Prodemokratische Protestwelle: Anlass zur Hoffnung, kein Durchbruch – bruchstücke

Prodemokratische Protestwelle: Anlass zur Hoffnung, kein Durchbruch

Demonstration gegen Rechtsextremismus auf dem Magdeburger Domplatz, 17. Februar 2024 (Foto: Olaf2 auf wikimedia commons)

Rechtsextremismus und Rassismus haben eine lange und unselige Tradition. In Deutschland und anderswo sind diese Strömungen seit den 1990er Jahren angewachsen und zunehmend aggressiver aufgetreten. In Reaktion darauf wuchs die Sorge politisch wacher, demokratisch gesonnener und handlungsbereiter Teile der deutschen Bevölkerung. Das zeigte sich in den letzten Jahrzehnten bei den Protesten linksradikaler Antifa-Gruppen, aber auch bei stärker bürgerlich geprägten Protesten, die oftmals unter dem Motto „Bunt statt braun“ firmierten. Mit dem Erstarken der AfD, die in relativ kurzer Zeit in derzeit 14 Landesparlamente und in den Bundestag einziehen konnte und gute Aussichten hat, in anstehenden Wahlen weitere Gewinne zu verzeichnen, sind Unbehagen und Unwille über diesen Trend weiter gestiegen. Die gleichsam schwelende Grundstimmung in breiten Kreisen der Bevölkerung fand allerdings zunächst keine kollektive, ortsübergreifende und zündende Ausdrucksform.

Mit der Veröffentlichung der in der Sache keineswegs überraschenden Correctiv-Recherche war ein konkreter Anlass gegeben, mit dem sich Sorge und Empörung Bahn brechen konnten. Die ersten größeren Proteste wirkten wie ein Weckruf.1 Viele Bürger:innen fühlten sich angesprochen und wollten nun, nach den ersten Vorbildern in anderen Kommunen, auch an ihrem Ort Präsenz zeigen. Daraus entwickelte sich eine sich selbst verstärkende Mobilisierungsdynamik. Begünstigend wirkte der Umstand, dass die Proteste einen breiten und mehrheitsfähigen Nenner aufwiesen. Neben spontan auftretenden Initiatoren traten auch überparteiliche Bündnisse unter Einschluss von organisationserfahrenen Verbänden und Institutionen als mobilisierende Kräfte auf den Plan.

Der Beitrag umfasst den Schlussabschnitt “Fazit und Einordnung” des 19-seitigen ipb-Papers
Für Demokratie – gegen Rechtsextremismus. Profil und Dynamik der jüngsten Protestwelle“.


Zwar gab es Versuche einer Bündelung der Proteste (so unter dem Hashtag #ZusammenGegenRechts) und diverse Plattformen, auf denen anstehende Proteste angekündigt wurden. Doch wurden die Proteste zu keinem Zeitpunkt von einer zentralen Stelle aus koordiniert und orchestriert. Somit handelte es sich tatsächlich um eine Graswurzelbewegung, die jedoch insbesondere an größeren Orten am Erfahrungswissen von Aktivist:innen und an bereits bestehenden Netzwerken progressiver Gruppen anknüpfen sowie von den Ressourcen unterstützender Organisationen profitieren konnte.

Das Ergebnis all dieser Bemühungen war eine viel beachtete und auch weithin begrüßte mehrmonatige Protestwelle mit dem Grundprofil eines schnellen Anstiegs, einer zweiwöchigen Hochphase und einer langsamen und noch immer nicht abgeschlossenen Phase des Abklingens.2 In dieser Zeit des Abschwungs verlagerte sich das Protestgeschehen auf Mittel- und Kleinstädte sowie den ländlichen Raum. Großdemonstrationen mit mehr als 5.000 Teilnehmer:innen kamen in der zehnten Kalenderwoche (4.-10. März 2024) wie auch bei den zusätzlich gesichteten Protesten bis zum 7. April nicht mehr vor.3 In der Phase abklingender Proteste scheint allerdings die Breite der organisierenden Bündnisse zu wachsen.

