Schlüsselwörter

1 Einleitung: Begriff und Entwicklung

1.1 Definition

Als durchgängiges Thema und perspektivischer Fokus der Internationalen Politischen Ökonomie (international political economy; im weltweiten Kontext auch: global political economy) als Theorieansatz der Internationalen Beziehungen lässt sich die „the interaction of the market and such powerful actors as states, multinational firms, and international organizations“ (Gilpin 2001, S. 17 f.) definieren. „Both components are necessary, and one cannot comprehend how either domestic or international economies function unless he or she understands how markets work and how states and other actors attempt to manipulate markets to their own advantage“ (Gilpin 2001, S. 45). Die Besonderheit des Ansatzes der IPÖ ist dabei, dass, etwa im Unterschied zu einer Reihe mehr oder weniger politikabstinenter volkswirtschaftlicher oder staatszentrierter politikwissenschaftlicher Perspektiven versucht wird, einerseits die Eigendynamik wirtschafts- und insbesondere finanzpolitischer Strukturen im internationalen System in ihrer Analyse anzuerkennen, andererseits jedoch die weiterhin besondere Rolle der Staaten und damit genuin politischer Faktoren in diesem System zu berücksichtigen. Aus der Sicht der IPÖ ist die (nationale wie globale) Wirtschaft daher

„[a] sociopolitical system composed of powerful economic actors or institutions such as giant firms, powerful labor unions, and large agribusinesses that are competing with one another to formulate government policies on taxes, tariffs, and other matters in ways that advance their own interests. And the most important of these powerful actors are national governments. In this interpretation, there are many social, political, or economic actors whose behavior has a powerful impact on the nature and functioning of markets. This conception of the economy as an identifiable social and political structure composed by powerful actors is held by many citizens and by most social scientists other than professional economists“ (Gilpin 2001, S. 38).

Analog dazu definiert Susan Strange, eine der zentralen Mitbegründerinnen der IPÖ, deren Gegenstand als „the social, political, and economic arrangements affecting the global systems of production, exchange and distribution and the mix of values reflected therein. Those arrangements are not divinely ordained, nor are they outcome of blind chance. Rather they are the result of human decisions taken in the context of man made institutions and sets of self set rules and customs“ Strange 1994a, S. 18).

Damit wird deutlich darauf hingewiesen, dass es sich bei der IPÖ noch immer um eine vordringlich politikwissenschaftliche Perzeption der internationalen Beziehungen handelt und keineswegs um die Anwendung rein ökonomischer Methoden auf das internationale System. „The two academic fields of international economics and international politics in their conventional forms do not together constitute IPE, which is a different kind of animal“ (Hettne 1992, S. 2). Die IPÖ zeichnet sich zwar aufgrund ihres Analyseschwerpunkts der internationalen Wirtschaftsbeziehungen durch eine – für die etablierten Sozialwissenschaften in Deutschland traditionell alles andere als selbstverständliche – relativ große Aufgeschlossenheit gegenüber Ergebnissen und Ansätzen der Volkswirtschaftslehre aus, versteht sich jedoch als interdisziplinär offener, auf dem Boden der Politikwissenschaft/Internationalen Beziehungen verhafteter Ansatz, was sich beispielsweise auch in einem besonderen Machtbegriff niederschlägt, auf den noch einzugehen ist. Von Bedeutung für eine erste Einordnung der IPÖ ist außerdem, dass sie sich keineswegs in der Beschreibung internationaler Wirtschaftsbeziehungen und -institutionen erschöpft, sondern mittlerweile ein theoretisch wie empirisch anspruchsvolles und differenziertes Forschungsfeld innerhalb der IB darstellt: „Das Feld stellt nicht nur grenzüberschreitende wirtschaftliche Vorgänge in den Mittelpunkt, sondern ebenso die theoretische und empirische Untersuchung des Verhältnisses zwischen Politik und Ökonomie. Diese theoriegeleitete Untersuchung erst führt von der deskriptiven Darstellung, etwa von internationaler Kooperation und grenzüberschreitendem Güteraustausch, zur Analyse der wechselseitigen Beeinflussung von Politik und Wirtschaft“ (Schirm 2019, S. 7).

1.2 Wissenschaftshistorische Entwicklung

Die klassische Politische Ökonomie entstand in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und ist mit Namen wie Adam Smith, David Ricardo oder Thomas Malthus verbunden. Obwohl ein Hauptaugenmerk ihrer Begründer auf der Analyse wirtschaftlicher Strukturen und Prozesse lag, wurde die Politische Ökonomie in der Tradition der Aufklärung als „mit dem Ganzen der neuen bürgerlichen Gesellschaftswissenschaft in einer unbefangenen Einheit verbunden“ (Korsch 1974, S. 12). Entsprechend nahmen ihre Vertreter im Rahmen einer integrativen Sozialwissenschaft auch Stellung zur Tages- und internationalen Politik, wobei sie nicht nur ökonomische Argumente im engeren Sinne, etwa Ergebnisse der Außenhandelstheorie, sondern auch beispielsweise moral- und sozialphilosophische Gedanken ins Feld führten. Im Laufe des 19. Jahrhunderts zerbrach diese frühe bürgerliche Sozialwissenschaft jedoch und differenzierte sich in verschiedene akademische Disziplinen aus, zu denen im 20. Jahrhundert insbesondere die Soziologie, die Volkswirtschaftslehre oder die Politikwissenschaft einschließlich der Internationalen Beziehungen gehörten. Damit ging die umfassende Einheit von Güter produzierender und tauschender Gesellschaft und Staat, die das methodische Wesensmerkmal der klassischen Politischen Ökonomie darstellte, letztlich in wissenschaftlich-analytischer Hinsicht bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts in weiten Teilen verloren, insbesondere im Hinblick auf die Untersuchung und Erklärung internationaler Phänomene. Ursachen hierfür waren neben der allgemeinen Entwicklung und Differenzierung der Sozialwissenschaften vor allem: (1) die thematische Trennung von Politik und Wirtschaft im Zuge des Bedeutungsverlusts des Staates in der antimerkantilistischen liberalistischen Theorie des Nachtwächterstaates des 18./19. Jahrhunderts; (2) die methodische Entfernung der Wirtschaftstheorie von soziologischen und (völker-) rechtlichen Sichtweisen des Staates als Folge des individualistisch-utilitaristischen, „psychologischen Reduktionismus“ (Albert 1974, S. 14); sowie (3) die ideologisch geprägte Besetzung des Begriffes „Politische Ökonomie“ durch mehr oder weniger sozialistisch orientierte Ökonomen als antikapitalistische Kritik der bürgerlichen Gesellschaft nach dem „Schisma“ der Nationalökonomie in eine traditionell-liberale und eine marxistische Richtung im 19. Jahrhundert, zu denen sich dann noch die Historische Schule gesellte (Rotte 1994, S. 10 ff.). In der Folge verloren wirtschaftliche Fragestellungen im Bereich der Internationalen Beziehungen gegenüber völkerrechtlichen, (militär-)strategischen, geopolitischen oder diplomatischen Problemen und Sichtweisen klar an Bedeutung. Dies gilt insbesondere für die Zeit nach dem Aufstieg des Realismus zur dominierenden Theorie der IB in den 1930er- und 1940er-Jahren.

Vor diesem Hintergrund war angesichts „der wenigen, vereinzelten Arbeiten (…) in den 1950er- und 1960er-Jahren die Disziplin der Internationalen Politischen Ökonomie (…) praktisch nicht existent“ (Bieling 2003, S. 363). Die anschließende Entwicklung der IPÖ als wesentlicher Bestandteil der Theorie der Internationalen Beziehungen ist untrennbar mit der empirischen Veränderung der ökonomischen Bedingungen des internationalen Systems seit den siebziger Jahren verbunden. Das militärstrategische Gleichgewicht zwischen den USA und der UdSSR, verbunden mit der Entkolonialisierung und dem wirtschaftlich wie politisch bedeutsamen Aufstieg von Staaten, welche nur begrenzt über die traditionellen Attribute von Großmächten verfügten, wie etwa der neuen Handelsstaaten Bundesrepublik und Japan (Rosecrance 1987), Staatengruppen wie der OPEC-Länder mit ihrer Machtdemonstration der Ölkrise 1973 und nicht staatlichen Akteuren, insbesondere den trans- oder multinationalen Unternehmen führten zu wachsenden Schwierigkeiten traditioneller Erklärungsansätze der Internationalen Beziehungen. Der technologische und ökonomische Globalisierungsprozess seit den sechziger Jahren, welcher nachhaltig durch die Liberalisierungspolitik der achtziger Jahre gefördert wurde, tat im Verein mit dem quantitativ sinkenden Anteil der USA am weltwirtschaftlichen Geschehen ein Übriges, um eine intensive Diskussion über den (mittlerweile in der Diskussion fast ins Gegenteil umgeschlagenen) weltpolitischen Abstieg („Decline“) der USA und eine Ökonomisierung und Entstaatlichung des internationalen Systems anzuregen.

In dieser Situation, in der klassische Theorien der IB wie der (Neo-) Realismus mit ihrer Betonung sicherheitspolitischer Fragestellungen zumindest in Teilen als Erklärungsmuster tatsächlicher politischer Entwicklungen versagten und zudem die modelltheoretisch wie empirisch fundierte Volkswirtschaftslehre zu einer, wenn nicht der führenden Sozialwissenschaft aufstieg, war es offensichtlich notwendig, den veränderten, nunmehr stark wirtschaftlich geprägten Entwicklungen in der internationalen Politik auch von Seiten der Theorie der IB Rechnung zu tragen und gewissermaßen die bis dahin entwickelte akademisch-institutionelle wie inhaltliche Trennung zwischen Politik und Wirtschaft zu überwinden. Seitdem hat sich die IPÖ unter maßgeblicher Beteiligung führender Vertreter wie David Baldwin, Robert Gilpin, Robert Keohane, Charles Kindleberger, Edward Morse, Joseph Nye, Robert Cox, Steven Krasner oder insbesondere Susan Strange zu einer bedeutenden eigenständigen Richtung der Internationalen Beziehungen weiterentwickelt, welche sich jedoch im Unterschied zu anderen Theorieansätzen oder Subdisziplinen der IB noch immer durch ihre besonders ausgeprägte Vielfalt und die Uneinheitlichkeit ihrer Argumentationen und Modelle auszeichnet. Einen Eindruck dieser Heterodoxie vermitteln z. B. die Bestandsaufnahmen von Lawton et al. (2000), Abbott und Worth (2002), Tooze und May (2002), Busumtwi-Sam und Dobuzinskis (2003), Maswood (2008), O’Brian und Williams (2010), Bieling (2011), Palan (2013), Oatley (2018) oder Schirm (2019). Angesichts dieser differenzierten und dynamischen Entwicklung der IPÖ gibt es sogar mittlerweile Stimmen, wonach „the field has outgrown IR“ (Underhill 2000, S. 807).

2 Traditionelle Hauptrichtungen und Nachbargebiete

2.1 Drei politökonomische Traditionen der IPÖ

Der mangelnde Konsens darüber, wie die Strukturen und Prozesse des internationalen Systems erklärt werden können, zeigt sich nicht zuletzt darin, dass vielen Debatten in der IPÖ traditionelle Auseinandersetzungen über den Zusammenhang von Politik und Wirtschaft zugrunde liegen, welche ihre Wurzeln in den drei fundamentalen Theorierichtungen der klassischen Politischen Ökonomie des 18. und 19. Jahrhunderts haben. Vereinfacht lassen sich die drei Strömungen als Liberalismus, Realismus und Marxismus (Silberner 1946) oder ökonomischen Liberalismus, Nationalismus und Sozialismus (z. B. Levi-Faur 1997) umschreiben, wobei diese idealtypische Einteilung angesichts der Komplexität des globalisierten internationalen Systems in der Literatur allmählich verschwimmt (Bieling et al. 2013).

