkt im Diskurs um Nationalerziehung, welcher sich bis dahin, wie bereits in den ersten drei Untersuchungen dargelegt, vornehmlich sozioökonomischen und ständischen Überlegungen annahm.

Zum Hergang des Diskurses äußerte Voß, dass trotz des großen pädagogischen Verdienstes Basedows, dieser sich nur auf die Beförderung einer Erziehung zur Humanität beschränkte.Footnote 20 Allerdings betrachtete er in der angedachten zweckmäßigen Erziehung von Erwerbsbürgern durch Resewitz „treffliche Vorschläge“, welche seinen eigenen Vorstellungen ähnlich seien.Footnote 21 Doch seien jene Vorschläge noch immer Vorschläge und Ideen geblieben. Die hauptsächliche Ursache hierfür erkannte er in bisherigen finanzpolitischen Erwägungen und in einem Mangel an Interesse für jene Vorschläge von Seiten der Regenten,Footnote 22 welche er kritisierte. Dabei verstand es Voß geschickt, den bisherigen Diskurs um Nationalerziehung für sich zu nutzen und an diesen unmittelbar anzuknüpfen. Eine zweckmäßige Erziehung für den Staat war nun ausführbar und gleichermaßen hohes, dringendes Bedürfnis, wie der Staatsrechtler befand.Footnote 23 Hierzu blickte er auf die Debatte der 1770er-Jahre, während welcher der politische und gesellschaftliche Zustand in Preußen ein noch gänzlich anderer war, zurück. Damals habe man das Verhältnis des Bürgers zum Staat zu wenig ins Auge gefasst. Vielmehr seien Bürger hauptsächlich auf die Verrichtung eines Gewerbes durch Bildung und Erziehung zweckmäßig vorbereitet worden. Doch sei, so die Maßgabe des Staatsrechtlers, eine Erziehung zur Erfüllung von staatsbürgerlichen Pflichten ebenso ein „Bedürfnis“ des Staates wie eine Erziehung zur „Vermehrung der Industrie“.Footnote 24 Vermutlich auch in Hinblick auf Campes Erwägungen kritisierte Voß, dass allein mit industriellen Maschinen diesem Bedürfnis nicht abgeholfen wurde.Footnote 25

Deutlich wird der scharfe Kontrast des Ansatzes von Voß zu dem von Resewitz in Hinblick auf die Bildung und Erziehung zu der Tätigkeit in Berufsgruppen und Zünften. Voß hielt diese für überkommen und dem technischen Fortschritt, welcher dem Staatswohl dienen sollte, für abträglich. Öffentliche, berufsgruppenspezifische Schulen, wie etwa die von Resewitz geforderten Handwerksschulen, müssten „unendlich viel weiter bringen“,Footnote 26 als bisherige Ausbildungen in den Zünften dies taten. Der Staatsrechtler hatte in diesem Zusammenhang insbesondere die Zeitersparnis bei Arbeitsvorgängen als auch die höhere Produktivität der Menschen im Sinn. Frauen sollten hiervon nicht ausgeschlossen werden.

Voß bediente sich (damaligen) humanistischen Ideen wie der VernunftFootnote 27 und des Patriotismus, um zu unterstreichen, dass dies die richtigen Mittel seien, um die Deutschen aus der misslichen Lage zu „befreien“. Dabei sollte der Begriff der Freiheit ebenfalls aus von der kollektiven Vorstellung von Freiheit gegenüber kirchlicher Übermacht hin zu einer Freiheit gegenüber Besatzungsmächten übertragen werden. Bei der Vorstellung von staatsbürgerlicher Freiheit sollte die Vernunft um die patriotische Überzeugung des Individuums erweitert werden. Dies beschrieb Voß wie folgt: „Unendlich mehr, als je der blinde Gehorsam vermochte, können jetzt Vernunft und Patriotismus bewirken; nur muß jene gelenkt und dieser geweckt und verstärkt werden.

Der Begriff von bürgerlicher Freyheit und der Wunsch nach ihr sind freylich nicht mehr zu vertilgen […].“Footnote 28

Wie die meisten Vertreter der Nationalerziehung im ausgehenden 18. Jahrhundert und beginnenden 19. Jahrhundert erachtete auch Voß den preußischen oder (je nach Auffassung) deutschen Nationalstaat als noch nicht existent beziehungsweise nicht als das, was dieser der Vorstellung nach sein sollte. Außergewöhnlich für die damalige Zeit war jedoch, dass er sich keine Vollkommenheit eines Staates ohne Erziehung und Bildung vorstellen konnte. Gebildete und wohlerzogene Staatsbürger sollten den Staat erst zu dem erschaffen, was er werden sollte. Sie sollten den Staat repräsentieren und der Staat wiederum sollte anhand seiner „neuen“ Staatsbürger definiert werden. Diese neue Staatsbürgerlichkeit war ein Balanceakt zwischen der Obrigkeitstreue zum Adel und zum Klerus und der gleichzeitigen Aberkennung derer Macht über den Menschen.

Dieser Vorgang konnte nur mithilfe der Selbstbefähigung des Menschen gelingen. Der rote Faden im zweibändigen Werk von Voß ist daher dessen Vorstellung über das Erreichen von Entfesselung und Freiheit des Einzelnen in einem unabhängigen und wehrhaften Nationalstaat. Immer wieder zog er Parallelen zu der „Wirksamkeit“ und der Befähigung durch fortschrittliche Erziehung in der Vergangenheit. „Wie die Menschengesellschaft durch die Erziehung nur werden konnte, was sie werden sollte: so kann die Staatsgesellschaft ebenfalls nur durch sie ihrer Vollendung genähert werden,“Footnote 29 so Voß. Demnach war seiner Einschätzung nach die Menschengesellschaft als Kollektiv bereits vollendet; es fehlte am Überbau, an der schützenden Institution des Staates.

Obgleich andere europäische Völker ebenso immens von der französischen Invasion betroffen waren, jedoch zuvor bereits einen geeinten Nationalstaat nach Voß’ Vorstellung repräsentierten, plädierte er dennoch für einen starken deutschen Staat. Dabei war es in der Übertragung auf den deutschen Kontext die besondere Schwierigkeit, aus dem durchaus heterogenen deutschen Volk eine in einem Nationalstaat geeinte deutsche Nation zu formen. Dem Grunde nach bestand ein solcher Zusammenschluss 1799 noch durch das Heilige Römische Reich. Dieser Konföderation wurde allerdings kaum Beachtung geschenkt; sie war eine aus der Zeit Ottos des Großen zurückzuführende Verbindung, aus welcher allenfalls nur der Hochadel profitieren konnte. Bei den einfachen Bürgern bestand aus heute nachvollziehbaren Gründen kein Verbundenheitsgefühl mit dem Heiligen Römischen Reich. Es wurde von diesen nicht als „Staat“ wahrgenommen. Sein Schicksal war mit der Abdankung des letzten Kaisers im Jahr 1806 besiegelt.

Zu dem Balanceakt zwischen der Wahrung von Sicherheiten und Strukturen, die Adel und Klerus verkörperten, und der Selbstbefähigung des Menschen gehörte auch die Haltung zu revolutionären Tendenzen. Obgleich Voß für die Anwendung von Vernunft und damit für das zentrale Argument der philosophischen Aufklärung nach Kant plädierte, lehnte der Bürgerrevolutionen als auch Philosophen und Aufklärer ab. Frankreich diente in diesem Zusammenhang als ein schlechtes Vorbild, spätestens ab den 1790er-Jahren in der preußischen nationalpädagogischen Literatur vermehrt gar als Feindbild. Dies lag mitunter daran, dass Frankreich nunmehr mit dem Begriff Revolution gleichgesetzt wurde. „Da seht ihr die Folgen der leidigen Aufklärung und des verhaßten Philosophirens! Die Französische Revolution mit allen ihren Folgen, ist das Werk dieser Aufklärer und Philosophen, die alles antasten, denen nichts zu heilig, nichts zu ehrwürdig ist.“Footnote 30 Verstandesbetontheit setzte er daher nicht mit radikalen Umbrüchen gleich, welche er durch ausschweifende Diskurse begünstigt sah, sondern mit Zweckmäßigkeit und der Kooperation mit dem Staat.

Bildung und Erziehung nach nationalpädagogischem Denkmuster sollten Voß zufolge die zu Erziehenden nicht nur wehrhaft gegen das „Fremde“ machen, sie sollten diese ferner mental stärken und für revolutionäre Einflüsse unempfänglich werden lassen. Er war der Überzeugung, dass eine „zweckmäßige Erziehung für den Staat“ das einzig wirksame „Sicherungsmittel“ gegen revolutionäre Grundsätze und Unruhen sei.Footnote 31 So hielt es diese Erziehung in ihrer Auswirkung auf das gesellschaftliche Leben für fähig, staatliche Macht, innere Sicherheit und Verteidigungsfähigkeit nach außen zu erhöhen;Footnote 32 wobei damit eine bemerkenswerte Parallele zur gegenwärtigen Herausforderungen benannt wurde, auf welche in Kapitel 17 näher eingegangen wird.

