„Ein kulturelles Versagen“ -
Michael Hüter

„Ein kulturelles Versagen“

Warum findet keine Aufarbeitung der Schädigung von Kindern in der Corona-Zeit statt? Der Autor Michael Hüter erklärt, man habe „die Schwächsten am meisten leiden lassen“, was Ausdruck einer „tiefer liegenden Kulturkrise“ sei. Hüter fragt, „wie unsere Kinder, wenn sie erwachsen sind, mit uns umgehen werden, wenn sie in vollem Umfang realisieren, wie sie hier missbraucht wurden“.

PAUL SOLDAN, 21. Mai 2024, 3 Kommentare, PDF

Multipolar: Aufgrund der freigeklagten RKI-Protokolle wird im deutschen Bundestag derzeit über eine Aufarbeitung der Corona-Politik diskutiert. Einige fordern einen Untersuchungsausschuss oder eine Enquete-Kommission, andere äußern sich verhaltener und wollen keine „Sündenböcke“ suchen. Kinder waren von der Krankheit kaum betroffen, jedoch gleichzeitig die Gruppe, bei der Maßnahmen am stärksten umgesetzt wurden. Der Deutsche Caritasverband hat jüngst betont, dass Kinder in der Zeit „unverhältnismäßig stark gelitten“ hätten. Wie passt das zusammen: Auf der einen Seite das geringe Risiko, schwer zu erkranken und die Krankheit selbst zu verbreiten und auf der anderen Seite die Strenge der angeordneten Maßnahmen? Wie lässt sich das gesellschaftlich-kulturell einordnen?

Hüter: Wenn ich das Verhalten psychohistorisch betrachte, wage ich einmal die These, dass hier auch eine Abreaktion stattgefunden hat.

Multipolar: Sie meinen, dass die Gesellschaft aufgrund der eigenen Ohnmacht den Druck an die unterste Ebene weitergegeben hat?

Hüter: Genau. Eine Art, dass man die Schwächsten am meisten hat leiden lassen. Die Frage, die sich dazu nach Hannah Arendt stellt, ist, wann Totalitarismus möglich ist. Wenn eine tiefe Vereinzelung der Gesellschaft und eine tiefe unterbewusste Ausweg- und Perspektivlosigkeit zu einem Morgen vorhanden ist, ist das der Moment, in dem Totalitarismus erst greifen kann. In anderen Epochen war das Ventil dann Krieg oder Revolution, also Aggression nach außen. In der Coronazeit ging die Reaktion nach innen, vor allem auf die Kinder. 2020 ist ja schon das „Panik Papier“ an die Öffentlichkeit gelangt, wo herauskam, dass es Strategie der Politik war, die Situation zu dramatisieren und den Menschen, insbesondere den Kindern, Angst zu machen. Diese Zielscheibe auf das Kind war also vom ersten Moment an da.

Als ich damals mit meinem Sohn in Leipzig spazieren gegangen bin, sind wir auch an einem abgesperrten Spielplatz vorbeigekommen. Für ihn bedeutete das ein Zusammenbruch. Kinder erleben die Welt im Kleinen als Ganzes. Die Eltern, die Familie, die Freunde, der Spielplatz: das ist die Welt. Und wenn diese Welt abgesperrt wird und nicht mehr betreten werden darf, ist das rein psychologisch Stress. Hinzu kam, dass ihnen eingeredet wurde, sie könnten ihre unmittelbaren Nahestehenden umbringen, wenn sie dorthin gehen. Wir haben in der Historie viele irrwitzige Phasen gehabt. Dass aber Kinder Lebensgefahr für ihre engsten Nahestehenden bedeuteten, hat es nie gegeben. Und dass bis heute keine Aufarbeitung darüber stattgefunden hat, ist für mich ein kulturelles Versagen.