Die liberale Sichtweise geht beispielsweise auf Adam Smith, David Ricardo oder John Stuart Mill (1909) zurück. Ihre Grundannahmen sind: (1) eine Vielzahl bestehender staatlicher und nicht staatlicher Akteure im internationalen System, etwa multinationalen Unternehmen, internationalen Organisationen, Regierungen etc.; (2) rationales Verhalten der Akteure im Sinne eines Optimierungskalküls, bei dem der Akteursnutzen gemäß einer Vielzahl von Präferenzen und Zielen bei gegebenen Kosten und unterschiedlichen Durchsetzungsmöglichkeiten (Machtpotenzialen) maximiert wird; sowie (3) die Sichtweise der internationalen Beziehungen einschließlich der Wirtschaft als „Positive Sum-Game“, in dem es jedem Akteur möglich ist, seine Wohlfahrt durch die Verbesserung der Situation der Gesamtheit zu erhöhen, ohne dies notwendigerweise auf Kosten anderer tun zu müssen. Wirtschaftliche Interdependenz führt trotz Konkurrenz auf dem Markt zur Herausbildung kooperativer internationaler Strukturen, welche Individuen und Unternehmen ein ungestörtes und rechtssicheres Agieren im globalen Markt ermöglichen. Wachsende Kommunikation und persönliche Interaktion resultieren ebenso wie die wirtschaftlichen Vorteile für alle aus Freihandel und transnationaler Investition in einem stabilen, friedlichen internationalen System. Exemplarisch für diese Sichtweise ist etwa Ricardos Theorie komparativer Kostenvorteile, nach der die Aufnahme von internationalem Handel auch in Konstellationen für alle Beteiligten profitabel ist, in denen die eine der beiden Seiten bei allen produzierten Gütern einen absoluten Kostennachteil hat. Moderne Weiterentwicklungen der liberalen Sichtweise finden sich beispielsweise in monetaristischen, neoliberalen und angebotstheoretischen Argumentationsmustern.

Die traditionelle realistische (oder ökonomisch-nationale), weil in großen Zügen durchaus mit der realistischen Theorie der IB gleichzusetzende Sichtweise der internationalen Ökonomie knüpft an die Arbeiten Friedrich Lists (1950) an, der als einer der Vorläufer der Historischen Schule angesehen werden kann. Er kritisiert das liberale Modell insbesondere aufgrund dessen Ignoranz machtpolitischer Aspekte des Freihandelssystems. So weist er darauf hin, dass in einer Welt offener Volkswirtschaften die technologisch-wirtschaftlich weniger entwickelten Gesellschaften letztlich abhängig vom guten Willen der ökonomischen Führungsmächte sind, ihre Überlegenheit, welche sich nicht zuletzt auch z. B. in militärische Macht umsetzen lässt, nicht auszunutzen. Der ökonomische Realismus betont damit, dass es für mächtige Akteure durchaus möglich ist, sich auf Kosten anderer besser zu stellen. Internationale Wirtschaftsbeziehungen werden zumindest zum Teil als Nullsummenspiel betrachtet. Dies basiert letztlich auf der Annahme, dass trotz wirtschaftlicher Entwicklung noch immer souveräne Staaten als National-Ökonomien die zentralen, monolithisch auftretenden Akteure des internationalen Systems sind, welche angesichts des anarchischen Zustands dieses Systems in erster Linie mit der Gewährleistung des eigenen Überlebens und der eigenen (auch ökonomischen) Sicherheit befasst sind. Die Konsequenz sind grundsätzliche Vorbehalte gegenüber einer machtpolitisch voraussetzungslos liberal verfassten Weltwirtschaft, etwa im Hinblick auf die Vertretbarkeit protektionistischer Maßnahmen. Zum Teil stehen heute fiskalistische und nachfrageorientierte wirtschaftspolitische Vorstellungen in dieser Tradition, ebenso wie eher populistische Vorstellungen von Außenwirtschaftspolitik.

Die strukturalistisch-sozialistisch geprägte Interpretation der politischen Ökonomie in der Tradition von Karl Marx und Friedrich Engels (1989), Rudolf Hilferding, Rosa Luxemburg oder Lenin (1987) basiert schließlich auf folgenden Annahmen: (1) Zentrale gesellschaftliche und damit auch politische Akteure sind Klassen und kapitalistische Interessengruppen, wobei die offiziellen politischen Entscheidungsträger aufgrund persönlicher Beziehungen und der Abhängigkeit der öffentlichen Finanzen von ihren Geldgebern (Staatsverschuldung) faktisch von den Kapitalisten (insbesondere den Banken und der Großindustrie) gesteuert werden. (2) Im internationalen Bereich bedienen sich diese Kapitalisten staatlicher Strukturen, Organe, Akteure und Machtpotenziale zur Durchsetzung ihrer profitmaximierenden und damit ausbeuterischen Ziele. Der der kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsform inhärente Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit wird damit in den internationalen Konflikt imperialistischer Staaten untereinander bzw. zwischen Industrie- und Entwicklungsländern transformiert. Das resultierende internationale System ist prinzipiell instabil und anfällig für Krisen und Kriege, selbst wenn es nach Auffassung einiger Autoren nicht unbedingt in absehbarer Zeit an seiner inneren Inkonsistenz zugrunde gehen muss.

In der modernen IPÖ finden sich Elemente dieser Sichtweise in Ansätzen wie der Dependencia- und der Neoimperialismustheorie sowie der strukturellen Theorie des Imperialismus (Galtung 1971) ebenso wie in neomarxistisch geprägten Begründungen kapitalismus- und globalisierungskritischer Positionen in der Tradition Antonio Gramscis (1971) oder Immanuel Wallersteins (1979, 2018). Während letzterer die Entwicklung des internationalen Systems als historische Expansion des Kapitalismus interpretiert, welcher durch den Aufstieg der Schwellenländer zu neuen, konfliktbeladenen Gesellschafts-, Macht- und Ausbeutungsbeziehungen im Geflecht von Industrie-, Schwellen- und Entwicklungsländern führt, betont der Neogramscianismus vor allem die gesamtgesellschaftliche Durchdringung durch kapitalistische Interessen und Denkweisen, für die insbesondere die Theorie und Praxis des Neoliberalismus stehen (Opratko und Prausmüller 2011). Ziel der herrschenden Klassen ist es dabei, ihre Überzeugungen und Praktiken zu universal gültigen und von der Masse der (ausgebeuteten) Bevölkerung als alternativlos nicht mehr zu hinterfragenden Normen und Interpretationsmustern der sozioökonomischen und politischen Bedingungen zu machen („kulturelle Hegmonie“). Eine solche erfolgreiche kulturelle Hegemonie, die somit im Gegensatz zum klassischen marxistischen Materialismus mit seiner Betonung der Eigentumsverhältnisse in einer Gesellschaft auch deren immateriellen Aspekte umfasst, wird von einer transnational agierenden Kapitalisten- und Managerklasse als „historischem Block“ getragen (Cox 1998). Die internationalen Beziehungen werden entsprechend im Zeitalter der Globalisierung vom weltumfassenden Kampf um die Herstellung einer globalen neoliberalen kulturellen Hegemonie geprägt, der sich nicht zuletzt auch im Kontext internationaler Organisationen abspielt.

Ergänzt werden diese drei mehr oder weniger weltanschaulich geprägten Richtungen der IPÖ durch die Auffassung, dass Entwicklungen und Strukturen im internationalen Wirtschaftssystem zuförderst durch die Interaktion internationaler und innenpolitischer Faktoren bedingt sind. Dies eröffnet im Übrigen eine stärkere Verzahnung von Internationalen Beziehungen und Politischer Systemlehre/Comparative Politics im Rahmen der IPÖ. Dabei wird beispielsweise argumentiert, dass die Entwicklung demokratischer und korporatistischer politischer Systeme in erster Linie eine Folge der wachsenden Integration von Staaten und Gesellschaften in die Weltwirtschaft ist. Denn um im globalen und regionalen Wettbewerb offener Volkswirtschaften bestehen zu können, ist ein Höchstmaß an systemischer Flexibilität und innenpolitischer Konflikteinhegung notwendig, welche nur durch die möglichst umfangreiche Beteiligung gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Interessengruppen an der politischen Entscheidungsfindung und Systemgestaltung möglich ist, wie z. B. Katzenstein (1985) betont. Eine Weiterentwicklung dieses Arguments im Hinblick auf Transformationsprozesse autoritärer Regimes findet sich z. B. bei Weede (1995). Danach führt die graduelle, zunächst rein auf wirtschaftlichen Profit der herrschenden Eliten ausgerichtete Öffnung von Gesellschaften gegenüber dem Weltmarkt nach und nach dazu, dass in Folge ökonomischen Konkurrenz- und Effizienzdrucks die Renten, d. h. die machtbedingten wirtschaftlichen Abschöpfungen eben jener Eliten nach und nach zusammenschmelzen. In der Folge erodiert allmählich die bislang durch Privilegien und materielle Zuwendungen gewährleistete Unterstützung verschiedener Gruppen, etwa der Sicherheitskräfte, der Parteiorganisation u. ä., bis das politische System selbst kollabiert und der demokratischen Partizipation des Volkes Platz macht.

2.2 IPÖ und Internationale Wirtschaftsbeziehungen/Außenwirtschaftstheorie

Internationale Politische Ökonomie ist nicht mit dem Teilgebiet Internationale Wirtschaftsbeziehungen der Volkswirtschaftslehre gleichzusetzen. Gleichwohl gehören traditionelle Modelle der ökonomischen Theorie der Außenwirtschaft wie auch die Beiträge etwa der neuen Handelstheorie und der neueren internationalen Finanztheorie (z. B. Rose und Sauernheimer 2006; Krugman et al. 2019) zum Fundament der IPÖ, stellen sie doch zentrale Paradigmata hinsichtlich der Strukturen und Wirkungen internationaler Wirtschaftsbeziehungen dar, welche sowohl in analytischer wie normativer Hinsicht politikrelevant sind. Dies gilt natürlich vor allem auch für politikorientierte Beiträge von Ökonomen (z. B. Stiglitz 2010; Krugman 2020). So führen beispielsweise die Unterschiede in der theoretischen Modellierung und Wahrnehmung der Konsequenzen des transnationalen Handels zwischen internationalen Organisationen wie der Weltbank und des IWF auf der einen und den Globalisierungsgegnern auf der anderen zu völlig unterschiedlichen politischen Bewertungen der ökonomischen Globalisierung.

2.3 IPÖ und Ökonomische Theorie der Politik

Die Ökonomische Theorie der Politik (teilweise auch „Neue Politische Ökonomie“ genannt) versucht, politische Phänomene und Prozesse mit dem Instrumentarium der Volkswirtschaftslehre zu analysieren. In dieser Hinsicht ist sie Ausdruck eines „ökonomischen Imperialismus“ (Radnitzky und Bernholz 1987), welcher in der Tradition Gary Beckers (1993) die Methodik der Volkswirtschaftslehre als verbindlich und sinnvoll anwendbar in allen Bereichen des menschlichen Lebens und Verhaltens ansieht. Zentrale Annahmen dieses Ansatzes sind: (1) der methodologische Individualismus, d. h. die Zurückführung aller wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Phänomene auf das Verhalten von Individuen; sowie (2) das Rationalitätsverständnis der mikroökonomischen Theorie, welches davon ausgeht, dass Individuen auf der Basis widerspruchsfreier, eindeutiger Präferenzen und gegebener Informationen diejenige Option aus einer Reihe möglicher Verhaltensweisen auswählt, welche ihren Nutzen bei Berücksichtigung der damit verbundenen Kosten maximiert. Entsprechend ist die ökonomische (u. a. spieltheoretische) Modellbildung auch für politische Zusammenhänge interessant, beispielsweise für sicherheitspolitische Zusammenhänge (z. B. Boulding 1962). Im Hinblick auf die Entwicklung weltwirtschaftlicher Organisationen, welche einen zentralen Aspekt der IPÖ bilden, bieten sich ferner beispielsweise Ansätze der älteren und neuen Institutionenökonomik an (Schirm 2019, S. 44–53).