Sehr wohl sprach sich Voß jedoch für eine „Aufklärung im Staate“Footnote 33 aus, welche er als „Humanisierung einer Nation“Footnote 34 betrachtete. Diese Humanisierung sollte von den Wissenschaften und ihren Auswirkungen auf das kulturelle Zusammenleben initiiert werden. Seiner Ansicht nach waren die Ausdrücke „aufgeklärt“ und „Aufklärung“ gegen eine Erziehung zur Vernunft und zur Sittlichkeit ausgespielt worden, was einen unendlichen Schaden angerichtet habe.Footnote 35

7.2 Die Bedeutung von Sittlichkeit bei Voß

Als eine weitere von sechs Säulen der Erziehung für den Staat sah Voß die Erziehung zur Sittlichkeit. Sittlichkeit war nach Überzeugung des Hallensers die „allgemeinste Bestimmung“ jeder Erziehung.Footnote 36 Das Wesen von Sittlichkeit nach Voß’ Vorstellungen war, wie sich bei der hiesigen Untersuchung herausstellte, pädagogische Methode als auch Ziel zugleich. Unter Sittlichkeit verstand er die Entwicklung und Ausbildung edler Gefühle.Footnote 37 Zu edlen Gefühlen zählte er das Vermögen des Menschen, Begierden zu dämpfen, Leidenschaften zu mäßigen und vernunftbetont zu handeln.Footnote 38Die Erziehung zu jener Sittlichkeit sei es hauptsächlich gewesen, welche man als Bestandteil pädagogischen Bestrebens in öffentlichen Institutionen vermisst habe, so seine Überzeugung.Footnote 39 Voß betrachtete den Vorgang der sittlichen Erziehung als eine Entwicklung von Kräften, die es zu modifizieren, zu richten und als Ergebnis in Harmonie zu bringen galt.Footnote 40

In dieser Harmonie betrachtete der Staatsrechtler gar die „Vollendung der menschlichen Kulturgeschichte“, welche zu verfolgen „hohe Angelegenheit“ des Staates sei.Footnote 41 Die Vollendung der menschlichen Kulturgeschichte mit seinem Ansatz bewirken zu wollen, war wahrlich ein hoch gestecktes Ziel des Staatsrechtlers. Dieser Topos hebt geradezu beispielhaft hervor, wie sehr pädagogische Theoretiker zu jener Zeit daran glaubten, die Menschheit durch ihre Ideen fundamental verändern zu können; wenngleich Revolutionen und Umbrüche durch die Bürger negiert wurden. Dass der Staat diese hohe Aufgabe übernehmen sollte, zeigt einerseits, dass Voß es bewusst war, dass die sittliche Erziehung zur Vollendung der menschlichen Kulturgeschichte nur mit größter Kraftanstrengung und Kontinuität gelingen könnte. Andererseits geht daraus hervor, dass dem Staat, und nicht mehr der Kirche, jene Vollendung der menschlichen Kulturgeschichte zugetraut wurde. Der Staat sollte nach Voß also nun „den Menschen machen“.

Diese Intention ist unter den Ansätzen zur Nationalerziehung 1799 etwas Neuartiges, das sein Werk von anderen hervorhebt. Betrachtete der Staatsrechtler die philosophische Aufklärung an anderer Stelle noch als schädlich für den Staat, sah er in der Erziehung zur Sittlichkeit hingegen die wahre Aufklärung.Footnote 42 Denn für den Hallenser war sittliches Verhalten einhergehend mit den Fähigkeiten, Begriffe präzise zu wählen, sie zu verbinden, sicher anzuwenden und in der Ausübung von Vernunft geübt zu sein.Footnote 43 „Die reine Vernünftigkeit ist die ächte [sic!] menschliche Aufklärung“,Footnote 44 so Voß. Interessant ist hierbei, dass er demnach „Aufklärung“ nicht als neues Menschenbild und Rechtsverständnis sah, sondern als einen Fortschritt des Menschen, den dieser in Form einer Eigenleistung zu erbringen hat.

In diesem Kontext lässt sich die Frage, ob es für einen Staat gut oder abträglich ist, menschliche Aufklärung zu befördern, völlig neu einordnen. Voß prangerte an, dass sich Staaten vor dem Gedanken der Aufklärung fürchteten. Im Umkehrschluss hätte die Anwendung seines Ansatzes bedeutet, dass Staaten Aufklärung in jenem von ihm umgedeuteten Sinne befürworteten und beförderten, da die Idee der Aufklärung die Menschen nicht mehr zu revolutionärem Treiben animiert, sondern sie für den Staat zu noch nützlicheren Objekten ausgebildet hätte. Sollten Regenten ungeachtet dieser unvorteilhaften Entwicklung in jenem aufklärerischen Sinne handeln, könnten das „Menschenwohl und Bürgerglück“Footnote 45 erreicht werden.

Voß war der Ansicht, dass Erziehung zur Sittlichkeit im häuslichen Umfeld beginne, was sie von dem Gegenstand der allgemeinen Erziehung nicht unterscheide.Footnote 46 Er erinnerte daher an die Vorbildfunktion von Eltern und an die Tatsache, dass sich Kinder im schlechteren Fall auch das unsittliche Verhalten ihrer Eltern aneignen. Zu jenem Unsittlichen zählte er Vorurteile, die Aneignung falscher Begriffe, eigennütziges verhalten, Unmäßigkeit, Missgunst, Zorn und Rachsucht.Footnote 47 Genau darin sah Voß eine Gefahr im Scheitern von sittlicher Erziehung für den Staat. Dem Grunde nach sah er allerdings Menschen jeder gesellschaftlichen Schicht dazu in der Lage, sich auf eine sittliche Erziehung einzulassen.

Dabei hatte Sittlichkeit nicht bloß einen Selbstzweck für den zu erziehenden Menschen. „Nur ein sittlich guter Mensch kann ein wirklich guter Staatsbürger werden“,Footnote 48 ließ Voß verkünden. Damit wird deutlich, dass mit der Eigenschaft der Sittlichkeit die Erwartung der Eingliederung in den Staat einherging. Da nicht nur Kinder, die im elterlichen Umfeld auswuchsen, zu Staatsbürgern erzogen werden sollten, wandte er sich auch an Erziehungsanstalten für Waisenkinder. Ihn plagte, dass diesen aufgrund falschen pädagogischen Handelns ein schlechter Ruf vorauseile. „Die Erziehung zur Sittlichkeit in den Findelhäusern, Waisenhäusern u. s. w. ist also nicht bloß […] heilige Pflicht des Staates. […] Möchten dies die Pfleger solcher Anstalten bedenken! Möchte der reine Geist der Moralität und des Patriotismus ihre fürsorgende Thätigkeit beleben, und durch alle solche Institute wirken!“,Footnote 49 so Voß.

Der Umgang mit Schutzbedürftigen, wie etwa den Waisenkindern, war demnach für den Professor ein Gradmesser moralischen und sittlichen Handelns in einer Gesellschaft. Des Weiteren war hier die Erziehung nicht privat, sondern als Institution ein Abbild staatlichen Handels. Voß’ Denkansatz folgend, bedeutete dies, dass sittliche Erziehung gerade in Erziehungsanstalten möglichst fehlerfrei vonstatten gehen sollte. Falls die Erziehung zur Sittlichkeit, ganz gleich in welchem Umfeld zu Erziehende aufwuchsen, nicht gelänge, erkannte Voß darin ein für den Staat dauerhaftes Problem. Denn Maßnahmen, welche Unsittlichkeit entgegen wirken sollten, hätten nie denselben Einfluss, wie Sittlichkeit an sich.

Daraus ist zu entnehmen, dass eine sittliche Erziehung für den Staat rein zweckmäßig anzusehen war. Um es auf eine Formel abzukürzen: Unsittliches Verhalten war für den Staat unzweckmäßig und daher, und weniger aufgrund der kirchlichen Lehre, abzulehnen. Welche Eigenschaften Sittlichkeit für Voß ausmachten, lässt sich anhand eines Zitates wie folgt zusammenfassen: „Die Erziehung zur Sittlichkeit geht dahin, die edlere Natur des Menschen in ihrer ganzen Reinheit und Klarheit wiederzugeben.“Footnote 50 Sittlichkeit bezeichnete er neben dem christlichen Glauben als eine der für die Allgemeinheit geltenden Bürgertugenden.Footnote 51 Somit war unsittliches Handeln Voß’ Überzeugung nach nicht nur staatlichen Ambitionen abträglich, sondern gleichermaßen unbürgerlich. Einerseits ist dies eine gefährliche Definition in Hinblick auf die Erteilung oder Versagung staatsbürgerlicher Rechte, welche für alle gelten sollten. Andererseits könnte mit dieser Überzeugung auch die Hoffnung einhergehen, dass „Bürger“ ihrem Wesen nach wie von allein im Sinne des Staatswohls handelten, da das vom Staat erwünschte Verhalten seiner Bürger gleichermaßen ihrem einstudierten tugendhaften Verhalten darstellt. Im Umkehrschluss hätte Voß’ Idee bedeutet, dass Bürger im „alten System“ bislang entgegen ihren Tugenden leben mussten.

7.3 Definition des Staates nach Voß

Voß zufolge sollte der neue Staat nicht nur nach außen hin wehrhaft sein, sondern auch nach innen die Einhaltung von Menschen- und staatsbürgerlichen Rechten garantieren. „Der Zweck des Staats ist Sicherheit der Rechte der freyen sittlichen Wesen, welche sich zu diesem Endzwecke in eine Gesellschaft vereinigen,“Footnote 52so seine Annahme. Daraus tritt hervor, dass nur das Kollektiv gegenüber dem Staat bestehen kann. Voß stellte damit Kollektivrechte unmissverständlich über die des Einzelnen. Die vereinigte Gesellschaft sollte sozusagen einen Schutzkern innerhalb des Schutzraumes Staat bilden.

Der Zweck des Staates erhält bei Voß eine völlig neue Bedeutung; nicht mehr ging es allein um den Machterhalt der Monarchien und kirchlicher Einflusssphären. In einer bedingten Aufgabe der Rechte des Kollektivs zugunsten der Selbstorganisation des Staates sah Voß einen Gewinn für die Gesellschaft, da dies das Profil der Gesellschaft schärfte. Nationalerziehung bedeutete ihm zufolge, dass sich der Einzelne wie das Kollektiv unter die „höchste Gewalt oder Regierung“ unterwirft.Footnote 53 Erst durch diese Unterwerfung der Gesellschaft würde die Gemeinde zu einem Staat. Hierdurch liegt es nahe, dass nach ihm nationaler Erziehung eine Analogie zu Staatlichkeit beizumessen ist.

