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Der rostende Rumpf der »Karl Marx«

Das Projekt »Echos der Bruderländer« thematisiert die Auslandsbeziehungen und Lebensrealitäten von Migrant*innen in der DDR

Von Vincent Bababoutilabo

Wandgemälde zwischen zwei Säulen. Abstrakte, dynamische Figuren tanzen umeinander. In der Mitte ist die Aufschrift "Unidad", Einheit.
»Solidarität«, das Wandgemälde von César Olhagaray von 1986, gab es schon lange nicht mehr. Der Künstler hat es für das Projekt rekonstruiert. Foto: Hannes Wiedemann/HKW

Das Ausstellungs- und Rechercheprojekt »Echos der Bruderländer« im Berliner Haus der Kulturen der Welt (HKW) widmet sich den Verflechtungen und Migrationsbewegungen zwischen der DDR und anderen sozialistischen Staaten, den sogenannten Bruderländern. Zwischen 1949 und 1990 migrierten hunderttausende Menschen aus dem globalen Süden in die DDR. Sie kamen als Exilanten, Studierende, Schüler*innen, Kulturschaffende, politische Flüchtlinge, Auszubildende oder Arbeiter*innen. In dem Projekt gehe es, so der Leiter des HKW Bonaventure Soh Bejeng Ndikung, um ein Erkunden der Tiefe von Beziehungen sowie ein Eintauchen in die Ritzen verlorener Narrative. In dem von ihm verfassten Katalogtext wiederholt er mantraartig den Untertitel der Ausstellung: »Was ist der Preis der Erinnerung und wie hoch sind die Kosten der Amnesie? Oder: Visionen und Illusionen antiimperialistischer Solidarität«. Mit diesem abstrakten Jargon bekannte Leser*innen vermuten es vermutlich bereits: Das multidisziplinäre Projekt hat eine stark ausgeprägte künstlerische Ausrichtung. Dies ist sowohl seine Stärke als auch seine Schwäche.

Das Projekt begann bereits im Jahre 2023 als Teil der Neuausrichtung des HKW. Ziel sei es, so Initiator*innen des Projekts, »Räume der Reflexion, des Gesprächs und der Erinnerung mit den Communities aufzubauen, die die heutige deutsche Gesellschaft ausmachen«, diesmal mit einem Fokus auf Ostdeutschland. Die Ergebnisse des künstlerischen Forschungsprojekts sind bereits vor dem Betreten des HKW-Gebäudes, das geformt ist wie eine riesige Auster, erkennbar. Fahnenmasten, die leicht im Wind knarren, lenken den Blick nach oben zu den mit Schwarz-Weiß-Bildern bedruckten Fahnen auf der linken Seite. Die Fahnen zeigen Schwarze Frauen, deren Gesichter teilweise durch verschiedene Blätter, Pflanzen und Früchte verdeckt sind. Nähert man sich dem Gebäude, bemerkt man weitere Fahnen und Wandgemälde. Diese zeigen unter anderem Menschen, die gemeinsam demonstrieren und musizieren. Es wird sofort deutlich, dass es um Menschen als politische Subjekte und als Gemeinschaft geht.

Spätestens beim Betreten des HKW-Gebäudes wird klar, dass diese Ausstellung eine intensive Auseinandersetzung erfordert. Besucher*innen finden eine beeindruckende Fülle an Kunstwerken, Fotos, Kurzfilmen, Texten und Archivmaterialien vor. Zum Projekt gehört zudem ein umfangreiches Rahmenprogramm mit Führungen, Workshops, Lesungen, Performances, einem Podcast sowie einigen Publikationen (Ein Blick in den begleitenden, leider kostenpflichtigen Reader zur Ausstellung lohnt sich besonders).

Die Ausstellung selbst hinterlässt die Besucher*innen jedoch zunächst etwas orientierungslos. Im Foyer werden sie von großartigen Archivmaterialien empfangen, wie beispielsweise einem Bild von vietnamesischen Arbeiter*innen mit einem Transparent auf dem »Nie wieder Deutschland« steht. Allerdings fehlt eine Kontextualisierung, da die Ausstellung weitgehend auf Beschriftungen verzichtet und viele der gesammelten Interviews und Texte nicht übersetzt sind. Stattdessen gibt es lediglich Kürzel, die in einem zusätzlich zur Ausstellung erhältlichen, etwas unübersichtlich gestalteten Handbuch entschlüsselt werden. Die Bilder schweben daher zunächst im Raum und sind der individuellen Interpretation der Betrachter*innen überlassen. Wer die Ausstellung verstehen möchte oder – wie Gunnar Decker in seiner wütenden Rezension im Neuen Deutschland bemerkt – aufgeklärt werden will, könnte vorerst enttäuscht werden.

Es sei deshalb den Besuchenden unbedingt geraten, sich eben auf diese Orientierungslosigkeit einzulassen, das Handbuch zunächst zu ignorieren und die Ausstellung, ihre beeindruckende Ästhetik und die kraftvollen Kunstwerke während eines ersten Rundgangs einfach wirken zu lassen.