3 Besonderheiten der IPÖ-Perspektive der internationalen Beziehungen

3.1 Akteure und die Frage nach der Hegemonie

Wie aus der o. g. Definition hervorgeht, befasst sich die IPÖ vordringlich mit dem Verhältnis von Markt und Staat, also mit der Interaktion wirtschaftlicher und politischer (i.e.S.) Akteure im grenzüberschreitend relevanten Bereich. Dabei wird grundsätzlich zunächst keiner der beiden Seiten ein Übergewicht über die andere unterstellt, selbst wenn beispielsweise Strange (1996, 1998) einen systematischen Rückzug des Staates insbesondere gegenüber den Finanzmärkten konstatiert, der in der wissenschaftlichen wie medialen Diskussion regelmäßig beispielsweise für die Finanzkrise seit 2008 verantwortlich gemacht wird. Für die Analyse internationaler Beziehungen ist aus der Sicht der IPÖ damit eine Fülle von Akteuren, Institutionen und Strukturen potenziell relevant, welche von Individuen und Gruppen über Staaten und internationale Organisationen bis hin zu transnationalen Institutionen und multinationalen Unternehmen reicht. Von herausragender Bedeutung für die IPÖ – und hier zeigt sich ihre Zuordnung zum interdisziplinär verstandenen Feld der Internationalen Beziehungen – ist die Frage nach den Bedingungen des Erwerbs, der Erhaltung und der Anwendung von Macht, insbesondere von hegemonialer Macht in der Welt.

Es ist offensichtlich, dass theoretisch erst die Existenz einer Hegemonialmacht die Gewährleistung für die globale Durchsetzung einer (hier: ökonomischen) Ordnungsvorstellung bietet, wenn bestehende internationale Institutionen wie IWF und Weltbank dazu allein nicht in der Lage bzw. die sie tragenden Staaten nicht willens oder fähig sind, eine solche Ordnung konsensual zu entwickeln und zu sichern, etwa aufgrund freeriding-Anreizen (Pahre 1998). Historisches Vorbild und für die IPÖ durchaus charakteristische Referenzvorstellung hierfür ist die Position Großbritanniens im internationalen System des 19. Jahrhunderts (Strange 1987, 1994a). Ein zusätzlicher Aspekt ist ferner der mögliche Zusammenhang zwischen existierendem Machtpotenzial und dem Anreiz, es zu nutzen, um im eigenen Interesse zur Stabilisierung dieser Machtposition (und damit des internationalen Systems insgesamt) die internationale Umwelt nach den eigenen Vorstellungen zu gestalten. Dies ist die Grundidee der (neorealistisch geprägten) Theorie der hegemonialen Stabilisierung, die beispielsweise auf die Beziehungen der Vereinigten Staaten zur europäischen Integration nach 1945 angewandt worden ist (z. B. Schwarz 1996). Im Unterschied zu einem letztlich malevolenten Hegemonialverhalten, das sich ausschließlich am unmittelbaren eigenen Vorteil orientiert und das internationale System entsprechend durch unilaterale Druckausübung und zu Lasten anderer Akteure organisieren will, hat eine ausreichend starke Führungsmacht nach der IPÖ möglicherweise auch einen Anreiz, selbst öffentliche Güter (also auch zugunsten anderer Akteure) bereitzustellen und eine benevolente Führungsrolle bei der internationalen (multilateralen wie institutionalisierten) Wirtschaftskooperation zu spielen (Pahre 1998). Hier führt eine machtpolitische Hegemonialposition also zu Bildung und Intensivierung internationaler Regimes und Institutionen, die im Sinne des liberalen Institutionalismus ein politisches Eigenleben entwickeln und über technisch-prozeduale und normative Rückkoppelungen das Verhalten und die Handlungsoptionen der beteiligten Akteure (Staaten) einschließlich des Hegemons einhegen und kooperativ regulieren können.

3.2 Der Machtbegriff der IPÖ

Damit ist eine Eigenheit des Machtbegriffes angesprochen, der u. a. von Susan Strange in die IPÖ und die Internationalen Beziehungen eingeführt worden ist. Im Unterschied zum traditionellen Begriff einer als „relational“ bezeichneten Macht, der in Anlehnung an Max Webers Definition die Fähigkeit meint, einen anderen Akteur dazu zu bringen, etwas zu tun, was er ansonsten nicht getan hätte, also letztlich ihn zum Handeln gegen seinen Willen zu zwingen, bezeichnet der „strukturelle“ Machtbegriff der IPÖ „the ability of state A, through its domestic as well as foreign policies, to govern or influence the context or environment within which B also has to take domestic and foreign policy-making decisions“ (Strange 1984, S. 191). Während relationale Macht damit also auf der Möglichkeit der angedrohten oder tatsächlichen direkten Druckausübung mittels militärischer und ökonomischer Überlegenheit beruht, basiert strukturelle Macht auf einer subtileren und indirekt wirkenden Dominanz des Hegemons im internationalen System. Strange (1989, S. 9–42) unterscheidet dabei vier Quellen struktureller Macht: (1) Die Kontrolle über Sicherheit ist aufgrund seiner militärstrategischen Komponenten am ehesten mit dem traditionellen realistisch geprägten Machtbegriff vereinbar und beinhaltet klassische Machtelemente wie militärische Ressourcen und Bündnisgegebenheiten. (2) Die Kontrolle über Produktion wird dem ökonomischen Aspekt der internationalen Beziehungen gerecht, indem sie Wirtschaftsstrukturen, Produktionsfaktoren und – techniken in den Machtbegriff integriert. (3) Die Kontrolle über Kredit, d. h. die internationale Stellung eines Akteurs hinsichtlich seiner Verfügung über Finanzressourcen beziehungsweise seines Einflusses auf deren globale Verteilung, berücksichtigt die Besonderheiten einer kapitalistischen Weltwirtschaft, in der technische Entwicklungen und ökonomische Investitionen in der Regel nur durch mehr oder weniger temporäre Verschuldung finanziert werden können. (4) Die Kontrolle über Wissen, Glauben und Ideen bezeichnet das Ausmaß der kulturell-wissenschaftlichen Dominanz eines Akteurs, mit Hilfe derer er die ihm eigene Weltsicht und Wertvorstellungen, welche notwendig in politische Handlungsoptionen einfließen, bewusst oder unbewusst (und in der Regel kaum direkt zu steuern) auch bei anderen Entscheidungsträgern und Institutionen verankern und so ihr politisch-ökonomisches Verhalten dem eigenen angleichen kann. Für Susan Strange resultiert daraus eine weiter bestehende, wenn auch veränderte Hegemonialposition der Vereinigten Staaten im internationalen System (Strange 1987, S. 551–554). Dabei ist wichtig, dass im Unterschied zum traditionellen, letztlich regierungszentrierten Machtbegriff der IB die vielfältigen Aspekte struktureller Macht nicht automatisch mit einer dominierenden Stellung der US-Politik gleichzusetzen ist, sondern dass die USA als Gesamtgesellschaft mit ihren ökonomischen, kulturellen und politischen Eigenschaften eine herausragende Position im internationalen System einnehmen (Schirm 2019, S. 34 ff.).

Dieser weit gefasste und differenzierte Machtbegriff ist in verschiedener Hinsicht sehr bemerkenswert. Zum einen nimmt er zum Teil neuere wissenschaftliche Entwicklungen wie die Begriffe der „soft power“, „co-optive power“ oder „smart power“ (als pragmatisch-geschickte Kombination von „hard power“ und „soft power“), wie sie Joseph Nye (1990a, b, 2008) geprägt hat, in gewisser Weise vorweg. Nye definiert „weiche Macht“ analog zu Susan Strange, jedoch (durchaus wohlwollend) auf die USA konzentriert, als „ability of a country to structure a situation so that other countries develop preferences or define their interests in ways consistent with its own“ (Nye 1990b, S. 168). Zum anderen führt er Macht- und damit Politikverständnisse aus unterschiedlichen Richtungen der Theorie der internationalen Beziehungen zusammen. So entspricht die Kontrolle über Sicherheit wie erwähnt weitgehend realistisch und neorealistisch geprägten Wahrnehmungen des internationalen Systems (z. B. Morgenthau 1963; Waltz 1979), während die Kontrolle über Produktion und Kredit den Ansatz der IPÖ beispielsweise für imperialismus- und neoimperialismustheoretische Perspektiven im Sinne z. B. Lenins (1987) und Galtungs (1971) oder für Weltsystemansätze eines sich globalisierenden Kapitalismus nach z. B. Wallerstein (1979) und Amin (1992, 1996) öffnet. Der Aspekt der Kontrolle über Wissen schließlich integriert kulturtheoretische und kognitions- wie sozialpsychologische Aspekte in die IPÖ, welche spätestens seit der „Wiederentdeckung“ immaterieller kultureller Elemente außenpolitischen Entscheidungshandelns und internationaler Strukturbildung nach dem Kalten Krieg (z. B. Mazrui 1990; Huntington 1993, 1997) eine zentrale Rolle in den Internationalen Beziehungen spielen. Zugleich löst sich der Machtbegriff zumindest teilweise von seiner traditionell in den IB ausgeprägten Bindung an den Staat und staatliche Institutionen und ermöglicht so auch die Erklärung veränderter Machtbeziehungen unter Einschluss transnationaler Akteure:

„The United States, using its structural power to lock European, Latin American and now Asian and African economies into an open world market economy, certainly intended to reap benefits and new opportunities for American business. What its policymakers did not fully intend (…) was the enhanced power that this would give to markets over governments, including their own“ (Strange 1996, S. 29).

3.3 Ein exemplarisches Hegemonialmodell und grundsätzliche Probleme

Dass die Frage nach den Möglichkeiten internationaler Hegemonie und damit strukturell begründeter Ordnungsmacht keineswegs trivial ist, zeigt sich neben der Diskussion um die Position der Vereinigten Staaten im internationalen System seit den siebziger Jahren, die nach dem Kalten Krieg einen neuen Aufschwung erfahren hat, vor allem auch in Debatten, inwieweit mangels einer völlig autonomen dominierenden Weltmacht eine Gruppe von Führungsstaaten eine solche Rolle zur Schaffung einer „neuen Weltordnung“ einnehmen könnte (Volgy und Imwalle 2000) oder ob die USA nicht früher oder später von der aufstrebenden Volksrepublik China als Führungsmacht abgelöst werden (z. B. Clark 2011; Ikenberry 2014; Zhao 2016; Modebadze 2020). Am Beispiel der G7 hat Bailin (2001) den Begriff der „institutionalisierten Gruppenhegemonie“ eingeführt, der Aspekte der neorealistischen Theorie und des liberalen Institutionalismus unter dem Vorzeichen einer dauerhaften Kooperationsstruktur benevolenter Hegemonialmächte im internationalen System zusammenführen will:

„The model defines the hegemon as a global stabilizer. The hegemon extinguishes major international economic fires to maintain liberal economic order. Stability is a public good. The hegemon possesses the necessary power capabilities and global interests to mitigate global crises or supply the public good. If global power is concentrated in the hands of a few countries, then they must collectively provide the good or behave as a group economic stabilizer since no one country has an incentive to unilaterally act. The group of powerful countries uses its overwhelming resources to support institutions, such as the IMF, World Bank or WTO. These multilateral arrangements oversee the everyday management of the world economy, but they do not have the necessary resources and flexibility to address global economic crises. This involves great power cooperation through a different type of institutional arrangement“ (Bailin 2001, S. 8).

Für die Funktionsfähigkeit einer solchen Gruppenhegemonie werden sechs zentrale Voraussetzungen und Wirkungsmechanismen identifiziert: (1) die Konzentration letztlich struktureller Machtmittel bei der Gruppe; (2) eine gemeinsame stabile Gruppenidentität auf der Basis gemeinsamer Werte und Interessen, was zugleich dazu führt, dass eine Hegemonialgruppe zur Gewährleistung dieser inneren Kohärenz möglichst klein sein soll; (3) im Hinblick auf das gegenseitige Vertrauen und das grundsätzliche Interesse an einer liberalen Weltwirtschaftsordnung die gemeinsame Charakterisierung der Gruppenmitglieder als kapitalistische Demokratien; (4) die Etablierung eines Vorbereitungsprozesses zur Klärung und Abstimmung der gegenseitigen Interessen, die dann in konkrete Maßnahmen der Gruppe insgesamt münden sollen; (5) ein Interaktionssystem der beteiligten Großmächte, das insbesondere einen institutionalisierten Wiederholungsmechanismus beinhaltet, der durch die Einführung einer Zukunftsorientierung gegenseitiges Vertrauen und gegenseitige Verantwortlichkeit unter den Akteuren gewährleistet; sowie (6) die Dokumentation gemeinsamer und nationaler Verpflichtungen in der Gruppe zur Unterstützung der gegenseitigen Verantwortlichkeit und damit der tatsächlichen Implementation von Maßnahmen, auf die man sich geeinigt hat (Bailin 2001, S. 8 f.).