Jedoch hatte sich in diesem neuen Staat nicht nur die Gesellschaft, sondern auch der Einzelne vollständig unterzuordnen. So überraschte Voß mit der Überzeugung: „Von dem Augenblicke der Erzeugung an ist der im Staate erzeugte Mensch ein Eigenthum des Staates.“Footnote 54 Überraschend war dies insofern, als dass er an anderer Stelle für die Emanzipation der Menschen, für deren Entfesselung von alten Strukturen und das Ende der „Geistesknechtschaft“ plädierte. Dieser Widerspruch legt die ernüchternde Vermutung nahe, dass es ihm weniger um eine individuelle Teilhabe und um ein liberales Staatsverständnis nach heutiger allgemeingültiger Auffassung, sondern vielmehr um das bloße Ersetzen normativer Ordnungen ging.

Ein weiterer Widerspruch in Voß Argumentation war, dass er der Ansicht war, dass ausschließlich Vernunft den künftigen, nach seinen Vorstellungen agierenden Staat leiten werde, obwohl er in der philosophischen Aufklärung den Verursacher der französischen Revolution ausmachte und diese daher ablehnte. Dabei bediente er sich der bekannten Losung Immanuel Kants „Aude sapere“, welchen dieser fünfzehn Jahre zuvor in den pädagogischen und philosophischen Diskurs eingebrachte. „Bediene dich deines eigenen Verstandes“, war seit Kants Aufsatz von 1784Footnote 55 das programmatische Schlagwort geworden, wenn es um die Auslegung menschlicher Aufklärung ging. Voß warb dafür, nach eben jener Losung zu verfahren, um das „Staatenwohl“ und die „Veredelung der Menschheit“ zu befördern.Footnote 56

Wenn auch Voß sich für eine Betrachtungsweise einsetzte, nach welcher die Menschen Eigentum des Staates waren, so leitete er an anderer Stelle daraus eine Verpflichtung allen staatlichen Handelns ab, alles dafür zu unternehmen, dass die zu Erziehenden Möglichkeiten erhalten, durch Bildung und Erziehung gute Staatsbürger zu werden. Junge Staatsbürger seien weiterhin Eigentum des Staates; daher sei es die Pflicht des Staates, diese auf ihre „künftige Bestimmung im Staate“ zweckmäßig vorzubereiten.Footnote 57 Zweckmäßige Vorbereitungen für den Staat sollten demnach nicht etwa künftige Beamte erhalten, sondern waren damit verbrieftes Recht eines jeden Schülers. Eine bedingte Wahlfreiheit des Berufes, wie etwa Resewitz sie noch vorsah, wurde bei Voß nicht thematisiert. Vielmehr legt diese Erwägung die damals im Diskurs anzutreffende Kohärenz von Erziehung mit der preußischen Idee des Beamtentums, nach welcher Menschen „verwendet“ werden, offen.

Aufgrund der hier dargelegten verschiedentlichen Positionen von Voß, welche aus dessen zweibändigen Werk zu entnehmen sind, ist eine allgemeine Definition über den Staat und das Staatsverständnis nicht auszumachen. Je nach zu besprechendem Aspekt favorisierte er „Aude sapere“ für verstandesbetontes und befähigtes Handeln des Einzelnen und der Gesellschaft oder aber ein Bild, nach welchem der Einzelne Besitztum des wehrhaften starken Staates ist.

Eine einheitliche Linie verfolgte er wiederum bei der Frage, wem das Recht auf Erziehung der zu Erziehenden oblag. Für ihn war der staatliche Eingriff in Bildung und Erziehung eine Voraussetzung für das Gelingen der neuen nationalstaatlichen Implementierung. Der Staatsrechtler bediente sich eines forschen Vergleiches, nach welchem er die damalige staatliche Beschneidung von Religionsfreiheit, welche zur Zeit der napoleonischen Besatzung in Hinblick auf die private Religionsausübung bestand, mit pädagogischen Eingriffen gleichzusetzen versuchte.Footnote 58 So regte Voß indirekt an, auch die private Ausübung von Erziehung verbieten zu wollen; was schlichtweg an der Umsetzung gescheitert wäre.

Um dies überhaupt etablieren zu können, bedurfte es grundlegenden Veränderungen der Schulstruktur als auch die Anpassung von Gesetzen. So unterbreitete er in seinem „Versuch über die Erziehung für den Staat“ einen VorschlagFootnote 59, welcher sehr ähnlich in die spätere DDR-SchulgesetzgebungFootnote 60 übernommen wurde: „Die Erziehung, besonders die der Jugend, in ihrer allgemeinen, wie in ihren besondern Beziehungen, ist im hohen Grade Angelegenheit des Staats.“Footnote 61 Voß stellte die Frage nach einer allgemeinen Schulpflicht für Jungen in den Raum, welche er dadurch begründet sah, dass der Staat nach Erfüllung seines Plans dazu in der Lage gewesen wäre, zweckmäßige öffentliche Schul- und Erziehungsanstalten zu gründen und zu betreiben.Footnote 62

Der Umstand notwendig gewordener Anpassungen begleitete nicht nur das hiesige Konzept, sondern nahezu alle nationalpädagogischen Ansätze des 18. Jahrhunderts. Sofern Theoretiker der Nationalerziehung nicht auf das als allzu liberal geltende Philanthropin als Schulmodell von Basedow zurückgreifen wollten, waren sie gezwungen, eigene Überlegungen der Schulstruktur betreffend anzustrengen.

Die zweckmäßigen öffentlichen Schul- und Erziehungsanstalten könnten ihren Zweck für den Staat nur dann erfüllen, wenn sie von Kindern auch besucht würden, so Voß.Footnote 63 Diese doch recht pragmatische Überlegung des Staatsrechtlers („der Staat gibt, also darf er verlangen“) unterscheidet ihn innerhalb dieser Untersuchung von seinen Vorgängern, welche weniger auf die Macht des staatlichen Apparats bedacht waren. Würde eine allgemeine Schulpflicht jedoch nicht eingeführt, sollte nach dessen Überzeugung ein Privatlehrerseminar entstehen, welches vom Staat überwacht und in welchem die Ausübung sittlicher Erziehung an Kindern eingeübt werden sollte.Footnote 64 Jedoch stellte diese Möglichkeit für Voß eine allenfalls unbefriedigende Lösung dar, weil seiner Ansicht nach die Kultur eines Staates nur dadurch gleichförmig befördert werden könnte, „wenn alle Staatsbürger in öffentlichen Institutionen erzogen und unterrichtet“Footnote 65 würden. Diese Vorstellung zeugt von einer sehr verallgemeinernden Vorstellung des Autors von Kultur, die nicht nur gleichförmig befördert werden sollte, sondern mit hoher Wahrscheinlichkeit im Ergebnis gleichförmig beziehungsweise vereinheitlicht zu sein hatte.

Der Staatsrechtler sprach sich innerhalb des nationalpädagogischen Diskurses als erster dafür aus, private Bildung und Erziehung gänzlich abzuschaffen. Diese Radikalität, welche chronologisch betrachtet mit seiner Überlegung beginnt, setzte sich später in der noch radikaleren Philosophie von Johann Gottlieb Fichte fort. Voß unterstellte Eltern, die ihre Kinder privat bilden und erziehen ließen, gar ein Misstrauen gegen die öffentliche Hand.Footnote 66 Er plädierte trotz seines Unverständnisses für private Bildung und Erziehung nicht für einen Internatscharakter von staatlichen Bildungseinrichtungen. In der Kombination von öffentlichem Unterricht mit „häuslichem Umgang“ sah er einen Gewinn in der Entwicklung des Kindes.Footnote 67 In Fällen, bei denen in Familien keine sittliche Erziehung im Sinne des Staates erfolgt oder erfolgen kann, sollen jedoch Institute berechtigt sein, Kinder aus den Familien gänzlich zu entnehmen.Footnote 68 In diesen Instituten sollten familienähnliche Strukturen herrschen, die Pädagogen mit den Kindern zusammenleben und selbst Menschen mit fundierter Lebenserfahrung sein.Footnote 69 „In ihnen könnten häusliche Erziehung und öffentlicher Unterricht zusammen greifen und vollkommen planmäßig zu dem gemeinschaftlichen Ziele hinwirken“,Footnote 70 so Voß.

7.4 Erziehung als Aufgabe des Staates

Wie der Professor gedachte, das Mammutprojekt einer Erziehung für den Staat finanziell zu bestreiten, erläuterte er im zweiten Band seiner Schrift „Versuch über die Erziehung für den Staat“. Es schwebte ihm vor, dass ein sogenannter „Erziehungs- und Unterrichts-Fond“Footnote 71 gegründet werden sollte, welcher sich mit Mitteln der mit Geldern zweckwidrig umgehendenFootnote 72 kirchlichen Institutionen speisen sollte. In Zusammenhang mit der Gründung eines Fonds zur finanziellen Umsetzung des Gesamtvorhabens stand auch die Teilenteignung der Kirchen, was seinen Ansatz als einen in staatspädagogischer Hinsicht radikalerem als auch „unchristlicherem“ Ansatz erscheinen lässt als die vor ihm erdachten Vorhaben von Basedow und Resewitz.

Voß stellte offen die Frage nach der Sinnhaftigkeit der Vielzahl von Kirchen sprach eine Enteignung von kirchlichen Gebäuden und Grundstücken, welche für die neuartigen Lehranstalten notwendig waren, an. Dem Staatsrechtler zufolge, sollte der Staat sich des kirchlichen Kapitals bereichern, um etwa Lehranstalten nach der neuen Erziehung errichten zu können.Footnote 73 Seine Schrift ist ein im Zeitalter der frühen Nationalerziehung erstes Zeugnis von radikalen Forderungen wie der Enteignung des Klerus und eines klaren Benennens vom Scheitern der Kirchen in der Erfüllung ihrer gesellschaftlichen Aufgaben und Pflichten. Jene Forderungen waren seinerzeit ein Wagnis, welches im preußischen Publikationswesen kein Autor vor dem Ausbruch der französischen Revolution von 1789 eingegangen wäre.