Tabelle 1: Proteste und Protestierende pro Kalenderwoche (Screenshot)

Nach quantitativen Maßstäben handelt es sich um die größte auf einen engen Zeitraum konzentrierte Protestwelle in der Geschichte der Bundesrepublik. Bezogen auf die jeweilige Einwohnerzahl wiesen die drei Stadtstaaten Hamburg, Bremen und Berlin die höchste Zahl von Protestierenden auf, während in den ostdeutschen Bundesländern, mit Ausnahme von Sachsen, die niedrigsten Werte zu verzeichnen waren. Eine Besonderheit, mit der sich teilweise auch das Ausmaß der Proteste erklären lässt, ist die breite Zustimmung aus den Reihen der etablierten Politik, einem Großteil der Medien und – hier fehlen aussagekräftige repräsentative Umfragen – der Bevölkerung.

An den Protesten waren alle Kohorten ab dem Jugendalter relativ gleichmäßig vertreten. Auch war die Verteilung beider Geschlechtergruppen in etwa ausgewogen. Ob es sich tatsächlich um eine Protestwelle handelt, die eindeutig von der „bürgerlichen Mitte“ getragen ist, kann mit Blick auf die Ergebnisse einer Befragung von Protestierenden im Südwesten der Republik bezweifelt werden. Zwar rechneten sich die Teilnehmer:innen mehrheitlich der mittleren Mittelschicht zu, doch waren die Protestierenden überdurchschnittlich hoch gebildet und verorteten sich überwiegend im linken politischen Spektrum.

Eindeutig und eindrucksvoll war allemal die absolute Friedfertigkeit der Proteste in ihrem gesamten Zyklus. In den weitaus meisten Fällen handelte sich um Kundgebungen, in wenigen Fällen auch um Protestmärsche und Menschenketten. Nach meiner Kenntnis kam es in keinem einzigen Fall zu Rechtsverletzungen oder gar Gewaltakten auf Seiten der Demonstrierenden. Allerdings sind auch keine innovativen Protestformen erkennbar.

Viele Protestnovizen

Bemerkenswert ist zudem die schnelle räumliche Verbreitung des Protests, der sich binnen kurzer Zeit auf die gesamte Bundesrepublik erstreckte. Er fand in den Großstädten, aber auch in ländlichen Regionen gelegenen Kleinstädten statt. Dabei wurden, gemessen an der Einwohnerzahl, teilweise beachtliche Größenordnungen erreicht. In einigen ostdeutschen Regionen, in denen rechte Gruppierungen bereits eine kulturelle Hegemonie erlangt hatten, kam es nach Jahren des Stillhaltens oder Wegschauens zu prodemokratischen Protesten. Hier ist, anders als in den Großstädten, eine erhebliche Portion Mut erforderlich, besteht doch die Wahrscheinlichkeit, dass es in Folge der öffentlich sichtbaren Positionierung auch zu verbalen und tätlichen Attacken auf die Protestierenden kommen kann – und bereits gekommen ist. Diesen Mutigen kann der Umfang, die Breite und die Geschlossenheit der sich auf die gesamte Republik erstreckenden Protestwelle einen moralischen Rückhalt verleihen. Darüber hinaus verdeutlicht diese Protestwelle, dass rechtsradikale Kreise sich zu Unrecht darauf berufen, „das Volk“ und dessen Interessen zu vertreten.

Der Protest hat gezeigt, dass in der Bundesrepublik Millionen von Menschen, darunter viele Protestnovizen, nicht gewillt sind, dem Vormarsch von Rechtsradikalen tatenlos zuzusehen. Ihr öffentliches Bekenntnis ist zunächst vor allem eine symbolische Geste der Selbstvergewisserung und Selbstbestätigung. Dies zeigen die zahlreichen handgefertigten Pappschilder wie auch die Aufrufe und Slogans der Organisatoren des Protests. Ob aus der fast abgeklungenen Welle ein anhaltendes und weiterreichendes politisches Engagement erwächst, das auch einen Teil der Protestneulinge einschließt, ist noch nicht abzusehen. Derzeit wird an vielen Orten darüber nachgedacht, wie die volatile Protestenergie in ein anhaltendes Engagement prodemokratisches Engagement umgesetzt werden kann.4