Sowohl der Begriff der strukturellen Macht oder der „soft“ bzw. „smart power“ als auch das exemplarische Beispiel des Modells der ebenfalls strukturell begründeten institutionalisierten Gruppenhegemonie weisen auf das komplexe Problem der theoretischen Systematik und empirischen Fundierung bzw. Prüfung zentraler Elemente der IPÖ hin. So ist der strukturelle Machtbegriff zweifellos ein unmittelbar einleuchtendes heuristisches Konstrukt; Susan Strange ist jedoch verschiedentlich vorgeworfen worden, keine durchgängig stringente Theorie formuliert zu haben, sondern sich auf (nicht falsifizierbare) Teilaspekte und Fragestellungen beschränkt zu haben. Ein anderer Punkt betrifft die schwierige empirische Operationalisierung des strukturellen Machtbegriffs und damit auch die wissenschaftliche Überprüfung z. B. des genannten Hegemonialmodells. So bleibt fraglich, inwieweit Kontrolle über Wissen und Kultur angesichts der Fülle ihrer Aspekte und der unzureichenden Datenlage empirisch sinnvoll umzusetzen ist: Wie soll etwa der tatsächliche Einfluss der US-amerikanischen Unterhaltungsindustrie auf die globale Amerikanisierung nicht nur äußerlicher Lebensstile, sondern auch auf politisch relevante Überzeugungen getestet werden? Reicht es aus, zur Erfassung der intellektuellen Prägung gesellschaftlicher Eliten in anderen Ländern die Zahl der ausländischen Studierenden in den USA oder die Zahl der US-Patente zu betrachten? Ganz offensichtlich greifen diese Operationalisierungselemente zu kurz, um das Phänomen struktureller Macht umfassend empirisch zu erfassen, doch sind der empirischen Umsetzbarkeit des Begriffs deutliche praktische Grenzen gesetzt.

3.4 Das Verhältnis der IPÖ zu anderen Theorierichtungen der IB

Wie aus den Aspekten des Machtbegriffes hervorgeht, ist die IPÖ als integrierender Ansatz verschiedener Theorierichtungen der IB mit dem Schwerpunkt der Analyse internationaler Wirtschaftsbeziehungen i.w.S. anzusehen. Entsprechend ist die IPÖ grundsätzlich nicht nur gegenüber Nachbardisziplinen wie der Volkswirtschaftslehre offen, sondern auch gegenüber anderen Perspektiven der IB im Rahmen der Politikwissenschaft. Dennoch gibt es durchaus Unterschiede und Reibungsflächen mit einigen Theorien der IB. An dieser Stelle seien exemplarisch das Verhältnis der IPÖ zum Realismus und Neorealismus sowie zur Interdependenz- und Regimetheorie genannt, auch wenn die Kritik der IPÖ angesichts der eigenen Heterogenität keineswegs unbeschränkt verallgemeinert werden kann.

So wird gegenüber dem Neorealismus beispielsweise eingewendet, dass er aufgrund seiner Staatszentrierung keine wirkliche Aussage über die Wirkung einer sich globalisierenden Wirtschaft auf die internationale Politik treffen kann. Susan Strange wirft der theoretisch-historischen Basis des (Neo-) Realismus, dem sogenannten Westfälischen System der souveränen Staaten (so genannt wegen der offiziellen Durchsetzung des Souveränitätsbegriffs durch die Friedensschlüsse nach dem Dreißigjährigen Krieg 1648) sogar vor, aus Sicht der IPÖ als Ordnungsmodell internationaler Beziehungen grundsätzlich versagt zu haben. Aufgrund der Nähe bzw. Untrennbarkeit des Staatensystems von der kapitalistischen Wirtschaftsweise sei das Westfälische System nicht in der Lage, die vom ökonomischen System verursachten fundamentalen Probleme bei der Gewährleistung finanzpolitischer Stabilität, beim Umweltschutz und bei der gerechten Wohlstandsverteilung zwischen Industrie- und Entwicklungsländern zu lösen (Strange 1999). Aus normativer Sicht darf man daraus wohl folgern, dass die Weltsicht des Neorealismus ebenfalls überholt ist.

Der Neorealismus wird wie Ansätze aus der Regimetheorie oder der Interdependenztheorie letztlich auch deshalb kritisiert, weil die Machtverschiebung weg von den Staaten hin zu den transnational organisierten Märkten nicht ausreichend wahrgenommen werde, wie Susan Strange (1994a, b, 1996) wiederholt betont hat. Obwohl sie transnationalen Akteuren ein wesentlich größeres theoretisches Gewicht beimessen und sie explizit mit in ihre Modelle des internationalen Systems integrieren, gilt dies letztlich auch für die Regime- und Interdependenztheorie, denn ihnen fehlt gemäß der IPÖ ebenfalls „ein Verständnis für die politische Prozesse, die sich unterhalb der Ebene internationaler Regime, d. h. innerhalb der transnationalen ökonomischen und sozialen Macht- und Autoritätsstrukturen vollziehen“ (Bieling 2003, S. 366).

4 Exemplarische Themen und aktuelle Fragestellungen

4.1 Globalisierung und Global Governance im internationalen Finanz- und Wirtschaftssystem

Nachdem in Folge der neuen Unübersichtlichkeit des internationalen Systems bereits unmittelbar im zeitlichen Umfeld des Endes des Kalten Krieges globale Probleme wie die Proliferation von Massenvernichtungswaffen oder der anthropogene Klimawandel als Themen einer Global Governance formuliert worden waren, wird spätestens seit der Mexiko-Krise 1995 und insbesondere der Finanz- und Wirtschaftskrise seit 2008 auch die Neuorganisation des internationalen Finanz- und Wirtschaftssystems in der IPÖ intensiv diskutiert (z. B. Kirshner 1995; Horowitz und Heo 2001; Stevis und Assetto 2001; Mosley und Singer 2009; Bieling et al. 2013; Bradlow 2018). Insbesondere die Erfahrungen der asiatischen Finanzkrisen 1997/98 und der Weltfinanzkrise 2008 haben zu einer ganzen Reihe von Forderungen geführt, die in der politischen Diskussion oftmals die Form eines Rufes nach neuer Regulierung der internationalen Märkte nach deren weitgehenden Deregulierung in den achtziger und frühen neunziger Jahren annehmen. Gemäß den Vertretern einer neuen Global Governance hat sich die Notwendigkeit einer „Weltordnungspolitik (…) in dem Ausmaß vervielfacht, in dem die Welt kleiner geworden ist und Verbindungen zwischen ihren Teilen sich vermehrt haben“ (Ramphal 1998, S. 3). Nachdem gerade die Sphäre der internationalen Wirtschaft ein wesentlicher, wenn nicht sogar der zentrale Bestandteil der damit angesprochenen Globalisierung darstellt (Rotte 2002a, S. 8 ff.), ist sie damit ein Kernthema des Global Governance-Ansatzes. Unabhängig davon jedoch, welche Ursachen der internationalen Finanzkrisen und der wirtschaftlichen Probleme gerade auch der Entwicklungsländer diagnostiziert und welche daraus resultierenden Heilmittel gefordert werden, stellt sich in der Diskussion die Frage, wie etwaige grundsätzliche Reformen der globalen Wirtschafts- und Finanzarchitektur durch- und umgesetzt werden sollen bzw. welche Akteure die Stabilität des bestehenden oder eines erneuerten Systems gewährleisten sollen.

Angesichts des vielfach konzedierten Versagens des Internationalen Währungsfonds in den Asien- und Lateinamerikakrisen der neunziger Jahre und der durchaus massiven und gut koordinierten Intervention der sieben größten Industriestaaten liegt der Gedanke nahe, eine globale wirtschafts- und finanzpolitische Ordnungsfunktion könnte von der seit 1975 bestehenden Gruppe der Sieben (G7) ausgeübt werden. Schließlich handelt es sich dabei um die mit Abstand wirtschaftlich leistungsfähigsten westlich-demokratischen Volkswirtschaften der Welt, die neben Kanada nicht nur den nach dem Ende des Kalten Krieges dominierenden Akteur, die USA, und die vier größten Staaten der Europäischen Union (Deutschland, Frankreich, das Vereinigte Königreich und Italien) sowie Japan als Eckpfeiler der weltwirtschaftlichen „Triade“ umfassen, sondern nach der temporären Erweiterung um Russland zur G8 (1998–2014) zunächst auch vier der fünf ständigen Mitglieder des Weltsicherheitsrates (welcher jedoch laut UN-Charta für wirtschafts- und finanzpolitische Fragen zumindest nicht unmittelbar zuständig ist) aufwiesen. Auf der anderen Seite wird eingewendet, dass die ökonomische Dominanz der G7 mit dem Ausschluss Russlands in Folge der Krim-Annexion, dem rasanten Wachstum Chinas, dem Aufstieg weiterer Schwellenländer (z. B. Brasilien, Indien, Südafrika) und der Erfahrung der Finanz- und Schuldenkrise nach 2008 obsolet sei.

Der (vorsichtige) empirische Befund hinsichtlich der relationalen und insbesondere der strukturellen Machtposition der G7-Staaten deutet darauf hin, dass die G7 zu Beginn des 21. Jahrhunderts von ihrem Potenzial her tatsächlich noch immer eine – wenngleich abnehmende – globale Hegemonialposition in Anlehnung an das Modell der institutionalisierten Gruppenhegemonie innehatten (Rotte 2003). Diese Position wird noch deutlicher, wenn man den formal festgeschriebenen Einfluss der G7-Staaten in den globalen internationalen Finanzinstitutionen (IFIs) in die Betrachtung einbezieht, welche zu den traditionell zentralen Untersuchungsgegenständen der IPÖ gehören. So besitzen die USA, Japan, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien und Kanada auch nach den Stimmrechtsreformen zugunsten der Schwellen- und Entwicklungsländer seit 2010 noch immer 41,28 Prozent der Stimmen im Rahmen des Internationalen Währungsfonds (Stand Mai 2021) besitzen (davon 16,51 Prozent der USA, im Vergleich zu beispielsweise 6,08 Prozent der Volksrepublik China oder 2,63 Prozent Indiens); sie werden also unter Einbeziehung kleinerer Industriestaaten (etwa der übrigen EU-Mitgliedsstaaten) weiterhin regelmäßig in der Lage sein, Mehrheitsbeschlüsse in dessen Gremien zu realisieren. Sie besitzen ferner weiter quasi automatisch (z. B. über die USA oder die vier EU-Staaten in der G7 mit zusammen 16,4 Prozent) eine Sperrminorität gegenüber strukturellen Änderungen des IWF, die mit 85 Prozent der Stimmen beschlossen werden müssen (Rotte 2003, S. 509). Ein ähnliches Bild ergibt sich bei der Weltbank-Gruppe. So verfügen die G7-Staaten nach der Stimmrechtsreform etwa in der International Bank for Reconstruction and Development (IBRD) noch immer über zusammen 40,37 Prozent der Stimmen (davon die USA 15,84 Prozent), selbst wenn der Anteil der Schwellenländer wie China (5,05 Prozent), Indien (3,07 Prozent) und Saudi-Arabien (2,58 Prozent) insgesamt deutlich erhöht wurde (Stand Mai 2021).