Voß war jedoch Realist und weise genug, die neuartige Erziehung und Bildung, wenn auch sie zuarbeitende Elemente für den Staat sein sollten, entgegen seiner eigentlichen Wünsche,Footnote 74 nicht ausschließlich in die öffentliche Verantwortung zu übertragen. Zu groß wäre die Gefahr gewesen, dass das Gesamtprojekt aufgrund des ohnehin fragilen und pluralistischen Staatswesens in Deutschland in sich zusammenfällt. Denn zu dessen Umsetzung hätte es eines starken und einheitlichen Staates bedurft.

Der Staatsrechtler entwickelte daher eine Idee, wie zwar Aufgaben subsidiär aus staatlicher Verantwortung abgegeben werden können, sein nationalpädagogisches Vorhaben dadurch aber nicht gefährdet sein würde. Denn schließlich sollte dieser noch nicht existente einheitliche starke Staat in Deutschland sich aus den Ergebnissen dieses gigantischen Erziehungs- und Bildungsprozesses, dem sogenannten Humankapital, erst noch nähren. Voß äußerte hierzu: „Die Erziehung für den Staat kann, wie jede Erziehung für jeden andern Zweck, eine Privat- und eine öffentliche Erziehung seyn.“Footnote 75 Damit wird deutlich, dass Voß zwar das Subsidiaritätsprinzip zuließ, die private Hand jedoch die Interessen des Staates bedingungslos zu verfolgen hatte. Denn ansonsten hätte die Maxime, dass Erziehung hohe Angelegenheit des Staates zu sein habe, nicht durchgesetzt werden können. Folglich hätte es nach seinem Modell Kontrollmechanismen geben müssen, um zu überprüfen, ob die privat organisierte Erziehung und Bildung als eine Staatserziehung im Sinne der staatlichen Agenda verfolgt wird.

Geht man davon aus, dass sich hinter der Stärkung eines starken Staates mit patriotischen Bürgern eine Militarisierung verbirgt, liegt man falsch. Ein weiteres Mittel zur finanziellen Unterstützung des „Erziehungs- und Unterrichts-Fonds“ sah Voß nämlich in einer Reduzierung der Größe des preußischen Militärs, wovon er sich Einsparungen erhoffte, welche in Fond fließen sollten.Footnote 76 Dies zeigt letztlich, dass er nicht nur mit den Kirchen abrechnete, sondern auch die Entscheidungen der bis dato regierenden preußischen Könige für verfehlt hielt; etwa die Entscheidung Friedrichs II., das Militär enorm auszubauen.

So, wie der Staat nach Voß’ Überzeugung ein Recht auf die Bestimmung von Bildung und Erziehung haben sollte, sollte dieser in die Wissenschaften eingreifen dürfen. Seiner Auffassung nach halfen Wissenschaften Barbarei und Unwissenheit des Volkes zu verhindern. Wissenschaften seien daher, ebenso wie die schulische Erziehung, Sache des Staates, für die der Staat Fürsorge und Unterstützung leisten müsse.Footnote 77 Diese Forderung hätte eine Abschaffung der Unabhängigkeit und Freiheit von Forschung und Lehre bedeutet. Gleichermaßen wäre dem „neuen System“ mit der unabhängigen Wissenschaft eine wichtige Kontrollinstanz verloren gegangen. Jene Forderung des Staatsrechtlers stand ferner im Widerspruch zum Zeitgeschehen; so wurden ab dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts vermehrt Akademien und Universitäten gegründet.

Voß sah ferner vor, die Universitäten aufzulösen,Footnote 78 da fortan nur noch Bürger- und Gelehrtenschulen geben sollte. Diesen harten Einschnitt in die bereits zu seiner Zeit jahrhunderte alte Tradition von Universitäten begründete er damit, dass das Expertenwissen fortan an den jeweiligen dafür vorgesehen Instituten der Bürgerschulen benötigt würde. Ein Staat ohne Universitäten ist aus heutiger Sicht nur schwer vorstellbar und hätte selbst zu seiner Zeit den Verlust von Prestige und Elitenbildung bedeutet, welche man beide erst im Verlauf des 18. Jahrhundert noch mühevoll aufzubauen suchte. Beispiele hierfür sind die Gründungen der Universitäten in Göttingen 1737, in Erlangen 1743 und in Münster in Westfalen 1773.

Letztere Universitätsgründung wurde zu einem großen Politikum in Preußen, da mit der Gebietsausbreitung Preußens nach Westfalen und in das Rheinland nach dem Sieg über Napoleon die Münsteraner Universität die einzige im protestantisch geprägtenFootnote 79 Königreich war, welche in einer ausschließlich katholischen Region beheimatet war. 1813 mündete der daraus resultierende Konfessionsstreit schließlich in der Degradierung der Universität Münster zu einer Akademie unter Aberkennung ihrer Universitätsrechte. Voß ging daher nicht „mit dem Zeitgeist“, da er die Wichtigkeit von Universitäten für Staaten und das staatspolitische Renommee nicht erkannte, welches zur damaligen Zeit eine mindestens gleichbedeutende oder gar noch größere Rolle spielte als heute.Footnote 80

7.5 Staatsbürgerliche Erziehung nach Voß

Voß ging davon aus, dass Liebe zum Staat und die notwendigen Kenntnisse, um sich in diesem gut zu arrangieren, erlernt werden könnten. Dies zu ändern betrachtete er als die große gesellschaftliche Aufgabe seiner Zeit. Es lässt sich bereits insofern ein „roter Faden“ in dem Diskurs um Nationalerziehung zwischen 1763 bis 1799 konstatieren, als dass auch Voß einen besonderen, auf das Nationale abzielenden Unterricht forderte: „Sind die Begriff, vom Staate und dessen Zwecke, von Rechten und Pflichten der Staatsbürger […] keine Hirngespinste; ist Patriotismus, oder Bürgersinn, keine Chimäre: so müssen jene erlernt und dieser erlangt werden können; […] es muß also ein besonderer Unterricht, eine eigenthümliche Gewöhnung dahin gerichtet werden.“Footnote 81 Er beklagte, dass die Art, wie Staaten sich in der Vergangenheit um die Belange der einfachen und ärmeren Bevölkerungsschicht umsorgt haben, nicht dazu beitragen konnte, dass jene Menschen den Staat in das Zentrum ihres Nachdenkens rückten.Footnote 82

Gerade hier erinnern wir uns an die Schrift „Ueber die Versorgung der Armen“ von Resewitz von 1769, um nur eines von vielen Beispielen zu nennen, die mehr Repressalien als echte Fürsorge des Staates haben erkennen lassen. Die Umstände, wie mit von sozialer Benachteiligung Betroffenen umgegangen wurde, war für Voß eine Hauptursache, dass sich in Europa revolutionäre Tendenzen verbreiten konnten, die zum allmählichen Zusammenfall des Feudalwesens und zur Staatsrevolution in Frankreich 1789 führten. Für Preußen, welches seit 1794 ohnehin bereits französisch besetzt war, und Deutschland wollte er Letzteres verhindern.

„Wie können Unterthanen, die nur immer erinnert werden, daß sie Unterthanen sind ein Staatsbürger-Interesse erhalten?“,Footnote 83 fragte Voß in diesem Zusammenhang seine Leserschaft sehr trefflich. Er beklagte, dass „Staatsphilosophen“ bereits erkannt hätten, dass es für jeden Staatsbürger eines besonderen Unterrichts bedarf, damit dieser seine Rechte und Pflichten im Staat wahrzunehmen in der Lage ist, während politische Entscheidungsträger noch abstreiteten, dass es Bürger- und Untertatenpflichten gäbe.Footnote 84

Dass Voß, ebenso wie die allermeisten nationalpädagogischen Theoretiker, nicht bloß Kinder und Jugendliche, sondern Menschen jeden Alters erziehen wollte, machte sich daran bemerkbar, dass er jeden Menschen in Lage und in der Verantwortung sah, ein Leben lang zu lernen.Footnote 85 Jedoch ließ er dabei offen, ob das lebenslange Lernen lediglich auf für den Staat zweckmäßige Kenntnisse und Fähigkeiten oder auch auf die Aneignung eines deutschen Nationalgeistes bezogen war. Ihm schwebte vor, in allen „Schul- und Erziehungsinstituten“ Unterricht für Staatsbürgerkenntnisse einzuführen, den er mit dem Unterricht über Religionskenntnisse verglich.Footnote 86 Höheres Ziel der Erziehung zur Staatsbürgerlichkeit sollte es sein, den zu Erziehenden „die Notwendigkeit des Staats“ zu erläutern.Footnote 87

Daraus lässt sich konstatieren, dass jenes Verständnis von der „Notwendigkeit“ eines Staates, ohne dass dieser patriotischer Liebe seiner Bürger bedarf, auch für die Bundesrepublik Deutschland nach dem zweiten Weltkrieg gelten sollte. Auch Staatsoberhaupt Gustav Heinemann, Bundespräsident von 1969 bis 1974, legte den Deutschen die Auffassung nahe, dass der Staat eine „Notwendigkeit“ sei, um als verfassungsrechtliches Organ für Bürger da zu sein, Liebe jedoch im privaten Rahmen stattfinde. Diese öffentlich bekundete Haltung des bundesdeutschen Staatsoberhauptes begründete zu jener Zeit einen Wandel in der patriotischen Einstellung der Deutschen in der Nachkriegszeit.

Doch Voß beließ es nicht bei einer zu lehrenden „Notwendigkeit des Staates“, sondern erhob gar weitreichendere Forderungen, nach welchen Menschen nicht zum Zwecke ihres Menschseins, sondern nur um des Staatszweckes Willen gebildet und erzogen werden sollten: „Bey der ganzen Erziehung muß der Zweck des Staats nie aus den Augen gelassen […] werden. Auf diese Weise wird sich eine vollendete Erziehung für den Staat angeben und ausführen lassen.“Footnote 88 Ein Leben nur zu Staatszwecken zu führen, ist eine hervorzuhebende Überlegung dieses Ansatzes, welche sich mit den Wirren infolge der französischen Revolution und dem Mangel an Erfahrung mit diktatorischen Staatsformen erklären lässt.