Bis heute gibt es keine offizielle Entschuldigung bei der nachfolgenden Generation. Herr Lauterbach hatte vor einiger Zeit erklärt, dass die Schulen nicht hätten geschlossen werden müssen – und es folgte kein Aufschrei von Eltern und Pädagogen. Für die Zukunft ist dann die Frage, wie unsere Kinder, wenn sie erwachsen sind, mit uns umgehen werden, wenn sie in vollem Umfang realisieren, wie sie hier missbraucht wurden.

Multipolar: Karl Lauterbach räumte im vergangenen Jahr ein, dass Kinder „die meisten Opfer erbracht“ hätten und „viele Kinder auch heute noch unter psychischen Störungen leiden“. Ihre Gesundheit sei „schlechter geworden.“ Neben psychischen Erkrankungen kam es zu Essstörungen, Entwicklungs- und Sprachdefiziten sowie Gewaltzunahmen. Der Bundesverband der Kinder- und Jugendärzte wies bereits nach dem ersten Lockdown im Jahr 2020 auf das Problem der sozialen Distanzierung für Kinder hin. Kinder hätten „oft keine gesellschaftliche Priorität“ und würden „als Subjekte mit eigenen Bedürfnissen schnell vergessen“. Haben Kinder in unserer Gesellschaft tatsächlich keine Priorität?

Hüter: In Wahrheit haben sie doch überhaupt keine mehr. Das fing bereits davor schon an, sonst hätte die Gesellschaft so gar nicht agiert. Auch wenn sich jetzt Verbände und andere so äußern, haben Sie zuvor doch letztendlich geschwiegen. Dazu gab es schon im Mai 2021 eine Expertenrunde mit Stefan Hockertz, Christian Schubert, Harald Walach und mir. Von Anfang an war klar, welche Folgen das für die Kinder haben würde. Im Herbst 2020 hatte ich RT Deutsch ein Interview gegeben, wo bereits alle Zahlen und Fakten vorhanden waren, dass Kinder von diesem Virus nicht betroffen sind. 2020 sind 10 und bis Stand Februar 2022 insgesamt 21 Kinder an oder mit Corona verstorben. Diese Kinder waren jedoch zum Großteil schwerstens vorerkrankt. Welchen Wert haben Kinder? Das wäre eine Frage, die sich die Gesellschaft einmal stellen müsste.

Multipolar: Können Kinder, unabhängig von Corona, in unserer Gesellschaft frei und kindgerecht, also im Sinne ihrer Bedürfnisse aufwachsen?

Hüter: Nein. Wie gesagt geht diese Entwicklung schon länger. Wenn wir uns die letzten Jahrzehnte im Zeitraffer anschauen, haben wir die Zeit, die Kinder außerhalb der realen Wirklichkeit verbringen, also in Kitas und Schulen, im Namen von Arbeit und Konsum massiv ausgedehnt. Das heißt, die breite Masse der Kinder ist immer früher von der Familie und der Öffentlichkeit getrennt worden und verbrachten ihre Zeit in Bildungsreservaten, wie ich sie nenne, immer länger. Dann ist irgendwann auch noch Social Media dazugekommen, wodurch sie die wenige freie Zeit in der nächsten „Matrix“ gefangen sind. Die Konsequenz daraus ist, dass nicht nur Kinder und Jugendliche kaum mehr real in Kontakt oder in Beziehung mit Erwachsenen und der öffentlichen Gemeinschaft kommen, sondern umgekehrt auch nicht mehr die Erwachsenen mit Kindern!

Schon in meinem 2018 erschienenen Buch „Kindheit 6.7“ hatte ich die Frage aufgeworfen, wie viele Menschen mit 0- bis 12-Jährigen im Alltag real überhaupt noch in Berührung kommen. Der Blick auf das Kind ist seit längerem ein rein medialer, und damit ein reduzierter. Vereinfacht gesagt haben wir den realen Kontakt zum Kind weitgehend verloren. Also, wie reagiert das Kind? Was hat es für Ängste und Sorgen? Mit all diesen Bedürfnissen von Kindern kommen wir als breite Gesellschaft schon länger nicht mehr in Berührung. Ebenso wenig mit ihrem Lachen und ihrer Freude. Außer man hat selbst ein Kind. Vor einigen Jahren gab es eine Erhebung, bei der herausgekommen ist, dass Eltern nur noch zwölf Minuten pro Tag mit ihren Kindern sprechen. Das heißt, hier ist im Namen von Arbeit und Konsum ein hoher Grad von Entfremdung passiert.