Gleichwohl ist festzustellen, dass das ökonomische Gewicht der G7-Staaten in der Welt sukzessive deutlich abgenommen hat. Deckten die sieben Länder 1990 und 2000 noch rund 65 bzw. 60 Prozent der Weltproduktion (nominales BIP) ab, so schrumpfte dieser Anteil bis 2010 auf etwa 50 und bis 2019 auf rund 45 Prozent. Zwischen Mitte der 1980er-Jahre und 2019 stieg demgegenüber der Anteil der sogenannten emerging markets (Argentinien, Brasilien, China, Indien, Indonesien, Südkorea, Mexiko, Saudiarabien, Russland, Südafrika und Türkei) am nominalen Welt-BIP von etwa 15 auf über 30 Prozent (CRS 2020, S. 3). Gemessen anhand von Kaufkraftparitäten (PPP) war das BIP Chinas 2019 mit 16,8 Prozent der Weltwirtschaftsleistung zwar wohl immer noch kleiner als dasjenige der USA (24,4 %), lag jedoch bereits deutlich vor dem BIP (PPP) des Euroraumes (15,2 %), Japans (5,8 %) und Indiens (rd. 3,5 %) (IMF 2020, S. 31). Ein ähnliches Bild des relativen Abstiegs der westlichen Industriestaaten ergibt sich hinsichtlich des Welthandels (z. B. Cling 2014; Khan et al. 2019). 2018 gingen noch rund 33 Prozent der Weltexporte auf die G7 zurück, bei einem Anteil an der Weltbevölkerung von 10 Prozent (CRS 2020, S. 4). Selbst beim Verteidigungsetat, bei dem die USA traditionell global dominieren, ergeben sich Veränderungen, welche als relativer Abstieg des Westens zu interpretieren sind. So beliefen sich die diesbezüglichen Ausgaben der USA 2020 zwar nominal auf 39 Prozent der globalen, doch die Ausgaben Chinas, die sich gemäß Marktwechselkursen auf rund ein Drittel der US-amerikanischen beliefen (778 Mrd. USD vs. 252 Mrd. USD), umfassten nach Kaufkraftparitäten bereits zwei Drittel dieser (SIPRI 2021; The Economist, 1. Mai 2021, S. 73).

Trotz einer Vielzahl von Initiativen, auch etwa im gesundheits-, klima- oder sicherheitspolitischen Bereich, und einer durch den Ausschluss Russlands (und unter Ausblendung der Präsidentschaft Donald Trumps) wiedergewonnenen höheren Konsistenz und Compliance kommt eine Funktion als alleiniges „Weltwirtschafts- und -finanzdirektorium“ im Sinne einer konsequent organisierten und durchgesetzten Hegemonie für die G7/G8 daher nicht mehr wirklich in Betracht. Hierfür besitzt sie letztlich weder den notwendigen Interessenkonsens und die innere Stabilität zur konfliktären Durchsetzung fundamentaler globaler Strukturreformen noch die faktische machtpolitische Durchsetzungsfähigkeit. Der mögliche Ausweg, der entsprechend seit einigen Jahren zur tatsächlichen Umsetzung solcher Reformen im Sinne einer Global Governance in der Wirtschafts- und Finanzpolitik beschritten wird, ist die Beteiligung weiterer zentraler Akteure des internationalen Systems nach dem Muster der bisherigen Mitwirkung der EU-Kommission oder des IWF-Exekutivdirektors, ohne den Kern der G7 durch zusätzliche Aufnahmen in den engeren Kreis weiter aufzulockern. An die Stelle einer echten Hegemonialrolle könnte damit eine durchaus lenkende, jedoch auf möglichst konsensuale Durchsetzung bedachte Leitungs- und Anregungsfunktion der G7 zur Stabilisierung der globalen Ökonomie treten, in der insbesondere auch die Zentralbanken (allen voran die Federal Reserve Bank, die Europäische Zentralbank, die Bank of Japan und die Bank of England) eine wichtige Rolle spielen und in der auch der neuen Bedeutung der Schwellenländer, insbesondere Chinas, Rechung getragen wird.

Tatsächlich haben die G7-Staaten bereits 1999 einen gewichtigen Schritt in diese Richtung unternommen, indem sie die Gruppe der 20 (G20) ins Leben riefen. Die Mitglieder dieser üblicherweise auf der Ebene der Finanzminister und Notenbankchefs agierenden Gruppe sind neben den G7-Staaten und den sonstigen nicht staatlichen Teilnehmern (Repräsentanten der EU-Ratspräsidentschaft, des IWF und der Weltbank) die genannten elf emerging market-Staaten sowie Australien und die EU. Zusammen deckt die G20 (inklusive EU) etwa 82 Prozent des globalen BIP, 72 Prozent der Weltexporte und 62 Prozent der Weltbevöllerung ab (Stand 2018/19; CRS 2020, S. 4). Obwohl sich der Abstimmungsprozess unter dieser erhöhten Zahl von Akteuren mit einer größeren Bandbreite nationaler Interessen und ideologischer Ausrichtungen (z. B. im Hinblick auf den „Nord-Süd-Konflikt“) wesentlich schwieriger gestaltet als in der G7 und etwa der afrikanische Kontinent deutlich unterrepräsentiert ist, soll die G20 dabei die zentrale Aufgabe als Legitimations- und Transmissionsmechanismus einer neuen Global Governance erfüllen, die sich im Geflecht von G7, IWF, Weltbank und ihren internationalen Diskussions- und Koordinierungsgruppen entwickeln soll. Tatsächlich hat sich dieses Gremium als wesentliches Koordinations- und Legitimationsforum in der Bekämpfung der Weltfinanzkrise seit 2008 erwiesen und zu einer auch institutionellen Aufwertung der Schwellenländer im Weltfinanz- und – wirtschaftssystem geführt, auch wenn die strukturbildende Nachhaltigkeit seines Wirkens in der Forschung umstritten ist (z. B. Ecclestone et al. 2013; Drezner 2014; Sundaram 2014; Schirm 2019, S. 61–68).

Problematisch für eine effektive Global Governance im Weltwirtschafts- und Finanzsystem sind zudem die zu beobachtende Tendenz zu populistisch oder machtpolitisch motiviertem Protektionismus unter den Hauptakteuren der Weltwirtschaft, insbesondere im Konkurrenzverhältnis der Vereinigten Staaten und der Volksrepublik China, aber auch zwischen den NATO-Staaten und Russland. Unterstützt durch eine dem ökonomischen Nationalismus nahestehenden Interpretation weltwirtschaftlicher Strukturen und Prozesse sowie einer zunehmend kapitalismusskeptischen Globalisierungskritik vor dem Hintergrund von Finanzkrisen, Klimawandel und Covid-19-Pandemie wird auch die Frage der Institutionalisierung effizienter und gerechter Governance-Strukturen im globalen ökonomischen Kontext zunehmend zu einer Frage ideologischer Weltsichten und machtpolitischer wie weltanschaulicher Systemkonkurrenz (Ly 2020; Rodrik 2020; Levy 2021). Exemplarisch hierfür ist etwa der G7-Gipfel 2021, der u. a. wegen der zusätzlichen Einladung Australiens, Indiens, Südkoreas und Südafrikas nicht nur als Ausdruck der aktuellen Schwäche bzw. der politischen Opposition der BRICS-Staaten, sondern gar als erster Gipfel „der Anti-China-Koalition“ (Dieter 2021, S. 1) interpretiert worden ist.

4.2 Regionale Strukturen und neue Institutionen

Die zunehmend konfliktäre globale Auseinandersetzung um eine nachhaltige Weltwirtschafts- und Finanzordnung führt nicht zuletzt zu einer gesteigerten Attraktivität regionaler ökonomischer Kooperationsräume, welche zugleich dem Aufstieg verschiedener Schwellenländer zu neuer wirtschaftlicher und damit potenziell politischer Rechnung tragen. Dazu gehören in der Wahrnehmung der IPÖ neben China und Indien insbesondere die übrigen BRICS-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika), wobei innenpolitische und ökonomische Krisen die Wachstumsdynamik Brasiliens und Südafrikas deutlich gebremst haben und Russland als alte Industriemacht des Nordens abgeshen von seinen weltpolitischen oder antiwestlichen Motiven strukturell aus der Reihe fällt. Zugleich verweist die Zunahme der Bemühungen um regionale Alternativen zu den etablierten, von den westlicher Demokratien dominierten internationalen Organisationen (IWF, Weltbank) wiederum auf die sukzessive Schwächung der Governance-Strukturen des alten Bretton Woods-Systems verweist (Stephen 2017). Dies zeigt sich auch in den Bemühungen und interregionale und interkontinentale Freihandels- und Wirtschaftsräume jenseits der traditionellen regionalen Integration (wie z. B. EU, Mercosur oder ECOWAS) und der WTO. So entstanden allein in der zweiten Dekade des 21. Jahrhunderts neue großräumige Freihandelszonen wie die Freihandelszone der GUS (2011), die Eurasische Wirtschaftsunion mit den Gründungsmitgliedern Russland, Kasachstan und Belarus (2014), CETA (Comprehensive Economic and Trade Agreement zwischen der EU und Kanada, 2016), CPTPP (Comprehensive and Progressive Agreement for Trans-Pacific Partnership, 2018) mit elf Gündungsmitgliedern, darunter Australien, Chile, Japan, Kanada, Mexiko, Neuseeland und Vietnam, die panafrikanische Freihandelszone AfCFTA (African Continental Free Trade Area, 2018), das Freihandelsabkommen zwischen der EU und Japan (2018), die RCEP (Regional Comprehensive Economic Partnership, 2020) mit China, Japan, Australien, Neuseeland, Südkorea und den ASEAN-Staaten.

Auch die chinesische Belt and Road-Initiative („One Belt, One Road“, BRI oder OBOR) seit 2013 kann mit seinen massiven Infrastrukturinvestitionen im Sinne eines neuen Wirtschaftsgroßraums interpretiert werden. Auch wenn die BRI dabei zweifellos Ausdruck der neuen globalen Bedeutung und Ambitionen der Volksrepublik ist, konzentrieren sich die Projekte der „Neuen Seidenstraße“ und der „Maritimen Seidenstraße“ trotz der Involvierung von Teilen Afrikas noch immer vor allem auf den eurasischen Raum, haben also einen deutlichen kontinentalen bzw. interkontinentalen Focus (Garlick 2020; Rahman 2020; Schneider 2021). Ähnliches gilt für die unter maßgeblicher Federführung Chinas 2015 gegründete Asiatische Infrastrukturinverstionsbank (AIIB), die in Konkurrenz zu den etablierten Institutionen der Weltbank und der Asiatischen Entwicklungsbank steht (Xing 2016; Wu 2018; Wei 2021). Zugleich ist jedoch darauf hinzuweisen, dass die Perspektive auf die AIIB als ausschließlich einseitiges antiwestliches Instrument chinesischer Wirtschafts- und Machtinteressen wohl zu einfach ist. So besitzt die Volksrepublik mit rund 26,6 Prozent zwar das deutlich größte Stimmgewicht in der Bank und die Vereinigten Staaten beteiligen sich bislang nicht, doch 19 EU-Staaten und das Vereinigte Königreich sind der AIIB als extraregionale Mitglieder beigetreten und kommen gemeinsam auf einen Stimmenanteil von immerhin ca. 21 Prozent Stimmenanteil. Zusammen mit den rd. 5 Prozent Stimmenanteil Kanadas, Australiens und Neuseelands sind die westlichen Demokratien auch ohne die USA (und Japan) damit in der AIIB etwa gleich stark vertreten wie China. Auch die BRI muss differenzierter betrachtet werden als als geostrategischer „Masterplan“ der chinesischen Führung zur Erlangung ökonomischer und politischer Dominanz über Eurasien. So werden in der bisherigen IPÖ-Literatur zur BRI beispielsweise die wirtschaftlichen, finanziellen und technischen Probleme konkreter Investitionsgroßprojekte, die politischen und gesellschaftlichen Widerstände gegen einen wachsenden chinesischen Einfluss oder die Rückkopplungseffekte auf die chinesische Politik oft nur unzureichend berücksichtigt (Blanchard 2021).