Zu Voß’ Zeit sollten Zöglinge im staatsbürgerlichen Unterricht erlernen, sich selbst nur als Teil eines Ganzen zu betrachten und Forderungen an den Staat und die Regierenden niemals als eine eigennützige, sondern als eine für das Wohl der Gemeinschaft bedeutsame Forderung zu erheben. Er ging in seinen Überlegungen gar einen Schritt weiter, als er annahm, dass die im Unterricht erzeugte Betrachtungsweise auf Staat und Gesellschaft einen „Patriotismus oder Gemeingeist“ begründen werden.Footnote 89 Dies impliziert, dass es Voß nicht darum, vermeintlich altbewährte Einstellungen zu Bürgersinn, Nation und Staat zu übernehmen, sondern dass er der Jugend zutraute, eigene wegweisende Ideen zu entwerfen.

Patriotismus nach Voß war ein Patriotismus, welcher die Notwendigkeit des Staates einsieht und verteidigt und das Individuum dazu befähigt, sein Schicksal mit dem Schicksal der Gemeinschaft zu verbinden.Footnote 90 Wenn er ferner über Staatsdiener schrieb, meinte er damit vorwiegend Angehörige des Militärs und der behördlichen Verwaltung bei der Polizei, der Justiz und als auch Kameralisten an Adelshöfen, wie aus seinen Einlassungen hervorgeht. Staatsdiener, egal in welcher Position, sollten sich nach Auffassung von Voß „durch Einsicht und Patriotismus“ als ausgezeichnete Staatsbürger bewähren.Footnote 91 Dies ist jedoch einer von wenigen Punkten im Ansatz, der bereits dem damaligen status quo in Preußen nach der Regierungszeit König Friedrichs II. entsprach und an sich keinen neuartigen Denkanstoß enthielt. Neu war allerdings, dass Staatsdiener einen gesonderten Unterricht nur aufgrund ihres Merkmals Diener des Staates erhalten sollten, der in Hinblick auf die Erteilung von Kenntnissen über den Staat über den zur staatsbürgerlichen Erziehung hinausging.

Voß stellte sich vor, dass ausgebildete Staatsdiener, am Ende dieser speziellen Unterrichtseinheit etwa 15 oder 16 Jahre alt sein würden und sich zu diesem Zeitpunkt für eine berufliche Richtung in der Staatsverwaltung entscheiden sollten.Footnote 92 Jedoch mangelte es ihm nicht an der Erkenntnis, dass junge Menschen solch wichtige Entscheidungen später noch einmal korrigieren möchten und sah es vor, dass Staatsdiener den Dienst im Staate ohne Nachteile entweder wechseln oder gar ganz verlassen durften, um beispielsweise in der Industrie oder als Gelehrter zu arbeiten.Footnote 93 Damit sah Voß einen sehr dynamischen Vorgang vor, der junge Menschen für den Dienst im Staat anzuwerben versuchte, und der sogar noch im 21. Jahrhundert in der starrhalsig organisierten beruflichen Praxis des deutschen öffentlichen Dienstes seinesgleichen sucht.

Eine kollektivistische Staatsbürgergesinnung, die auf den ideellen Nutzen für die Gemeinschaft und den ökonomischen Nutzen für den Staat ausgelegt ist, und welche sich aufgrund des flächendeckend einheitlichen Unterrichts für Staatsbürgerlichkeit auf übereinstimmende Werte und Grundsätze stützt, war das im nationalpädagogischen Ansatz von Voß verfolgte Ziel. Hierbei ist es ein erstaunlicher Befund, dass ausgerechnet ein Staatsrechtler, dem die Revolution von unten ein Abscheu war, in seinem Ansatz auf kollektivistische Denkweisen zurückgreift. Jedoch finden wir genau jene Denkweisen am Ende des 18. und am beginnenden 19. Jahrhundert deutlicher häufiger als in anderen Epochen, was seine Ursachen darin haben mag, dass nach den vielen pädagogischen Schriften und gescheiterten Versuchen im 18. Jahrhundert ein Bedürfnis vieler pädagogischer Theoretiker anzutreffen war, in einer Art „Hau-Ruck-Verfahren“ endlich einen gelingenden „großen Wurf“ zu vollbringen.

7.6 Voß über die Deutschen und das „Deutschsein“

Ein wichtiger Aspekt der staatsbürgerlichen Erziehung war die Definition und die Lehre über den deutschen Nationalgeist. Das Fehlen dieser Denkweise oder auch das Implementieren eines solchen Nationalgefühls in den Schulen und Erziehungsanstalten war ein Kernanliegen in der frühen Phase der Nationalerziehung.

Klammern wir den aus heutiger Sicht umstrittenen Begriff „Nationalgeist“ ein und verwenden nur das für ihn stehende Anliegen, so ist eine bemerkenswerte Parallele aus dem Zeitraum der Untersuchung zur heutigen Zeit auszumachen; wenn auch aufgrund unterschiedlicher Ursachen. Ebenso wie zu Beginn des 21. Jahrhunderts waren Deutsche bereits im 18. Jahrhundert mit der Frage nach einer „Leitkultur“ beschäftigt. In das Zentrum der innenpolitischen Debatten zu Beginn des 21. Jahrhunderts wurden Fragen nach der Reglementierung von Zuwanderung, nach Einbürgerungstests über staatsbürgerliche Kenntnisse und nach einer Definition einer spezifisch deutschen Kultur gerückt. Vor ganz ähnlichen Herausforderungen standen die Deutschen zu Lebzeiten von Voß. Eine weitere Parallele hierbei ist, dass sowohl die damaligen intensiv debattierten Überlegungen zur eigenen nationalen Identität als auch die heutigen durch kontinentale Einwirkungen überhaupt erst aufgekommen sind.

Voß konstatierte, dass die unterschiedlichen deutschen Herzogtümer und Königreiche einen ebenso unterschiedlich ausgeprägten lokalen Nationalgeist hätten. Andere Regionen hingegen würde eine solche Denkart nicht besitzen, was auf eine divergierende Herangehensweise nationaler Erziehung hindeutet.

„Dennoch, – man muß darüber erstaunen, – finden sich in den verschiedenen Staaten Deutschlands auch Spuren von National-Geist. Der Sachse, der Preuße, haben in Vergleichung mit andern Bewohnern anderer Provinzen, Grundsätze eines National-Geistes von Kindheit an in ihrem Gemüthe aufgefangen, welche nur ausgebildet werden dürfen.“Footnote 94 Es lässt daraus schließen, dass Voß von der Aneignung eines Nationalgeistes auch auf überregionaler Ebene überzeugt war, welchen er aus den Keimen des jeweiligen provinziellen „Nationalgeistes“ heraus erzeugen wollte. Radikale nationalistische Tendenzen sind dessen Ansatz weniger anzutreffen als ein nationales Interesse im pädagogischen Denken im Allgemeinen. So legte er dar, dass seine staatsbürgerliche Erziehung nicht mit einem Desinteresse oder gar einer Ablehnung anderer Länder und Kulturen einhergehen darf und verwendete gar den Begriff des „Kosmopolitismus“.Footnote 95

Für Voß bedeutete Kosmopolitismus, dass andere Länder auf ihre natürliche Weise einen eigenen Nationalgeist pflegen, was aus seiner Sicht durchaus vorteilhaft war. Diesen Grundsatz übernahm acht Jahre später auch der Philosoph Fichte in seinen Vorlesungen „Reden an die deutsche Nation“. Voß’ Überzeugung nach sollte jeder Staat über einen eigenen nationalen Geist verfügen, was seine Idee von der kollektivistischen Denkweise im Unterricht der staatsbürgerlichen Erziehung unterstreicht. Im Vergleich Deutschlands mit anderen europäischen Nationen, beklagte der Staatsrechtler, dass diese sich bereits lange durch einen „Nationalgeist“ auszeichneten, womit er der Einschätzung Resewitz’ und Campes widersprach. So sei auch der Vorwurf gegenüber manch anderen Ländern in Europa, welche er nicht benannte, ungerecht, dass diese keinen „Nationalgeist“ erzeugen könnten.Footnote 96 Ihm zufolge konnte und sollte jedes Land einen „Nationalgeist“ entwickeln.

Als spezielle Nation in Europa, in welcher kein Nationalgeist zu erwecken sei, meinte Voß insbesondere das Heilige Römische Reich Deutscher Nation, welches sich 1799 bereits im schleichenden Auflösungsprozess befand. Daraus schließt sich einmal mehr, dass „Deutschland“ zu Zeiten dieser Publikation eine fast bemitleidenswerte Rolle zukam, während andere europäische Länder kulturell und wirtschaftlich prosperierten und Vorbild waren. Voß brachte diese Gefühlslage als auch seine Kritik, die den nationalpädagogischen Diskurs epochenübergreifend auszeichnet, beispielhaft in anklagenden Fragen auf den Punkt:

„Was hat man, besonders in den Staaten unsers Vaterlands, gethan, um einen National-Geist zu wecken und zu nähren. Hat man in unsern Unterrichtsanstalten den Zögling auf den Werth, die Vorzüge, die Eigenthümlichkeiten des Staats aufmerksam gemacht? Hat man sie gelehrt, daß sie ihm besonders angehören? […] Werden sie genugsam daran erinnert, was Großes und Gutes in ihrer Nation und durch die vereinigten Kräfte ihrer Nation geschehen sey? […]“Footnote 97

Voß negierte jene Fragen und forderte, dass die Regierungen den Nationalgeist mehr beleben und die Nation daran erinnern sollte, dass sie eine Nation sei.Footnote 98 Betrachtet man die weitere Entwicklung der nationalpädagogischen Ansätze, gar über den Zeitraum der hier vorgenommenen Untersuchung hinaus, so ist festzustellen, dass exakt jene hier von ihm erwogenen Denkweisen und Rückschlüsse das Preußentum im 19. Jahrhundert stets begleiten werden und ihren Höhepunkt in der kaiserlich-wilhelminischen Ära finden werden.