Die hier beschriebene prodemokratische Protestwelle gibt Anlass zu Hoffnung, aber sollte nicht als folgenreicher politischer Durchbruch gefeiert und überhöht werden.5 Es ist wahrscheinlich, dass es im Herbst 2024, im Vorfeld von drei Landtagswahlen in Ostdeutschland mit glänzenden Aussichten der AfD, zu weiteren Protesten für Demokratie und gegen Rechtsradikalismus kommen wird. Entscheidender als das Volumen des manifesten Straßenprotests ist jedoch, wie viele der Demonstrierenden sich mit welcher Beharrlichkeit in die politischen Debatten in ihrer alltäglichen Lebenswelt einmischen und gegen rechtsradikale Äußerungen und Handlungen einschreiten, sei es am Arbeitsplatz, im Sportverein, in der Freiwilligen Feuerwehr oder wo auch immer.


1  Vor allem in der Anfangsphase wurden die Erwartungen von Protestorganisatoren weit übertroffen. So kamen am 16. Januar zur ersten von vier Demonstrationen in Würzburg statt der vorab vermuteten 250 Demonstrierenden zehnmal so viele Menschen. https://www.radiogong.com/aktuelles/news/lokales/wuerzburg-demo-gegen-rechts-in-der-innenstadt

2  Die am 18. März angebotene Auflistung von DemokraTEAM verzeichnet für die elfte Kalenderwoche 94 lokale Proteste. Dabei handelt es sich ganz überwiegend um kleinere Orte mit einer entsprechend überschaubaren Zahl von Protestierenden. Eine Ausnahme bildet eine Demonstration in Essen mit 3.000 Protestierenden. Sofern Proteste in wenigen Großstädten wie Berlin und Dortmund vermerkt wurden, fehlen Angaben zur Zahl der Teilnehmer:innen, was darauf hindeutet, dass es sich um Proteste auf der Ebene einzelner Stadtteile handelte.

3  Die größten Proteste nach Ende der 10. Kalenderwoche bis zum aktuell abrufbaren Berichtsstand (19. April) fanden am 17. März in Bremen (5.000 Teilnehmer:innen), am 21. März in Ravensburg (4.000), am 16. März in Essen (3.000) und am 17. März in Coburg (3.000) statt. Die meisten Proteste in dieser Phase waren jedoch deutlich kleiner. Auch wurden nun vermehrt Proteste ohne Angabe der Teilnehmerzahlen aufgelistet.

4  Bereits in einer frühen Phase der Protestwelle (am 29. Januar) wurde vom SWR ein Podcast mit dem Titel „Wie macht man Antifaschismus nachhaltig?“ publiziert. https://www.swr.de/swrkultur/leben-und-gesellschaft/demos-gegen-rechtsextremismus-kann-der-protest-auf-lange-sicht-etwas-veraendern-100.html. Zu den generellen Möglichkeiten einer bürgerschaftlichen Stärkung von Demokratie siehe Roland Roth (2024) Demokratiestärkung durch bürgerschaftliches Engagement. Demokratie „unter Druck“ und eine mobilisierte Zivilgesellschaft, in Heimat Westfalen, Ausgabe 1/2024, S. 4-14.

5  Georg Dietz spricht nicht nur von einer „Sternstunde der Zivilgesellschaft“, sondern sogar von einer „neuen Revolution“. Siehe DIE ZEIT vom 14. Februar 2004. Etwas zurückhaltender ist die Einschätzung der Journalistin und Autorin Jana Hensel, die die Protestwelle in einem Artikel für ZEIT Online am 21. Januar als ein „kleines demokratisches Wunder“ bezeichnete. https://www.zeit.de/politik/deutschland/2024-01/proteste-afd-demokratische-mitte

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Dieter Rucht
Prof. Dr. Dieter Rucht ist Mitglied des Instituts für Protest- und Bewegungs-forschung (ipb) und Senior Fellow am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung. Autor zahlreicher Bücher

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