4.3 Regionale Integration am Beispiel der EU

Theoretische Ansätze zur Erklärung der europäischen Integration gehören zum traditionellen Kerngebiet der Forschung in der IPÖ. Dies liegt sowohl an den Besonderheiten der historisch-institutionellen Ausprägung und supranationalen Qualität des Integrationsprozesses als auch an der intensiven Interaktion und Interdependenz politischer und ökonomischer Interessen und Strukturen im Rahmen der Entwicklung der EG/EU. Übersichten über die Theorien der europäischen Integration und ihre Entwicklung finden sich bei Giering (1997), Rosamond (2000), Wiener et al. (2009), Saurugger (2013) oder Bergmann und Niemann (2015). Grundsätzlich lassen sich zur Strukturierung der mittlerweile kaum noch zu übersehenden Vielfalt an Theorieansätzen stark vereinfacht drei Grundrichtungen unterscheiden (Rotte 2005, S. 98). An erster Stelle stehen hier in der Mehrheit ältere Ansätze, die die qualitative Besonderheit der europäischen Integration gegenüber den bisherigen Mustern der internationalen und europäischen Beziehungen betonen. Sie gehen davon aus, dass die Nationalstaaten nicht mehr in der Lage sind, die sozioökonomischen und politischen Probleme moderner Gesellschaften allein zu lösen und daher zum Zusammenschluss gezwungen sind, nicht zuletzt auch vor dem Hintergrund der historischen Erfahrung der in zwei Weltkriegen gescheiterten Friedenssicherung in Europa. Die Dynamik der Integration wird dabei auf Sachzwänge i.w.S. (Funktionalismus) oder/und normative Steuerung der Völker durch einsichtige politische, gesellschaftliche und ökonomische Eliten zurückgeführt (Föderalismus). Beabsichtigtes oder funktional unvermeidliches Ziel des Integrationsprozesses ist die Ablösung der europäischen Nationalstaaten als Zentren politischer Macht und Identifikation durch einen europäischen Bundesstaat oder ein neues, nicht notwendigerweise traditionellen Staatsvorstellungen entsprechendes Governance-Gebilde. Kernpunkte dieser „supranational“ orientierten Theorieansätze ist damit eine grundsätzliche Staatsskepsis, die Bewertung der EG/EU als besonderes historisches Phänomen und eine gewisse normative Grundprägung im Sinne einer impliziten Propagierung eines europapolitischen Idealbildes. Sie sind also teilweise besonders der normativ-ontologischen Richtung der Politikwissenschaft zuzuordnen und vertreten bisweilen eine Art von Europabegeisterung, wie sie für die fünfziger und sechziger Jahre durchaus typisch war und die es im Sinne der oben angestellten Überlegungen und Grundentscheidungen zur Kenntnis zu nehmen gilt.

Dieser Perspektive gewissermaßen entgegengesetzt sind Ansätze, die aus der Tradition der Internationalen Beziehungen stammen und die EG/EU bei aller quantitativ bemerkenswerten Kooperations- und Integrationsdichte grundsätzlich nicht als qualitativ neues Phänomen betrachten, sondern bestehende Erklärungsmuster für nationales Verhalten auf internationaler Ebene auch auf die europäische Integration anwenden. Auch wenn die EU als besondere internationale Organisation anerkannt wird, wird sie weiterhin in erster Linie als (wenn auch sehr weit gehender) Zweckverband der europäischen Staaten angesehen, der jedoch keineswegs zur Auflösung der Nationalstaaten führen muss oder wird. Gemäß dieser „intergouvernementalistischen“ Sichtweise bleiben die Staaten mit ihren jeweiligen nationalen Interessen die entscheidenden Akteure in der europäischen Integration. Offensichtlich spielen hier der traditionelle Realismus/Neorealismus der Internationalen Beziehungen sowie verschiedene staatenbezogene Erklärungsmuster für internationale Kooperation, wie die Interdependenz- und die Regimetheorie, eine tragende Rolle.

Während die beiden erstgenannten Richtungen letztlich die bereits oben ausgeführte Fundamentaldebatte der Internationalen Beziehungen seit den sechziger Jahren abbildet, betrifft die dritte theoretische Perspektive der europäischen Integration den Beitrag der Politischen Systemlehre. Ausgehend von der extremen Vernetzung der Institutionen und Akteure des sich integrierenden Europa (einschließlich der Nationalstaaten und ihrer Untergliederungen) und der wachsenden Komplexität des politischen Prozesses auf und zwischen drei staatlichen Ebenen (EU – Nationalstaat – innerstaatliche Gebietskörperschaften), die jeweils mit immer besser organisierten Interessengruppen und nicht zuletzt der Öffentlichkeit konfrontiert sind, beschäftigen sie sich insbesondere mit den Entscheidungsprozessen in der Union, auch jenseits fundamentaler Weichenstellungen im Prozess der fortschreitenden Integration. Beispielsweise wird hier die Interaktion der verschiedenen Entscheidungsebenen auch ungeachtet ihrer formellen Kompetenzen und das unterschiedliche Verhalten von politischen, bürokratischen und insbesondere auch wirtschaftlichen Akteuren auf verschiedenen Politikebenen untersucht z. B. von Collison (1999). Das Zusammenspiel der verschiedenen Ebenen resultiert in einem dichten grenzüberschreitenden Netzwerk nichtlinearer politisch-administrativer Beziehungen ohne klare Hierarchien und mit komplexen Bargaining-Prozessen. Das Modell der Mehrebenenpolitik („Multi-Level-Games“) lässt sich etwa zur empirisch gestützten Erklärung der Zustimmung der europäischen Regierungen zu den Kriterien der Aufnahme in die Währungsunion und des Stabilitätspaktes zu Beginn der neunziger Jahre verwenden, wie Rotte (1998, 2004) gezeigt hat.

Es muss dabei betont werden, dass die Ansätze aus dem Bereich der Politischen Systemlehre natürlich nicht unverbunden neben denen der supranationalen und intergouvernementalistischen Theorien aus den Internationalen Beziehungen stehen. So befinden sich bereits Perspektiven wie der Föderalismus, der Neofunktionalismus oder die Fusionstheorie selbst an der Schnittstelle der beiden Teildisziplinen der Politikwissenschaft. Im Unterschied zu den übrigen intergouvernementalen Ansätzen erkennt die letztgenannte Fusionsthese Wolfgang Wessels (1992) die Einzigartigkeit der Europäischen Union an, wobei sie jedoch weiterhin ihren Ausgangspunkt bei den Nationalstaaten findet. Die westeuropäischen Staaten haben danach in ihrer Entwicklung zum Wohlfahrtsstaat die innerstaatliche Reichweite ihrer Politik immer weiter ausgebaut, sind angesichts der zunehmenden internationalen Interdependenz jedoch immer weniger in der Lage, ihre erworbenen Aufgaben allein zu erfüllen und müssen entsprechend immer stärker international kooperieren. Die Stabilisierung der nationalen politischen Systeme erfordert entsprechend eine immer weiter gehende Abgabe von Souveränität an supranationale Institutionen und führt zu einer Aushöhlung der parlamentarischen Verfassungsstaaten (Ebenen- und Entscheidungsdilemma). Zur Sicherung der nationalen Interessen auch auf europäischer Ebene sichern sich die Staaten besondere Beteiligungsrechte in dem entstehenden „fusionierten Föderalstaat“ mit quasistaatlichen Zügen. Zur Sachpolitik auf europäischer Ebene, die aus Effizienzgründen zu Mehrheitsentscheidungen tendiert, gesellen sich entsprechend quasikonstitutionelle Grundentscheidungen, die nur einstimmig zu fassen sind. Die Folge sind ein Höchstmaß an Ausdifferenzierung und Komplexität der europäischen Entscheidungsstrukturen, die nicht zuletzt auch durch das wachsende Eigeninteresse wirtschaftlicher Akteure und der supranationalen Organe (Kommission, Europäisches Parlament, EuGH) im Rahmen von Verhandlungskoalitionen mit einzelnen nationalen Regierungen gefördert werden. Die IPÖ fragt dabei u. a. nach den entscheidenden Akteuren und Verhandlungsprozessen, welche die rechtliche und faktische Gestaltung der Europäischen Union bestimmen sowie vor dem Hintergrund der Vertragsrevisionen seit 1990 nach den möglichen Spielarten und eventuellen Endpunkten der Erweiterung und Vertiefung der EU. Angesichts der Krise der Eurozone stellt sich in diesem Zusammenhang auch vermehrt die Frage nach einer Renationalisierung der EU-Politik und -Strukturen.

Aus der Sicht der etablierten Theorien der IPÖ zur europäischen Integration ist neben der teilweise zunehmenden Europaskepsis im Kontext rechts- (und links-) populistischer Strömungen in der EU nicht zuletzt der Brexit eine grundlegende Herausforderung. Insbesondere eher technokratisch oder ökonomisch-rationale Ansätze wie der Neofunktionalismus oder der Intergouvernementalismus können einen Rückschritt in der Integration kaum ohne einen fundamentalen Bruch in den zugrunde liegenden materiellen Rahmenbedingungen als Anreiz für vertiefte Kooperation erklären. Demgegenüber ist beispielsweise die Fusionsthese hinsichtlich des Integrationsfortschritts grundsätzlich ergebnisoffen, nachdem das Ebenen- und Entscheidungsdilemma auch immer die Möglichkeit wachsenden Widerstands gegen eine weitere Schwächung nationaler Souveränität impliziert. Neuere Ansätze zur Analyse von Desintegrationstendenzen in der EU betonen gerade diesen (innen-) politischen und weltanschaulichen Aspekt einer „postfunktionalen“ Interpretation der Integration, in der insbesondere deren wirtschaftlichen Erfolge nicht mehr ausreichen, um identitätsbezogene Bedürfnisse großer Teile der Bevölkerung zu erfüllen (z. B. Czech und Krakowiak-Drzewiecka 2019). In diesem Sinn erweist sich die erfolgreiche materielle Kooperation und Integration gewissermaßen als kontraproduktiv für die immateriellen Aspekte von Politik und Wirtschaft.

4.4 Die „Wiederentdeckung“ Afrikas in der IPÖ

Nicht zuletzt die Verwerfungen in der Weltökonomie in Folge der Finanz- und Wirtschaftskrise nach 2008 sowie des Aufstiegs Chinas und anderer Schwellenländer hat seit einigen Jahren in der IPÖ ebenso wie in der praktischen Politik zu einem Neuerwachen des Interesses an den spezifischen Perspektiven des „Globalen Südens“ und hier nicht zuletzt (Subsahara-) Afrikas geführt (Deciancio und Quiliconi 2020a, b). Neben einer kritischen Revision der Befunde und Erklärungsansätze zur anhaltenden sozioökonomischen Entwicklungskrise bei gleichzeitig postulierter „Renaissance Afrikas“ (Collier 2008; Ohiorhenuan und Keeler 2008; Osaretin et al. 2013; Bush 2018; Khisa 2019; Cramer et al. 2020) stehen insbesondere zwei inhaltliche Aspekte im Mittelpunkt der Debatten: Erstens wird angesichts der wachsenden Bedeutung des wirtschaftlichen Engagements der Volksrepunlik China in Afrika, insbesondere Ostafrika, die Frage aufgeworfen, inwieweit das Ausgreifen Chinas nach Afrika nicht nur Ausdruck einer neuen entwicklungspolitischen Kooperationsachse (Asante 2018) und der wachsenden weltpolitischen Konkurrenz und Konfliktkonstellation zwischen dem Westen, v. a. den Vereinigten Staaten (im afrikanischen Raum aber auch etwa Frankreich), und der aufsteigenden Weltmacht China ist (z. B. Hillman und Sacks 2021), sondern zugleich Züge einer neokolonialen Abhängigkeit der afrikanischen Staaten von China im Sinne der strukturellen Theorie des Imperialismus oder der Dependencia-Theorie aufweist (z. B. Mhandara et al. 2013; A’Zami 2014; Chen 2016; Okolo und Akwu 2016; Ehizuelen 2017; Etim und Reason 2018; Reeves 2018).

Zweitens wird das Verhältnis der Europäischen Union zu den afrikanischen Staaten, den regionalen afrikanischen Integrationsräumen und der Afrikanischen Union thematisiert, nicht zuletzt vor dem Hintergrund des Auslaufens des Cotonou-Abkommens im Jahr 2020, welches ab 2000 als Nachfolger der Lomé-Arrangements seit 1975 fungierte. Insbesondere die von der EU forcierten Wirtschaftspartnerschaftsabkommen (EPA) mit Teilgruppen afrikanischer Staaten sowie das Prinzip „Aid for Trade“ waren und sind Streitpunkte in der entwicklungs-, wirtschafts- und außenpolitischen Literatur (z. B. Ngwakwe 2015; Hurt 2020; Saltnes et al. 2020). In jüngster Zeit rücken auch die geplanten oder auszubauenden Wirtschaftskorridore zwischen Europa und Afrika als konkurrierende Alternative oder Ergänzung der chinesischen Belt-and-Road-Initiative zunehmend ins Blickfeld der Forschung in der IPÖ, die dabei auch deutliche Bezüge zur Wirtschaftsgeografie aufweist (z. B. Öberg et al. 2016; Scholl et al. 2019; Tanchum 2021).