Der französische Philosoph Blaise Pascal hat im 17. Jahrhundert gesagt: „Die Mitte zu verlassen, heißt, die Menschlichkeit zu verlassen.“ Dieses Thema haben wir in unserer westlichen Kultur auf allen Ebenen. Es gibt nur noch eine reduzierte Rechts-Links-Debatte, wo übersehen wird, dass sich 40 bis 50 Millionen Menschen, die eigentliche Mitte dieser Gesellschaft, auf keiner Seite mehr wiederfinden können. Es gibt aber nicht nur die politische Mitte, sondern auch eine gesellschaftliche. Und diese gesellschaftliche Mitte sind die Familien und die Kinder. Sie sind das Bindeglied zwischen Vergangenheit und Zukunft.

Multipolar: Im Jahr 2023 kam der Film „Können 100 Ärzte lügen?“ von Kai Stuht heraus, in dem eine Vielzahl deutschsprachiger, medizinischer Experten unterschiedlichster Bereiche über die Coronakrise zu Wort gekommen sind. Auch Sie wurden für diesen Film interviewt. Sie sagten dort, dass, wenn man sich den gesellschaftlichen Umgang mit den Kindern in der Corona-Zeit anschaut, man „das Ende von etwas“ beobachten konnte, das Ende von einer Gesellschaft, einer Kultur. Können Sie das erläutern?

Hüter: Als Kindheitsforscher bin ich davon überzeugt, dass der Umgang mit Kindern in den Pandemiejahren ein Symptom ist. Denn was sich damals ereignet hat, ist in Wahrheit der Ausdruck einer tiefen kulturellen Krise. Die Art und Weise, wie Kinder hier kollektiv zum Objekt gemacht wurden, ist Ausdruck einer tiefer liegenden, sich lange entwickelten Kulturkrise. Jeder kennt den Spruch, „Frauen und Kinder zuerst“, wenn es in früheren Epochen um Notsituationen ging, zum Beispiel, wenn ein Haus brannte oder ein Schiff unterzugehen drohte. Drohte Gefahr, war es ein Reflex, dass Kinder zuerst zu schützen sind. Es gab für Kinder und Familien schon immer hochproblematische Zeiten. Krieg zum Beispiel. Hier ist aber eine Verschiebung passiert, die sich über Jahrzehnte in den Coronajahren zum ersten Mal manifestiert hat. Nämlich dass der eigentliche Kinderschutz pervertiert wurde in einen Schutz vor Kindern!

Kinder wurden auf dieselbe Ebene gestellt wie Erwachsene. Damit wurde der eigentliche westliche Fortschritt, die sogenannten Kinderrechte, aufgehoben, da man sie den Erwachsenen gleichgestellt hat. Obendrein wurde der Kinderschutz nicht nur praktisch aufgehoben, sondern es wurde noch eine Stufe draufgesetzt, indem gesagt wurde, sie seien eine Gefahr für Erwachsene. Das ist per se eine Pathologie und eine völlige Entfremdung. Denn wie sollen Menschen, die gar nicht aktiv Täter werden können, eine Gefahr sein?

Seitdem geht es weiter, zu sehen an den Themen Gender oder Frühsexualisierung. Das ist die weitere Folge, dass der eigentliche Kinderschutz aufgehoben wurde und dass Kinder permanent zum Objekt der Erwachsenenwelt geworden sind. Wenn wir Kindern kollektiv Schaden zufügen, fügen wir auch unserer Zukunft Schaden zu. Denn Kinder sind die Zukunft einer Gesellschaft. Sie sind die nächste Generation, sie sind das Morgen. Daher mein Satz in dem Film „Können 100 Ärzte lügen?“. Wenn eine Kultur nicht mehr reflektiert, was sie tut, und Kinder radikal zum Objekt macht, kann das nur Ausdruck einer Kultur sein, die in Wahrheit unterbewusst keine Zukunft mehr will. Denn Zukunft heißt, eine Vision für ein besseres Morgen zu haben. Wir machen aber seit Jahren nichts anderes, als die Situation für Kinder zu verschlechtern.