Die innere, marxistische Stimme, verlangt nach einer kritischen Auseinandersetzung mit Begriffen der DDR-Politik.

Der aufgrund der anfänglichen Orientierungslosigkeit gewählte, kontemplativ-sinnliche Zugang hat selbstverständlich jedoch Grenzen. Zumindest als linker Mensch verlangt die innere, marxistische Stimme nach einer kritischen Auseinandersetzung mit grundlegenden Begriffen der DDR-Politik: Volk, Nation, nationale Befreiung und Solidarität. Der Vorwurf, den Peter Richters in der Süddeutschen Zeitung formuliert, dass das HKW sich strikt »antiintellektuell« gebe und sich in der »warmen Brühe der Begriffe« bade, anstatt Begriffe wie »Solidarität« nüchtern zu analysieren, mag in seiner Schärfe übertrieben sein, ist jedoch nachvollziehbar.

Die kritische Auseinandersetzung, mit Begriffen und DDR-Geschichte in der künstlerischen Sphäre zu belassen, erweist sich tatsächlich als zweischneidiges Schwert. Besuche der Ausstellung als Einzelperson, losgelöst vom Rahmenprogramm, Führungen und den Publikationen, wie es viele Kritiker getan zu haben scheinen, lohnen sich weniger. Ohne Vorwissen bleiben tiefere Bedeutungsebenen verborgen. Eine schwangere Schwarze Frau erscheint dann einfach als schwangere Schwarze Frau, ein Springbrunnen als Springbrunnen. Es besteht die Gefahr, dass die Kunstwerke nur den Rezipient*innen zugänglich bleiben, die über das notwendige Wissen und die Kompetenz zu ihrer Interpretation und Bewertung verfügen.

Lohnt sich der Besuch also nur für Personen, die DDR-Geschichte sowie Spielregeln und Wertlogiken der Kunstwelt kennen? Nicht unbedingt, denn die Werke sind eingebettet in einen lebendigen Raum. Die Ausstellung eröffnet gerade durch den ambivalenten Charakter vieler Kunstwerke großartige Diskussionsräume. Der Ort der Bedeutung, der kritischen Begriffsanalyse sind nicht die Kunstwerke, sondern die gemeinschaftliche Auseinandersetzung mit ihnen.

Das Foto-Triptychon des Künstlers Kiluanji Kia Henda beispielsweise, welches in der Mrinalini Mukherjee Halle zu sehen ist, zeigt den rostenden Rumpf der »Karl Marx«. Ein Schiff, das einst Teil einer fortschrittlichen sowjetisch-angolanischen Fischfang-Initiative war und heute verlassen an einem Strand in der Nähe von Luanda liegt. Vor den Bildern liegt eine kreisförmige Installation aus Teilen des zerfallenden Schiffes, welche die Materialität des zu sehenden unmittelbar in den Raum trägt. Um sie herum versammelt entstanden Gespräche über die Freundschaftsbrigaden der DDR. Meist Junge DDR-Bürger*innen wurden in das frisch unabhängige Angola gesendet, um soziale Angebote zu schaffen, Trainings anzubieten oder direkt lokale Ökonomien mit ihrer Arbeitskraft zu unterstützen. Sie verkörperten die Widersprüchlichkeit der DDR-Solidarität. So sahen sich die Brigadist*innen als »Agenten der Modernisierung« und bestätigten die hierarchischen Beziehungen zwischen den ostdeutschen Wohltätern und ihren vermeintlich abhängigen Begünstigten.

Viele der versammelten Kunstwerke erscheinen selbst als Verkörperung eines künstlerisch-politischen Produktions- und Diskussionsprozesses. So besprechen Schüler*innen der Sophie-Brahe-Gemeinschaftsschule in Berlin mit einem kollektiv gefertigten Wandbild das eigene Ankommen und »Fremdsein« vor dem Hintergrund geführter Zeitzeug*innengespräche mit Ibrahimo Alberto und Alina Simmelbauer.

Es ist das Zusammenspiel von Kunstwerken und Kontext, das die Ausstellung ausmacht. Dadurch werden Nuancen der DDR-Geschichte besprochen, die die Möglichkeiten jeder Beschriftung und jedes Handbuchs übertreffen.

Hier verstummt selbst die erwähnte innere, marxistische Stimme und Besucher*innen werden aufgefordert, aus eingefahrenen Denkmustern auszubrechen, Fragen zu stellen, in den Dialog zu treten und über vertraute Bezüge hinauszugehen. Etwas unterbelichtet bleibt hierbei trotz allem die Tatsache, dass viele der Akteur*innen nicht nur gegen Rassismus und Kolonialismus kämpften und teils immer noch kämpfen, sondern auch für eine andere, sozialistische Welt.

Vincent Bababoutilabo

ist ein in Berlin lebender Musiker, Autor und Aktivist an der Schnittstelle zwischen Kunst und Politik.

Die Ausstellung »Echos der Bruderländer« im Haus der Kulturen der Welt in Berlin ist noch bis zum 20. Mai in zu sehen.