4.5 Der „Liberale Frieden“

Das fundamentale Thema der Internationalen Beziehungen ist das Problem von Krieg und Frieden. Aus Sicht der IPÖ stellt sich daraus die Frage, welche Strukturen und Organisationsformen des internationalen Wirtschaftssystems zur Stabilisierung der internationalen Politik beitragen können. Liberale und neoliberale Auffassungen sind wie oben erläutert in dieser Hinsicht eindeutig: Globaler Freihandel, freie Kapitalmärkte und Investitionsströme, fair geordnet durch entsprechende internationale Organisationen sorgen für wachsenden Wohlstand, transnationale Kommunikation und Feindbildabbau sowie ein zunehmendes Interesse an der Aufrechterhaltung des Friedens als Garant lukrativen Wirtschaftens. Mit deutlichen Bezügen zur liberalen Theorie betont Immanuel Kant in seiner Schrift „Vom Ewigen Frieden“ den internationalen Handel zwischen offenen republikanischen (d. h. heute: demokratischen) und durch das Völkerrecht verbundenen Gesellschaften als wichtiges Element internationaler Friedenssicherung. Im 19. und 20. Jahrhundert wurde die liberale Argumentation ein wesentlicher Bestandteil ökonomisch argumentierender Pazifisten, welche auf die Unmöglichkeit materieller Gewinne durch einen modernen, selbst einen siegreich geführten Krieg unter Großmächten und die wirtschaftliche Ressourcenverschwendung der Rüstungswettläufe zwischen den europäischen Staaten hinwiesen, etwa von Norman Angell (1910).

Theoretisch lassen sich drei Transmissionsmechanismen unterscheiden, die von intensivierter transnationaler Wirtschaftsinteraktion und internationaler Interdependenz zu einer wachsenden Wahrscheinlichkeit friedlicher Streitbeilegung führen: (1) Zunehmende ökonomische Interdependenz erhöht offenbar die Opportunitätskosten eines Krieges. Rationale Entscheidungsträger, die die potenziellen Gewinne militärischer Gewaltanwendung einschätzen, werden daher zunehmend darauf verzichten, Krieg als Option der Außenpolitik in Erwägung zu ziehen. Dieses Ergebnis eines einfachen Kosten-Nutzen-Kalküls lässt sich gut mit Hilfe des Erwartungsnutzenansatzes modellieren, wie er aus der Mikroökonomie bekannt ist (z. B. Bueno de Mesquita und Lalman 1992). (2) Internationale Handels- und Finanzverbindungen führen zu besserer Information über fremde Länder, Gesellschaften und Einstellungen. Daraus resultiert eine Tendenz zur Verbesserung internationaler Verständigung und zum Abbau ideologischer Interessenkonflikte. Diese Vorstellung war auch von Bedeutung in der westlichen, insbesondere der europäischen Strategie im KSZE-Prozess der siebziger und achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts und spielt auch eine Rolle im Ansatz eines „Wandels durch Handel“, welcher vom Westen gegenüber der Volksrepublik China und den islamischen Staaten praktiziert wird. (3) Mittel- und langfristig soll wachsende Interdependenz zur Förderung des so genannten „Demokratischen Friedens“ beitragen. Transnationaler Handel, Investitionen, Entwicklungshilfe etc. führen zu wirtschaftlichem Wachstum, der Auflösung autoritärer Regierungssysteme (Weede 1995, s.o.) und zu einem Prozess der graduellen Herausbildung demokratischer Strukturen, wie er in der Politischen Soziologie beschrieben wird (z. B. Lipset 1959). Nachdem jedoch empirisch weitgehend gesichert scheint, dass Demokratien untereinander keinen Krieg führen, bedeutet diese Entwicklung, deren Hauptproblem die Komplexität des gesellschaftlichen Wandels und dessen Dauer ist, dass ein offenes Weltwirtschaftssystem nachhaltig zum internationalen Frieden beitragen kann. Dies zeigen die klassischen Übersichtsaufsätze von Chan (1997), McMillan (1997) oder Oneal und Russett (1997).

Ebenso eindeutig wie die friedensfördernde Wirkung von Handel und Finanztransaktionen nach der liberalen Theorie ist die Kritik, welche aus der Sicht der beiden anderen traditionellen Grundströmungen der Politischen Ökonomie am Liberalen Frieden geäußert wird (Silberner 1946, S. 12; Rotte 2002a, S. 251–337). Die national orientierte, realistische Position verweist wiederum darauf, dass es nicht kosmopolitisch motiviertes, an der gesamten Weltwohlfahrt orientiertes Entscheidungshandeln ist, das über Krieg und Frieden entscheidet, sondern egoistisches einzelstaatliches Kalkül, welches auch auf Kosten anderer gehen kann. Im Übrigen beinhaltet das angesprochene Problem asymmetrischer Interdependenz eine potenzielle weitere Verschiebung relativer Macht zuungunsten der ohnehin abhängigeren, d. h. schwächeren Seite, was wiederum die Wahrscheinlichkeit gewaltsamer Konflikte erhöhe, entweder in Form von Präventivkriegen des sich benachteiligt Fühlenden oder als Hegemonialkrieg des Überlegenen. Demgegenüber sieht die marxistisch geprägte Perspektive der Politischen Ökonomie die internationalen Wirtschaftsstrukturen ohnehin als Ergebnis kapitalistischer Ausbeutungsbestrebungen, die nur konfliktträchtig und keinesfalls friedenspolitisch produktiv sein können. Aus sozialistischer Sicht erhöht ein offenes Weltwirtschaftssystem nur die Wahrscheinlichkeit großer und kleiner Kriege, zumindest so lange, wie die zugrunde liegenden kapitalistischen Gesellschaftsstrukturen nicht überwunden werden.

Über die grundsätzlichen paradigmatisch-weltanschaulichen Probleme des Liberalen Friedens hinaus sind sechs zentrale theoretische Gegenargumente zu nennen, die in der IPÖ-Literatur eine Rolle spielen (Rotte 2002b): (1) Das Modell des rationalen Erwartungsnutzens bildet das Entscheidungsverhalten in der Außen- und Sicherheitspolitik möglicherweise nur unvollständig ab. Selbst wenn wachsende Interdependenz zweifellos die Opportunitätskosten eines Krieges erhöht, kann ein rücksichtsloser Sieger in einer modernen ökonomischen Umgebung vielleicht besonders hohe materielle Gewinne realisieren, indem er die unterlegene Volkswirtschaft ohne die vom Liberalismus stillschweigend vorausgesetzte Fairness ausbeutet. Das Beispiel der deutschen Besatzungsregimes in Westeuropa in den beiden Weltkriegen deutet ganz klar in diese Richtung, wie Libermans (1996) detaillierte historische Studie zeigt. In diesem Sinne mag die gegenwärtige Betonung des Liberalen Friedens in der nordamerikanischen und westeuropäischen Literatur das Ergebnis einer gewissen euro- bzw. okzidentzentrischen Wahrnehmung der Welt sein, die dauerhaft durch die desaströse Erfahrung zweier Weltkriege geprägt worden, genau deshalb jedoch nicht unbedingt auf andere Weltregionen übertragbar ist. (2) Die Verbindung von ökonomischer Öffnung, Demokratie und Frieden könnte eine Scheinkorrelation sein, und zwar dann, wenn die wirkliche Ursache des Friedens die Hegemonie und Ordnungsinteressen einer dominierenden Macht sind. Im Sinne der Theorie hegemonialer Stabilisierung wären ein hohes Maß wirtschaftlicher Interaktion und Interdependenz das Ergebnis, nicht die Basis internationalen Friedens. Eine Führungsmacht nach dem Vorbild der USA in Westeuropa nach 1945 kann ihren Einfluss auf die Alliierten nutzen, um Freihandel, Investitionen und Demokratie in ihrer Einflusszone zu fördern. (3) Die mikroökonomischen Annahmen über das rationale menschliche Entscheidungsverhalten können übersimplifiziert sein. Im Gegensatz zum ersten Punkt wird hier nicht auf die inhaltlichen Aspekte der ex ante vorgenommenen Kosten-Nutzen-Analyse (und damit die Möglichkeit falscher Erwartungen) abgestellt, sondern auf die formale Modellierung. Das einfache Standardmodell des homo oeconomicus wird abgelehnt und stattdessen auf komplexere, vornehmlich aus der empirischen Psychologie Optimierungsmodelle zurückgegriffen. Ein typisches Beispiel hierfür ist die „Prospect Theory“, welche die Form der Problemstellung („framing“) und die Dynamik des Entscheidens betont. Hier wird die Vorstellung der politischen Entscheidung als rationale Abwägung erwarteter Kosten und Nutzen von Optionen zwar akzeptiert, doch je nach z. B. der Formulierung der Entscheidungsfrage (z. B. in Form potenzieller Gewinne oder möglicher Verluste) oder dem Ausmaß bereits vergeblich realisierten Einsatzes, nach der Standardtheorie also eigentlich abzuschreibenden „sunk costs“, werden diese Kosten und Nutzen unterschiedlich gewichtet. In der Folge ist das Ergebnis des Optimierungsprozesses weit weniger eindeutig als in der üblichen Kosten-Nutzen-Analyse. (4) Die Vorstellung des Liberalen Friedens ignoriert möglicherweise innenpolitische Aspekte, welche das Entscheidungsverhalten außenpolitischer Akteure unabhängig von der ökonomischen Bewertung der Sachfrage selbst beeinflussen oder sogar dominieren können. Regierungen können beispielsweise angesichts von Wahlen auf den „rally-round-the-flag“-Effekt eines Krieges zählen und sich bessere Chancen ausrechnen, im Amt zu bleiben, oder der Druck der öffentlichen Meinung kann in Krisensituationen dazu führen, dass Entscheidungsträger, welche bis dato massiven Druck auf die andere Konfliktpartei ausgeübt haben, es sich nicht mehr leisten können, die Eskalation zum Krieg durch rechtzeitiges Zurückstecken zu vermeiden, wenn sie nicht Gesicht und Amt verlieren wollen. (5) Die ökonomische Rationalität von Entscheidungsträgern kann durch alle Arten von Informations- und Perzeptionsproblemen einer komplexen Situation restringiert sein. Gruppenpsychologische Phänomene, ideologische Wahrnehmungsverzerrungen, Stereotype, Feindbilder, interkulturelle Kommunikationsprobleme, Stress, zu viele, widersprüchliche, unsichere oder vorselektierte Informationen usw. führen insbesondere in Krisensituationen dazu, dass das tatsächliche Verhalten von Politikern deutlich von der nüchternen Kosten-Nutzen-Abwägung verschiedener Handlungsalternativen abweichen kann. (6) Ökonomische Modernisierung als zentrales Element des Liberalen Friedens impliziert nicht nur eine Veränderung wirtschaftlicher Strukturen, sondern auch gesellschaftlicher Normen und kultureller Werte. Geschieht der Wandel jedoch zu schnell, entsteht das Problem der Inkulturation, d. h. der drohenden Eliminierung der eigenen Kultur durch importierte Wertvorstellungen, was wiederum Widerstand gegen die materielle Modernisierung durch transnationalen Handel etc. nach sich ziehen kann. Wird die Modernisierung als Verwestlichung oder Amerikanisierung empfunden, kann dies in einem nächsten Schritt insbesondere in der außerwestlichen Welt auch zu kulturell, z. B. religiös-fundamentalistisch begründeten Konflikten führen. In diesem Sinne würde der Liberale Frieden sogar kontraproduktiv wirken.

Zu diesen theoretischen gesellen sich häufig noch verschiedene empirische Probleme der Datenerhebung und Operationalisierung, selbst wenn statistisch-technische Modellierungsmängel nicht einbezogen werden. Dazu gehören etwa eine unzureichende Identifikation von Aggressor und Verteidiger in vielen gängigen Datensätzen, eine makrosystemische Perspektive, die im Sinne eines ökologischen Fehlschlusses Kontexte mit konkretem individuellen Entscheidungsverhalten gleichsetzt, oder die konkrete Defintion und Messung zentraler Begriffe wie „(zwischenstaatlicher) Krieg“, „Interdependenz“ oder „Demokratie“ (Rotte 2002a, S. 107–109).