Multipolar: Ist das ein neues Phänomen? Oder gab es so etwas schon einmal – dass eine Gesellschaft den Kinderschutz aufgehoben hat und ihre Kinder, so wie Sie es sagen, den Erwachsenen geopfert hat?

Hüter: Dass Kinder für kurzfristige politische oder gesellschaftliche Ereignisse zum Objekt gemacht wurden, hat massiv im 19. Jahrhundert mit der industriellen Revolution angefangen. Wie die familiären, landwirtschaftlichen Strukturen in der frühen Phase der Industrialisierung aufgehoben wurden, sind die Kinder auch in den Fabriken gelandet. Es wurde also Kinderarbeit eingeführt. Jedoch dauerte es damals nicht lange, und es setzte massiver Widerstand von verschiedensten Seiten ein. Darunter war auch Maria Montessori, die das Kinderhaus „Casa dei Bambini“ für diejenigen gegründet hat, die durch den Rost dieser radikalen Entwicklungen gefallen sind. Es gab auch Bewegungen, die Kinderarbeit wieder zu beenden. Solche Übergriffe, Kinder auf die Ebene der Erwachsenen zu stellen und damit zum Objekt zu machen, hatten wir im Lauf der Historie immer wieder. Jedoch gab es dagegen stets großen Widerstand von Eltern, Philosophen, Autoren und Pädagogen, sodass relativ rasch alles wieder aufgehoben wurde. Dieser Widerstand hat mir 2020 gefehlt.

Multipolar: Aktuell haben Sie einen Film mit dem Titel „Der große Mythos“ in Produktion, in dem Ihr Vortrag „Re-Evolution des Menschseins“ eine Rolle spielt. Was hat es damit auf sich?

Hüter: In dem Vortrag gehe ich der Frage nach, ob die Einführung der Massenbeschulung tatsächlich das Ziel hatte, die Kinder zu bilden. Dazu habe ich schon häufig, auch in dem Vortrag, folgenden Satz gesagt: Der Schlüssel zur Macht ist der Zugriff auf das Kind. In diesem jahrhundertelangen historischen Prozess wusste man an einem Punkt aus Erfahrung, dass der Mensch durch Erziehung formbar ist. Die erste Institution in Europa, die das verstanden hatte, war die katholische Kirche. Diese besaß über Jahrhunderte das Bildungsmonopol. Was wir heute Erziehung nennen, nämlich das Kind auf eine gewünschte Weltanschauung hinzuziehen, gab es historisch davor nicht. Als dann die katholische Kirche ihr Bildungsmonopol an die säkularisierten Staaten verloren hatte, haben diese dieses Bildungssystem genauso beibehalten. Dieses Bildungssystem, wie wir es heute in der ganzen westlichen Welt immer noch haben, diente von Anfang an dazu, die herrschenden Ideologien rasch von unten durchzusetzen.

Multipolar: Die zwei nachhaltigsten Beispiele aus dem Deutschland des 20. Jahrhunderts, wo politische Systeme ein großes ideologisches Fundament besaßen und den Zugriff auf die Kinder ausweiteten, sind wohl die Zeit des Nationalsozialismus und die DDR. Organisationen und Bildungseinrichtungen spielten eine entscheidende Rolle.

Hüter: Richtig. Wobei es im Nationalsozialismus, in der DDR und im Stalinismus noch Grenzen gab. Bis zum sechsten Lebensjahr war das Kind noch nicht solch ein Objekt des Staates. In der DDR ist auch nicht jedes Kind in der Krippe gelandet. Es war ein freiwilliges Angebot, das man natürlich auch geframt hat. Jedoch gab es keinen Zwang. Früher mussten die totalitären Systeme darum kämpfen, die Kinder zu bekommen.