7.7 Bürgererziehung für die Industrie

Voß’ Ansicht nach habe man in der Vergangenheit zu wenig unternommen, um „auf das Verhältniß des Industrie-Bürgers im Staat, oder auf Industrie, als Mittel, zur Erreichung des Staatszwecks“Footnote 99 zu achten. Er beklagte, dass die junge Menschen in der Vergangenheit in Industrieschulen vorwiegend als billige Arbeitskräfte missbraucht wurden. Ein höheres Verständnis für industrielle Arbeitsweisen und für die Industrie als Ganzes seien nicht vermittelt worden, worin der Autor einen Fehler erkannte. Bisherige Industrieschulen beschrieb er, aus der Sicht heutiger geschichtswissenschaftlicher Erkenntnisse zutreffenderweise, als Institute, in den Kinder aus den „geringsten und ärmsten Volksklassen“ Handarbeiten als Beschäftigung erhielten, da man ansonsten mit diesen Kindern nichts anzufangen wusste.Footnote 100 Darin sah der Staatsrechtler verlorenes Potenzial, da nicht auf die künftige Bestimmung jener Kinder im Staat hingearbeitet werde.

Deutlich wird, dass Voß daran gelegen war, die Agenda einer möglichst produktiven Bürgerschaft im Staat zu verfolgen. Dafür hatte nach seiner Auffassung der Staat im eigenen Interesse zu sorgen. Dabei fällt besonders eine Intention des Hallensers auf, welche sich gleichermaßen in den heutigen, sehr lebhaft geführten Diskurs um den sogenannten „aktivierenden Sozialstaat“ übertragen lässt: „Ein jeder Staat, dem daran gelegen ist, seine Kräfte zu vermehren, den Grad ihrer Thätigkeit zu erhöhen, wird auch, vor allen Dingen, seine Aufmerksamkeit dahin richten, die Summe der unproductiven Staatsbürger zu vermindern.“Footnote 101

Junge Menschen sollten im Sinne der Industrie-Bürgererziehung nach Voß mindestens im gleichen Maß zur geistigen Tätigkeit angeregt und ausgebildet werden, wie zur körperlichen.Footnote 102 Er glaubte daran, dass die geistige Ausbildung die Produktivität von Menschen steigern könne und sogar müsse. Dies war wohl im ausgehenden 18. Jahrhundert das entscheidende Argument, um vor allem Eltern von Kindern in ländlichen Regionen nicht vor die schwierige Entscheidung zu stellen, ob diese in der Landwirtschaft oder dem Handwerk mithalfen oder sie eine Schulausbildung erhielten. Voß’ Argument war damit eine große Chance für die Kindergeneration um 1800, erstmals in den Genuss tatsächlicher sozialer Aufstiegschancen zu geraten.

Lange vor Otto von Bismarcks Zeit lässt sich daher konstatieren, dass sein Modell aufgrund der angedachten Minimierung unproduktiver Kräfte als auch der in Aussicht gestellten Chancen auf Bildung als nationalpädagogisches Modell „Zuckerbrot und Peitsche“ umschrieben werden kann.

Das Wesen der Industrie-Bürgererziehung sollte sich aus der Gewerbslehre, der Industrielehre, der Lehre über die Haushaltskunst und über die Wirtschaftslehre zusammensetzen.Footnote 103 Diese sollten den Staatsbürger dazu befähigen, Eigentum zu erwerben und zu unterhalten. Dies zu tun, sollte für alle Staatsbürger verpflichtend sein.Footnote 104 An jener Stelle lässt sich ein gewisser Grad an Realitätsabkehr diagnostizieren, da gerade Menschen aus sozial benachteiligten Gesellschaftsschichten, auch bei großer finanzieller Anstrengung und trotz guter Ausbildung in den genannten Einzeldisziplinen der „Industrie-Bürgererziehung“, nicht in der Lage gewesen wären, Eigentum zu erwerben. Die Realität um das Jahr 1800 war vielmehr, dass sich infolge der Landflucht Familien des sogenannten Proletariats in Großstädten Wohnstuben teilen mussten, welche oftmals gar nur stundenweise vermietet wurden, und in denen aufgrund mangelnder Rückzugsmöglichkeiten und schlechter Hygiene äußerst prekäre Zustände herrschten.

Eine Industrie-Bürgererziehung nach Voß sollte bewirken, den zu Erziehenden den Wert des Gewerbes und der Industrie für sie persönlich, aber auch für den Staat, näher zu bringen.Footnote 105 Dem Einzelnen sollte etwa durch eine Einführung darin, wie man durch gut ausgeübtes Gewerbe „reich“ werden könne,Footnote 106 der Unterricht in Industrie und Gewerbe schmackhaft gemacht werden. Diese sozusagen erlernte Wertschätzung setzte sich hierbei als roter Faden im hiesigen Konzept fort. Insgesamt, so lässt sich festhalten, spielte die Wertschätzung des Bürgers dem Staat gegenüber, und für alles, was dem Staat zugute kommt, eine im Konzept überragende Rolle.

Voß’ anhaltende Kritik an den Zünften, die ohnehin 1799 bereits aufgehoben waren,Footnote 107 mündete in dem Vorschlag, dass Lehrlinge handwerklicher Berufe ihr jeweiliges Handwerk in öffentlichen Handwerksschulen erlernen sollten, in welchen künftig alle Handwerksberufe zentralisiert unter staatlicher Kontrolle ständen.Footnote 108 Er begründete dies mit der unbelegbaren Annahme, dass Mitglieder von Zünften, selbst im Ausland, zu Unruhen und Aufständen anzetteln würden,Footnote 109 was des Autors Ansicht nach an dem Charakter eingeschworener Gemeinschaften dieser Berufsgruppen lag. Öffentliche Handwerksschulen, die nach Möglichkeit auch als Fabrikanstalten hätten betrieben werden können,Footnote 110 hätten genau diese Strukturen aufgebrochen und damit, folgt man Voß’ Gedankengang, zum sozialen Frieden verholfen. Damit lag seine Industrie-Bürgererziehung die Sorge vor sozialen Unruhen zugrunde, welche sich, etwas provokant formuliert, auf die Formel „Fabrik statt Aufstand“ abkürzen lässt.

Dabei sollten nach Voß’ Überlegungen nicht nur spezielle Industrie-Bürgerschulen, sondern gänzlich alle staatlichen Bildungs- und Erziehungseinrichtungen einen in der Folge ihrer Erziehungsresultate für den Staat zweckmäßigen Charakter besitzen. Er glaubte daran, dass „zweckmäßige Bürgerschulen“ die Produktionsindustrie erhöhen und „verbreiten“ werden, wovon sich der Hallenser eine „wohltätige Wirkung“ für den Staat erhoffte.Footnote 111 Demnach fielen nicht allein den Industrie-Bürgerschulen die Funktion der Generierung von staatlichem- und Produktionswachstum zu, was der auf die Belange der Industrie ausgerichteten Erziehung innerhalb des Ansatzes noch einmal Nachdruck verleiht.

Interessant ist insbesondere der Befund Voß’ zum seinerzeitigen nationalen Wetteifer in Europa um industrielles Wachstum. In dieser Folge sah er alle Staaten danach trachten, die „größte und regsamste Anzahl von Industrie-Bürgern“ zu erziehen und durch deren Betriebsamkeit den größten „Nationalreichtum“ zu erlangen.Footnote 112 Anhand von Grundüberzeugungen wie dieser, die für jene Zeitepoche beispielhaft ist, lässt sich erklären, weshalb radikale sozialistische und kommunistische Antworten auf die kapitalistische Produktionsweise, wie etwa die von Karl Marx und Friedrich Engels, ab der Mitte des 19. Jahrhunderts in breiten Bevölkerungsschichten Resonanz erfuhren und deren Publikation von Seiten des preußischen Staates bekämpft wurde.

7.8 Das Frauenbild in Voß’ Ansatz

Voß sah in der gesellschaftlichen Emanzipation der Frauen einen überfälligen Schritt. Zu den Widersprüchen im Ansatz des Hallensers gehört jedoch, dass er sich bei der Durchsetzung des gesellschaftlichen Fortschritts, wie etwa eines moderneren Frauenbildes, auf revolutionäre Ereignisse seiner Zeit beruft. Denn der Staatsrechtler hielt Theorien zur philosophischen Aufklärung und die französischen Einflüsse an anderer Stelle für staatsgefährdend. Beide Umstände waren allerdings, darin ist sich die gegenwärtige Geschichtswissenschaft einig, maßgeblich daran beteiligt, dass Frauenrechte und überhaupt Menschenrechte im Allgemeinen, in weiten Teilen von Staat, Kirche und Gesellschaft am Ende des 18. Jahrhundert mehr Aufmerksamkeit erhielt als noch zuvor. Zu dem gesellschaftlichen Fortschritt einhergehend mit Frauenrechten äußerte sich Voß wie folgt:

„Alle cultivirte [sic!] Nationen gestehen jetzt dem Weibe, wie dem Manne, die Rechte eines sittlichen Wesens zu. […] Allein seitdem man dies eingesehen hat, ist man auch genöthigt, dem Weibe eine Stelle in dem Staatbürger-Verhältnisse einzuräumen.

Wenn das Weib, gewiß zu seinem Glücke, in seiner Wirksamkeit zunächst auf den Zirkel des Hauses und der Familie eingeschränkt ist, so wird es dadurch noch keineswegs aus jedem bürgerlichen Verhältnisse zurück gedrängt.“Footnote 113

Dies zeigt, dass der Zirkel des Hauses und der Familie aufgewertet werden sollte; denn neu war, dass Tätigkeiten innerhalb dieses Zirkels als bürgerliches Verhältnis, das auch dem Staate zugute kommt, anerkannt wird.