4.6 Wirtschaftskrieg, Financial Warfare und Debt Trap-Diplomacy

Eine Alternative zum Liberalen Frieden, mit ökonomischen Mitteln Friedenssicherung zu betreiben, betrifft die Schwächung oder Ausschaltung des wirtschaftlichen (und damit militärischen) Potenzials eines möglichen oder tatsächlichen Aggressors zur Vermeidung oder Beendigung von Kriegen, wie z. B. Forland (1993), Hufbauer et al. (2007) oder Naylor (2008) verdeutlichen. Diese Sicht ökonomischer Sanktionen oder nach dem weitergefassten angelsächsischen Begriff des „economic warfare“ ist z. B. in Art. 41 und 42 der Satzung der Vereinten Nationen niedergelegt. Historische Beispiele für Versuche, Konflikte ohne weiteres Blutvergießen durch wirtschaftliche Blockademaßnahmen zu beenden, sind etwa Napoleons Kontinentalsperre gegen Großbritannien 1805–1812, die Blockade der Union gegen die Konföderierten Staaten von Amerika 1861–1865 und die alliierten Blockaden gegen Deutschland in den beiden Weltkriegen. Während des Kalten Krieges restringierte das CoCom-Embargo der USA und ihrer Verbündeten Exporte in die Warschauer Pakt-Staaten, und seit den 1990er-Jahren wurden Maßnahmen ökonomischer „Kriegführung“ z. B. gegen den Irak, Serbien oder den Iran ergriffen.

Kurz gefasst zielt wirtschaftliche Kriegführung darauf ab, die Kosten eines Krieges für den Aggressor (oder allgemeiner: den Gegner) auf ein Maß zu erhöhen, welches ihn davon überzeugt, seine kriegerischen Absichten bzw. Aktivitäten aufzugeben oder einzustellen, oder ihm – etwa im Falle der transnationalen Terrorismus – die finanziellen und materiellen Ressourcen zur Fortführung seines Kampfes zu entziehen. Entsprechend ist beispielsweise darauf hingewiesen worden, dass das wichtigste Embargogut nicht dasjenige ist, das den größten militärischen Wert hat, sondern jenes, welches im isolierten Inland am teuersten zu produzieren und unverzichtbar ist. Im Unterschied zum Liberalen Frieden werden transnationaler Handel und Finanzströme unterbrochen anstatt gefördert, entweder wenn der Krieg unmittelbar bevorsteht bzw. schon begonnen hat oder die Kriegführungsfähigkeiten des Aggressors ohne massives (und im Falle asymmetrischer Konfliktformen sehr kostspieliges oder wenig erfolgversprechendes) militärisches Eingreifen ausschalten soll. Obwohl das ökonomische Kalkül theoretisch einleuchtend ist, zeigt die historisch-empirische Erfahrung, dass Blockade- und Embargomaßnahmen kaum geeignet sind, einen zum Kampf entschlossenen Gegner zu stoppen. So haben die Sanktionen des Völkerbundes gegen Italien in den 1930er-Jahren ebenso wenig zu einer Änderung des Verhaltens der betroffenen Regierungen geführt wie die US-Sanktionen gegen Kuba seit den 1950ern. Die Blockademaßnahmen der Napoleonischen Kriege und des Zweiten Weltkrieges hatten keinen entscheidenden Effekt auf den Kriegsausgang, und selbst effektivere Blockaden gegen die Südstaaten 1861–1865 und das kaiserliche Deutschland 1914–1918 ersparten es den Kriegsgegnern nicht, den ökonomisch immer stärker geschwächten Feind unter hohen Opfern militärisch niederzukämpfen.

Für die somit ausgesprochen ambivalente Bilanz wirtschaftlicher Sanktionsmaßnahmen zur Friedenswahrung oder -herstellung werden vier Ursachen angeführt: (1) Befürworter von Sanktionen unterschätzen möglicherweise die Fähigkeit eines entschlossenen Regimes, welches von den Streitkräften gestützt wird, sich trotz wirtschaftlicher Härten für die eigene Bevölkerung an der Macht zu halten und eine aggressive Außenpolitik fortzusetzen. Dies gilt insbesondere dann, wenn es den Eliten wie beispielsweise im Fall Deutschlands 1914–1918 oder des Irak 1990–2003 im Inneren propagandistisch gelingt, die Blockademaßnahmen und damit die angebliche Perfidie des Auslandes für das Leid des eigenen Volkes verantwortlich zu machen und nicht die eigene Politik. (2) Effektive Maßnahmen ökonomischer Kriegführung bedürfen einer überwältigenden Überlegenheit auf Seiten der blockierenden Mächte. Dies schließt die Fähigkeit zur völligen Isolierung des Ziellandes (einschließlich der entsprechenden Kontrolle aller Nachbarländer) sowie deutlich beschränkte Ressourcen auf dessen Seite ein. Die Herrschaft über große Territorien mit entsprechenden Ressourcen, wie etwa im Fall Deutschlands 1940–1944 oder der UdSSR 1947–1989 macht einen Staat relativ autark und gegenüber Sanktionen kaum verwundbar. (3) Ökonomische Kriegführung erfordert viel Geduld. Sanktionen und Embargos wirken erst nach relativ langer Zeit so massiv, dass sie für das Zielland so schmerzhaft werden, dass es seine Politik ändert. Dies macht die Anwendung ökonomischer Instrumente offensichtlich problematisch, wenn es um die schnelle Beendigung von bereits im Gang befindlichen Aggressionen und Kriegen geht oder Regierungen in demokratisch verfassten politischen Systeme angesichts scheinbar endloser ineffektiver Maßnahmen gegen einen „Schurkenstaat“ innenpolitisch unter Legitimationsdruck geraten. (4) Schließlich werden oft überzogene Erwartungen an ökonomische Sanktionen geknüpft. Aus historisch-empirischer Sicht können Blockaden u. ä. Konflikte verkürzen, aber nicht allein beenden. Um politisch zielführend zu sein, müssen Maßnahmen ökonomischer Kriegführung daher verhältnismäßig bescheidene Ziele haben und möglichst frühzeitig ergriffen werden, d. h. möglichst vor dem Entstehen akuter Krisen. Fasst man die bisherigen Forschungsergebnisse der IPÖ in diesem Bereich zusammen, können Sanktionen als langfristig orientiertes Präventivinstrument einen wichtigen Beitrag zur internationalen Friedenssicherung leisten, sind jedoch kaum als Mittel zum Krisenmanagement, geschweige denn zur Beendigung von Kriegen geeignet.

Angesichts der modernen transnationalen finanziellen Verflechtung von Volkswirtschaften und Gesellschaften bietet sich als Teil oder Ergänzung der Wirtschaftskriegführung die financial warfare durch einen Akteur an, der aufgrund seiner dominanten Position im Weltfinanzsystem (im Sinne struktureller Macht nach Susan Strange) durch entsprechende gesetzgeberische und verwaltungstechnische Einflussmöglichkeiten der Regierung auf das Bankwesen tatsächlich von Seiten der Exekutive die Möglichkeit hat, auch massiven Druck auf einen Gegner auszuüben (Zarate 2015). Dies trifft im historischen Kontext des 19./20. Jahrhunderts vor allem auf Großbritannien mit dem global zentralen Finanzzentrum London und im 20./21. Jahrhundert auf die USA mit dem Finanzplatz New York zu (Rotte 2017, S. 116–135). Diese dominierende Stellung lässt sich etwa dahingehend instrumentalisieren, dass gegnerische Staaten von der transnationalen Kreditvergabe sowie den technisch-adminsitrativen Strukturen zur Abwicklung von Transaktionen und damit letztlich von der Handels- und Investitionsfinanzierung abgeschnitten werden, beispielsweise durch die Drohung, dass jede Geschäfts- oder Zentralbank, die weiter Finanzbeziehungen zu dem betreffenden Land unterhält, ihren Zugang zum (üblicherweise wesentlich lukrativeren und bedeutenderen) US- bzw. UK-Finanzmarkt verliert. Beispiele für eine solche financial warfare sind die entsprechenden britischen Planungen gegen Deutschland zu Beginn des Ersten Weltkrieges (Lambert 2012; Rotte 2019, S. 287–289) oder die Finanzsanktionen der USA gegen Japan vor 1941 (Miller 2007) bzw. gegen den Iran nach 2006 (Rotte 2019, S. 290–292).

Das zunehmende Agieren der Volksrepublik China und ihrer staatlich gelenkten Unternehmen als Investor und Gläubiger, etwa im Rahmen der Belt-and-Road-Initiative, hat zu einer Diskussion um eine besondere Spielart der Nutzung internationaler Finanzbeziehungen für außenpolitische und strategische Interessen geführt. Gemäß der These von der debt trap diplomacy, deren Perzeption deutlich zwischen US-amerikanischen und indischen Wissenschaftlern und Publizisten auf der einen und afrikanischen und ost-/südostasiatischen Autoren auf der anderen Seite divergiert, ist die chinesische Außen- und Außenwirtschaftspolitik bestrebt, Partnerländer in Asien, Afrika und Lateinamerika durch umfangreiche Entwicklungskredite und die (ebenfalls kreditfinanzierte) Beteiligung an großen Infrastrukturprojekten in eine Schuldenfalle zu treiben, um dann bei Zahlungsunfähigkeit des Schuldners für die Refinanzierung der Kredite geopolitisch wichtige Zugeständnisse, etwa die Verfügungsgewalt über strategisch wichtigen Häfen zu erpressen bzw. die betroffenen Staaten langfristig abhängig von chinesischen Wohlwollen und außenpolitisch willfährig zu machen (Ishaque et al. 2018; Jain 2019; Taylor und Zajontz 2020; Hollman und Sacks 2021, S. 28 f.). Kritiker dieser Interpretation der chinesischen Politik verweisen dagegen auf die Investitionszwänge, in denen sich die chinesische Führung aufgrund der Überkapazitäten der chinesischen Wirtschaft selbst befindet (Taylor und Zajontz 2020), den geringen Beitrag chinesischer Kredite zur Überschuldung von Entwicklungs- und Schwellenländern sowie die relative Zurückhaltung Chinas gegenüber hochverschuldeten Ländern (Singh 2020), oder betrachten das Konzept als ideologisch-propagandistisch aufgeladenens „meme“ aus Internet und sozialen Medien (Brautigam 2020).

5 Fazit

Die Internationale Politische Ökonomie nimmt bis heute weitgehend eine Sonderstellung in den politikwissenschaftlich dominierten Internationalen Beziehungen ein. Dies mag einerseits an der für Sozialwissenschaftler ungewohnten – und oft genug ungeliebten – Nähe zur volkswirtschaftlichen (bzw. ökonometrischen) Theorie und Empirie liegen, andererseits an der Geringschätzung des Ökonomischen und bisweilen einseitig antikapitalistischen Orientierung der neorealistischen bzw. marxistisch geprägten kritisch-strukturellen Grundströmungen der Theorie der Internationalen Beziehungen. Gleichwohl ist die IPÖ in gewisser Weise eine Reminiszenz an die disziplinenübergreifende Tradition der „Staatswissenschaften“ und eröffnet damit eigene und bedeutende Perspektiven auf die Strukturen und Prozesse inter- und transnationaler Beziehungen. Angesichts der zweifellos gegebenen zentralen Rolle wirtschaftlicher Interessen sowie wirtschafts- und finanzpolitischer Belange für die internationale Politik und die damit verbundene Bedeutung der Frage nach dem Verhältnis von wirtschaftlichen und politischen Akteuren, von Markt und Staat für die Politik insgesamt kommt den Perspektiven, Ansätzen und Methoden der IPÖ eine wesentliche und zukunftsweisende Funktion innerhalb der Internationalen Beziehungen zu. Dies zeigen etwa die Beispiele des differenzierten Machtbegriffs Susan Stranges, des Paradigmas des Liberalen Friedens, der institutionellen Konsequenzen der ökonomischen Globalisierung mit den daraus resultierenden wirtschafts- und finanzpolitischen Krisen und der immer wichtiger werdenden Anwendung ökonomischer und finanzieller Mittel als Instrumente der nicht (nur) militärischen Austragung inter- wie intranationaler Konflikte in einer sich wandelnden globalen Ordnung.