Multipolar: Wobei es in der Coronazeit auch Eltern gab, die zumindest versuchten, sich den Maßnahmen zu widersetzen und ihre Kinder zu schützen. Jedoch zum Teil mit schwerwiegenden Folgen. Unter anderem berichtete die Rechtsanwältin Karolin Ahrens von ihren Erfahrungen, wie vehement und teils auch mit welch großer Gewalt die staatlichen Stellen gegen Eltern vorgingen, die ihre Kinder unter diesen Bedingungen nicht an die Schule abgeben wollten, mit der Folge, dass es in Extremfällen zur Kindesentnahme kam. Auch die forensische Psychologin und Gerichtsgutachterin Andrea Christidis beschrieb, dass Jugendämter autoritärer agierten und dass es zunehmend zu staatlichen Inobhutnahmen käme. Wie sind diese Entwicklungen aus Ihrer Sicht zu bewerten? Ist hier ein Vergleich zu den früheren totalitären Systemen angebracht?

Hüter: Deutschland nimmt hier leider eine Sonderrolle ein. Der Zugriff des Staates auf Kinder und Eltern und die Entrechtung von Familien ist in Deutschland und Österreich schon seit langem der Fall. Vor einigen Jahrzehnten gab es die Aufdeckung der sogenannten Heimskandale, wo herauskam, was alles in Kinderheimen, insbesondere in den 1950er- und 1960er-Jahren passierte – sowohl in Deutschland als auch in Österreich. Die Entstehung von Kinderheimen hatte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts angefangen, ebenfalls eine Auswirkung der industriellen Revolution. Um den Straßenkindern zu helfen, wurden irgendwann Kinderheime erfunden. Mit zunehmendem Wohlstand hätte man aber ab den 1950ern und 1960ern meinen können, dass die Heime aus der Historie wieder hätten verschwinden müssen. Sind sie aber nicht, vor allem in Ländern wie Deutschland und Österreich. Was sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Deutschland und Österreich herausgebildet hat, ist geblieben. Zwar gingen die Zahlen in den 1970ern wieder etwas nach unten, jedoch sind sie seitdem konstant gestiegen. Die Zahl an Heimkindern nimmt massiv zu, aus welchen Gründen auch immer.

Und zum Thema Schulpflicht: Deutschland ist das einzige Land Europas, das die „Schulgebäudeanwesenheitspflicht“ nach wie vor besitzt. Dieses Gesetz stammt aus der Zeit des Nationalsozialismus. 1938 wurde unter dem Reichsbildungsminister Bernhard Rust die rigorose Schulpflicht im Sinne von Schul- und Bildungspflicht kombiniert, die nur in einem staatlichen Schulgebäude oder in einer staatlich anerkannten Privatschule erfüllt werden konnte. Damit gab es auf jedes Kind einen ideologischen Zugriff. 1938 wurde in Deutschland diese Schulpflicht – respektive Schulzwang – eingeführt und ist bis heute beibehalten worden.

Multipolar: Wie kann es der deutschen Gesellschaft gelingen, dass Kinder in Freiheit und im Sinne ihrer Bedürfnisse aufwachsen?

Hüter: Man müsste den Erwachsenen die Frage stellen, wie sie in Zukunft eigentlich leben wollen. Traumatisierte Kinder, die zu Opfern wurden, werden später zu 70 bis 80 Prozent in irgendeiner Form auch selbst zu Tätern. (1) Man kann letztlich alle krankhaften Erscheinungen einer Gesellschaft darauf zurückführen, wie diese mit Kindern umgeht. Meiner Meinung nach bräuchte es nach Corona eine Art „Marshallplan“ für die nachfolgende Generation. Ein wirklich massiver Hilfsplan auf psychologischer, ökologischer und materieller Ebene. Alle psychosozialen Befunde unserer Kinder und Jugendlichen verschlechtern sich weiter kontinuierlich, obwohl die Maßnahmen aufgehoben wurden. Daran kann man erkennen, wie verheerend sie waren und wie hier eine ganze Generation kollektiv traumatisiert wurde – erstmals außerhalb von Kriegszeiten.