Anders als beispielsweise Basedow noch 1770 sprach Voß Frauen dabei eine gewisse Emanzipation gegenüber ihren Ehemännern zu, auch wenn er deren Wirkungsstätte in nur Haus und Familie sah. Diesen, wenn auch noch sehr geringen, emanzipatorischen Fortschritt sah er, durch die Aufklärung begünstigt (welche er eigentlich verschmähte, wie wir in vorherigen Ausschnitten feststellen konnten), in Preußen und Deutschland bereits Einzug erhaltend. Andere Länder und Kulturen hingegen sah Voß im Punkte der gesellschaftlichen Stellung der Frau noch nicht so weit. Diese Rückständigkeit kommentierte der Staatsrechtler wie folgt: „Daß in manchen Staaten immer noch Ueberreste jener alten Barbarey sind, welche das Weib zum Sclaven des Mannes machte […] ändert in der Sache nichts.“Footnote 114

Erstaunlich offen zeigte sich der Staatsrechtler auch gegenüber Tendenzen, das männliche Patriarchat in seine Schranken zu weisen. So sollte eine Erziehung für den Staat, welche auch das weibliche Geschlecht zu seiner Bestimmung planmäßig vorzubereiten sucht, fähig sein, den männlichen Egoismus zu „beschämen“.Footnote 115 Dieser Ausruf ist nicht nur für das Jahr 1799, sondern auch für einen Honoratior wie Voß außergewöhnlich. Außergewöhnlich ist auch, den Befund stellen zu müssen, dass das Thema der Geschlechtergerechtigkeit, wie er es verstand, im 21. Jahrhundert weiterhin aktuell ist. Ein auf heute übertragbarer Gegenstand des Ansatzes von Voß ist daher die Aufgabe des Staates und staatlicher Institutionen zur Erziehung für Geschlechtergerechtigkeit. Gerade in unserer gegenwärtigen Zeit drückt sich dies im Form von Diskursen und staatlicher Verordnungen über eine Quote von Frauen der Unternehmensbeschäftigung und in der Repräsentation von Frauen als auch in der der Verwendung einer sogenannten „geschlechtergerechten“ Sprache aus.

Obgleich Voß die Frau als Subjekt im häuslichen Kontext sah, sprach er ihnen, als einer der ersten Nationalpädagogen überhaupt, eine im Staat hervorragende Rolle zu. Mehr noch, gestand er ein, dass Frauen die Existenz des Staatswohlstands erhalten: „Hausfrauen-Eigenschaften und Tugenden sind für den Staat von hoher Wichtigkeit. Man kann dreist behaupten: daß der Staats-Wohlstand durch sie begründet, – durch sie erhalten werden könne. Mit ihnen wird er zunehmen, sich verbreiten; mit ihnen sinken, verschwinden.“Footnote 116

Wenn auch Voß Frauen in dieser Rolle sah, sprach er sich dafür aus, ihnen die Teilnahme am Unterricht öffentlicher Handwerks- und Künstlerschulen nicht zu untersagen. „Ungerecht und unzweckmäßig würde es seyn, von der Theilnahme an solchen Anstalten das weibliche Geschlecht auszuschließen“,Footnote 117 so seine Annahme. Dies erweist sich entweder als Widerspruch innerhalb seines Ansatzes oder als Indiz dafür, dass der ansonsten sehr auf Gleichberechtigung setzende Staatsrechtler Voß Frauen deutlich mehr Arbeit zumuten vermochte als den Männern. Denn somit hätten Mädchen nicht nur häusliche Pflichten zu erfüllen gehabt, sondern gleichermaßen eine berufsgruppenspezifische Ausbildung zu absolvieren, die die Jungen erhielten. In jedem Fall aber versuchte Voß männerdominierte Berufsgruppen für Frauen zu öffnen. Lediglich in der körperlichen Erziehung sah er ab einem gewissen Grad einen Unterschied zwischen Mädchen und Jungen. Die Natur und die bürgerliche Gesellschaften hätten Mädchen dazu bestimmt, sittsam zu leben, weshalb sie, neben ihrer sanfteren körperlichen Beschaffenheit als weiteren Grund, aus dem Unterricht der körperlichen Übungen früher entlassen werden könnten als die Jungen.Footnote 118

Voß erkannte, dass Mädchen und Frauen einen „wesentlichen und wichtigen Antheil an der Erziehung für den Staat“Footnote 119 hatten. Dieser Erkenntnis widmete er in seinem Werk ein ganzes Kapitel, was den Versuch verdeutlicht, dies seiner Leserschaft bewusst werden zu lassen. Dabei hatte er im Sinn, dass Frauen Bürgerinnen sein sollten,Footnote 120 womit er zumindest Frauen die gleichen Bürgerrechte einräumen wollte wie Männern. Hierzu äußerte der Hallenser: „Das Weib hat in der bürgerlichen Gesellschaft, deren Mitglied es ist, wie der Mann, auch eine bürgerliche Bestimmung, wie der Mann. […] Es wird eines Unterrichts und einer Erziehung bedürfen, um diese Kenntnisse und Gesinnungen sich zu eigen zu machen.“Footnote 121 Deutlich wird durch Voß’ Einlassungen, dass er beabsichtigte, das Volk insgesamt hinsichtlich der Akzeptanz von Frauen zu erziehen. Es bleibt zu vermuten, dass mit dieser Unterrichtung die Aufklärung von Jungen und Männern, Mädchen und Frauen über die Bürgerrechte und -pflichten von Frauen angedacht gewesen war. Er zog außerdem historische Vergleiche, mit denen er zu argumentieren versuchte, warum die Negierung bürgerlicher Rechte für Frauen aus gesamtgesellschaftlicher Perspektive nicht zu befürworten war. Sollte die Frau ein (dem Rest seines Ansatzes entsprechendes) sittliches Wesen sein, so könne man ihr nicht die Bürgerrechte absprechen.Footnote 122 Dies zeigt einmal mehr, dass Bürgerlichkeit und Sittlichkeit für Voß einhergingen.

Ganz dem zeitlichen Kontext und der überwiegenden Mehrheitsmeinung entsprechend, sah er die beruflichen Tätigkeiten von Frauen jedoch als Gattin, Hauswirtin und MutterFootnote 123 und diese zweifelsohne nicht auf einer Linie mit denen der Männer. Auch in staatliche Dienste durften Frauen nach den Vorstellungen des Staatsrechtlers nicht eintreten. Einen Dienst als Staatsdienerin sah Voß in „Kollision“ mit der von der Natur vorgesehenen Bestimmung der Frau.Footnote 124 Daher zeichnet sich die Tendenz des Autors einer zugewiesenen, nicht emanzipierten Bürgerlichkeit von Frauen ab.

Frauen sollten das Recht haben, Sicherheit und Schutz durch den Staat einzufordern.Footnote 125 Sie sollten ebenso wie Männer Gewerbe treiben und Eigentum besitzen.Footnote 126 Das weibliche Geschlecht sollte, ebenso wie das männliche, planmäßig darauf geschult werden, sich im Staat als zweckmäßig zu erweisen. Weshalb Frauen Bürgerinnen gleichen Ranges sein mussten, lässt sich auch daraus ableiten, dass Voß daran erinnerte, dass Ehen bürgerliche Verträge seien.Footnote 127 Diesen Ehevertrag überhaupt eingehen zu können, setzte voraus, über die bürgerlichen Rechte und Pflichten als Ehegattin, Hausfrau und Mutter aufgeklärt zu sein. Dies war ein weiteres Argument für die Bedeutsamkeit der durch ihn vorgesehenen speziellen Erziehung des weiblichen Geschlechts.

Voß erkannte in realistischer Weise, dass die Erziehung des weiblichen Geschlechts bislang vernachlässigt wurde und es ein schwieriges Unterfangen werden würde, Institute für die Erziehung des weiblichen Geschlechts zu gründen und für deren Betrieb überhaupt Erzieherinnen zu finden, die über eine geeignete geistige Grundhaltung entsprechend den neuen pädagogischen Überzeugungen verfügen,Footnote 128 damit diese neue Grundhaltung auch im den Köpfen der zu Erziehenden Einzug erhalten konnte. Die neuartige Bildung und Erziehung für Frauen und über die Rolle der Frau sah Voß in jedem Fall in Händen des Staates und nicht in der Familie. Seiner Ansicht nach wäre die richtige Ausübung der zweckmäßigen Erziehung für den Staat in diesem Bereich in Familien nicht überprüfbar gewesen.Footnote 129

Kritik übte Voß an den seinerzeit jungen Entwicklungen, Frauen in beruflicher Hinsicht aus dem traditionellen Bild der Mutter und Hausfrau lösen zu wollen,Footnote 130 welche sich in erster Linie mit den industriellen Veränderungen erklären lassen. Solche Entwicklungen lenkten die Frauen nur von ihrer „natürlichen Bestimmung“ ab, so seine Überzeugung.Footnote 131 Mädchen und Frauen sollten zu Bürgerinnen, Hausfrauen, Gattinnen und Müttern gebildet und erzogen werden.Footnote 132 Er stellte in diesem Zusammenhang die folgerichtige Frage, wie überhaupt Erzieherinnen der „ersten Generation“ erzogen werden könnten. Diese ungelöste Schwierigkeitserkenntnis, den Stein des Anstoßes für große Veränderungen aus Sicht der Nationalerziehung nur schwerlich ins Rollen bringen zu können, war bereits bei Resewitz zu konstatieren. In dieser Aufgabe betrachtete Voß eine der größten nationalpädagogischen Kraftanstrengungen, welche der Staat zu unternehmen habe.Footnote 133

Sein Ansatz macht daher innerhalb der Reihe der hier durchgeführten Untersuchungen besonders, dass das Scheitern der nationalen Erziehung von Mädchen und Frauen nach Auffassung des Autors das Scheitern des nationalpädagogischen Planes insgesamt bedeutet hätte.