Der deutsche Psychiater Hans-Joachim Maaz hat einmal gesagt: Jeder Krieg ist letztendlich Ausdruck eines Gefühlstaus. Es gibt bei Kindern und Jugendlichen in den letzten Jahren eine massive Zunahme von Gewaltkriminalität, Suchterkrankungen und Suizidversuchen. Letztere haben sich während des 2. Lockdowns im Vergleich zu den Vor-Corona-Jahren sogar fast verdreifacht! Das ist auch ein Abreagieren des Erlebten der Coronajahre. Das ist jetzt das Ventil. Da ein Abreagieren und ein Sich-äußern-Können in konstruktivem Sinn nicht möglich ist, muss dieser Gefühlsstau irgendwann nach außen. Wenn wir unter Kindern und Jugendlichen nicht noch mehr pure Aggression erleben wollen, müssen die Coronajahre für diese Personengruppe dringend aufgearbeitet werden.

Zum Interviewpartner: Michael Hüter, Jahrgang 1968, ist österreichischer Historiker, Kindheitsforscher, Verleger, Autor und Pianist. An der Universität Salzburg studierte er Geschichte, Germanistik, Philosophie und Kunstgeschichte. 2018 erschien sein Buch „Kindheit 6.7 – Eine Geschichte der familialen Sozialisation, Kindheit, Erziehung und Beschulung des Menschen“ (Edition Liberi & Mundo), aktuell in 9. Auflage. Die englische Ausgabe („Childhood 6.7“) erschien 2022.

Anmerkung

(1) Bessel von der Kolk, „Verkörperter Schrecken, Traumaspuren im Gehirn, Geist und Körper und wie man sie heilen kann“. Titel der englischen Originalausgabe (2014): „The Body Keeps the Score“

GEORGE, 21. Mai 2024, 17:10 UHR

Danke für diesen Beitrag und an Herrn Hüter, der die Tradition großer Humanisten in Ehren hält, die rar geworden sind.

"Fortiter in re, suaviter in modo" (stark in der Tat, milde in der Art)

MATTHIAS BARON, 23. Mai 2024, 16:25 UHR

Initiating shutdown Sequenz. Dieser Realität möchte man nicht ins Auge schauen. Die krass niedrige Geburtenrate spricht Bände. Mitunter sieht man Gegenbewegungen: Liebevolle Eltern, fitte Kinder. Doch meistens niederschmetternd: Vierjährige in der Kinderkarre oder im Einkaufswagen, wenig Gespräch zwischen Eltern und Kindern.

G. HOFMANN, 24. Mai 2024, 20:30 UHR

Danke für den Beitrag. Das eigentlich noch größere Problem (Sauerei!) ist doch, dass man am Anfang der Pandemie (ja, man konnte einiges noch nicht wissen) ein Gremium einberufen hat, das die Aufgabe hatte, ein "WORDING" zu finden, mit dem man der Gesellschaft am meisten ANGST einjagen kann. ERGEBNIS: "wir müssen erzählen, dass es für KINDER das schlimmste ist, wenn sie Eltern und Großeltern anstecken, die dann jämmerlich ersticken". Also KINDERN RICHTIG ANGST EINJAGEN, von Politikern gewollt, von angeheuerten Soziologen "erfunden".

Dass man Schulen schließt, weil man es vielleicht nicht besser wusste, EINE Sache, dass man bereits zu Anfang BEWUSST, MIT VORSATZ Kinder zu Monstern abstempelt, und VIELE Politiker da mitmachen, stillschweigend das abnicken, ist für mich ein Verbrechen. Doch niemand wird dafür zur Rechenschaft gezogen werden, und niemand wird sich dafür entschuldigen.

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