Darüber hinaus überrascht in Voß’ „Versuch über die Erziehung für den Staat“ die bemerkenswerte Aussage, dass der hohe Wert, welchen man in der Gesellschaft auf „weibliche Geschicklichkeiten“ lege, eines der Haupthindernisse für die Erreichung eines „höheren und edleren Kultur“ sei.Footnote 134 Jene Tätigkeiten seien bloß mechanisch und deshalb noch nicht als etwas Besonderes anzusehen. Er prangerte insofern den Kleingeist an, nach welchem man Frauen vor allem für ihre Dienste als geschickte Wesen sehe und wertschätze. Es lässt demnach schlussfolgern, dass Voß es kritisierte, Frauen auf ihren Fleiß für Haushalt und Familie zu reduzieren – wenn auch der Autor deutlich, wie wir bereits feststellen konnten, deren Hauptaufgaben in jenen Bereichen sah. Gleichwohl ist es bemerkenswert, dass er dieses vermeintlich abträgliche Bild als ein Hindernis für eine edlere Kultur betrachtete. Eine so ausdrucksstarke Fürsprache für die Gleichberechtigung der Frau lässt sich in Schriften über Nationalerziehung um das Jahr 1800 nur selten konstatieren.

Staatsrechtler Voß sprach sich ferner dafür aus, dass Frauen mithilfe seiner Ideen lernen sollten, ihre „Bestimmung“, ihre „Würde“ und „Achtung gegen sich selbst“ zu erkennen und zu fühlen.Footnote 135 Dies wollte Voß mithilfe von reiner Verstandesbildung und Vernünftigkeit, welche alle Bürger im Sittlichkeitsunterricht erlernen sollten, der breiten Masse vermitteln. Dies ist insofern aufschlussreich, als dass deutlich wird, dass er in genau jenen Punkten im Jahr 1799 Defizite sah und diese offen benannte. Übereinstimmend mit heutigen pädagogischen Ansätzen, wenn auch mit anderen Begrifflichkeiten, ist der Versuch, zu mehr Gleichberechtigung unter den Geschlechtern zu erziehen und durch Bildung Chancengleichheit und Teilhabe insbesondere für Mädchen und Frauen herstellen zu wollen.

Frauen hielt Voß für ebenso patriotisch veranlagt wie Männer. Diese Eigenschaft sah er als natürlich gegeben und als etwas, das mithilfe des sittlichen und des staatsbürgerlichen Unterrichts geschliffen und veredelt werden sollte. Frauen ebenso einsichtig wie fähig zum Patriotismus zu halten, setzte voraus, ihnen zuzugestehen, ebenso wie Männer differenziert und analytisch denken zu können; was heute selbstverständlich, jedoch im historischen Kontext als ein besonderes Merkmal festzuhalten ist. „Wollte man zweifeln: ob das Weib patriotischer Gesinnungen eben so fähig sey, als der Mann; so würde man auch zweifeln müssen: ob es mit ihm gleich sittliche Gefühle, überhaupt eine gleichartige sittliche Natur theile,“Footnote 136 so die Ansicht des Autors.

Einen Unterschied zwischen Frauen und Männern sah der Hallenser jedoch darin, dass Frauen mehr zu „großen Taten“ aufmunterten als dass sie diese ausführten.Footnote 137 Klar hervorzuheben ist allerdings, dass Teilhabe in Voß’ Sinne nicht mit der heutigen Teilhabe von Mädchen und Frauen zu vergleichen ist. Wenngleich er über die Gleichwertigkeit und die gleichen Fähigkeiten von Frauen philosophierte, stellte er wenig später klar, dass Frauen nach der Erweckung des Patriotismus und nach Erlangen eines staatsbürgerlichen Bewusstseins, wieder zurück in den Schoss der Häuslichkeit und der familiären Aufgaben gehen sollten.Footnote 138 Insofern lässt sich verzeichnen, dass bei der Vermittlung beziehungsweise instinktiven Übertragung patriotischer Werte an die jeweils nachfolgende Generation eine Art Aufgabenteilung angedacht war. Frauen sollten den von Voß erdachten Patriotismus im häuslichen Bereich vermitteln, während Männer dies vorwiegend im beruflichen Kontext, durch einen Staatsdienst, geistige oder handwerkliche Leistungen für den Staat, ausüben sollten.

7.9 Körperliche Erziehung nach Voß

Voß setzte in seiner „Reihenfolge“ von einer Erziehung für den Staat zunächst auf die Körpererziehung. Dieser widmete er als eines von sechs Elementen seines Konzeptes ein eigenes Kapitel, welches jedoch im Gesamtbild, anders als die bereits besprochenen, nur gering ins Gewicht fällt. Als Körpererziehung verstand Voß in erster Linie eine Abkehr des Stillsitzens als bislang vorherrschende didaktische Methode des Unterrichts. Der Staatsrechtler kritisierte, dass in Elementarschulen jedwede Didaktik auf das Stillsitzen ausgelegt sei. Jede „Idee von Bewegung“ sei als heterogenes und damit störendes Element verbannt worden.Footnote 139 Unter den Voraussetzungen einer gelingenden körperlichen Erziehung für den Staat verstand Voß jedoch nicht nur Aufgaben zur körperlichen Ertüchtigung, sondern die körperliche Unversehrtheit von Kindern innerhalb der häuslichen Erziehung.Footnote 140

Sehr ausführlich ging der Hallenser auf den Schutz des ungeborenen Lebens und des Geburtsvorganges ein, worin er eine Menge an Versäumnissen von Hebammen und GeburtshelfernFootnote 141 sah. Offenbar zählte dies für Voß bereits zur Entwicklung des Körpers, wenn auch diese fremdbestimmt war, und damit zur körperlichen Erziehung. Er forderte sodann eine „Wochenstuben-Polizey“Footnote 142, um den Besucherandrang, welcher der Mutter und ihrem neugeborenen Kind zuteil wird, zu unterbinden. Er sah darin eine Gefahr für die Entwicklung der Lebenskraft und der Gesundheit für die werdenden Staatsbürger.Footnote 143

Es ist außerordentlich bemerkenswert, dass Voß Gewalt der Eltern an Kindern 1799 als ein „bürgerliches Verbrechen“ bezeichnet, da dies weitere rund zweihundert Jahre kein Straftatbestand werden sollte, wenn auch epochenweise in den Disziplinen der Erziehungswissenschaft und der Sozialpädagogik immer wieder über gewaltfreie Erziehung Diskurse geführt wurden. Auch an deutschen Schulen war physische Gewalt an Kindern und Jugendlichen bis in die 1970er-Jahre ein gesellschaftlich akzeptiertes Mittel der Sanktion. Der Vergleich jener Gewalt mit anderen Verbrechen, wie etwa dem Überfall oder dem Einbruch, unterstreicht die Gewichtung der Mission von Voß auf ein Recht auf gewaltfreie Erziehung, was sich als Kern des Wesens der körperlichen Erziehung in seinem Ansatz beschreiben lässt.

Aufgabe des Staates musste es nach Voß sein, jene im Verborgenen stattfindenden Verbrechen zu verhüten.Footnote 144 Leider unterbreitete er jedoch keine Vorschläge, wie solche staatlichen Versuche der Gewaltprävention hätten ausgestaltet werden können. Jene Aufgabe lag ihm zufolge in dem eigentlichen Staatsziel begründet, eine möglichst große Summe menschlicher Arbeitskräfte, aber auch, die möglichste Fülle von Leben und Gesundheit, zu erhalten.Footnote 145 Dabei war es ihm wichtig, dass bei diesem Ziel, der Fürsorge des Staates für die körperliche Entwicklung, das weibliche Geschlecht dem männlichen gegenüber nicht benachteiligt werden dürfe.Footnote 146

Für Jungen wie Mädchen seien Bewegung, gesunde Luft und körperliche Anstrengung wichtig, während Arbeiten, welche für die Körper der Kinder nachteilig seien, von diesen gemieden werden sollten.Footnote 147 Deutlich wird auch, dass Voß in der körperlichen Erziehung der Kinder und Jugendlichen den Schutz vor dem Verlust junger Leben sah; etwa dadurch, dass Kinder Schwimmen lerntenFootnote 148 oder durch das Beherrschen von Kletterkünsten, da diese zum Teil auch in handwerklichen Berufen, wie jenen des Dachdeckers oder Schornsteinfegers, von praktischem Nutzen waren. Auch hierdurch tritt aus der Fürsorge für den Menschen wie auch der körperlichen Erziehung der beabsichtigte wirtschaftliche Nutzen für den Staat hervor.

7.10 Voß’ Wirkung auf den nationalpädagogischen Diskurs

Das umfassende zweibändige Werk von Voß war das erste eines mit dem Wesen des Staatsrechts befassten Theoretikers der Nationalerziehung. Er erdachte seinen nationalpädagogischen Ansatz anders als die um 1799 bereits existierenden. Er erweiterte den Blick der für den Staat rein zweckmäßigen Erziehung, wie ihn bereits Resewitz einbrachte, um den Aspekt der Autorität des angedachten Nationalstaates. Jene Autorität sollte die Gesellschaft im Innern stärken als auch den Staat nach außen hin resistenter gegen revolutionäre oder kriegerische Handlungen werden lassen.

Sittlichkeit unter den Bürgern sollte ebenso ausgeprägt sein wie das an industrielle Bedürfnisse angepasste Handeln der Bürger. Dabei balancierte Voß in seinen Argumentationslinien zwischen Plädoyers für die Entfesselung der Menschen von überkommenen Strukturen des 18. Jahrhunderts einerseits und für die Bewahrung bürgerlicher Tugenden und systemischer Autorität andererseits, was mitunter widersprüchliche Tendenzen hervorbrachte, wie die vorliegende Untersuchung aufzeigte.

Für die Historie der Nationalerziehung war der „Versuch über die Erziehung für den Staat“ von Voß aufgrund seiner facettenreichen als auch teilweisen neuartigen Überlegungen ein wichtiger Beitrag in der Schwellenzeit der französischen Besatzung in Preußen. Dabei griff er wichtige Fragen seiner Zeit auf, wie etwa die der Anwendung der reinen Vernunft, und verband diese mit dem Element nationaler Erziehung.

Der Staatsrechtler beeinflusste damit den Diskurs um Nationalerziehung in den folgenden Jahren wesentlich und richtete die Aufmerksamkeit auf neue Aspekte, welche fortan auch von weiteren Theoretikern nationalpädagogischer Ansätze aufgriffen wurden.

Voß kann daher als ein zu Unrecht in Vergessenheit geratener Vertreter der Nationalerziehung angesehen werden.