Wirtschaftswissenschaftler kritisieren Lindners einseitigen Ansatz. zum Inhalt
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Dullien und Hüther sind gut gelaunt, aber pessimistisch, was die Fähigkeit Deutschlands angeht, in die Zukunft zu investieren.

Wirtschaftswissenschaftler kritisieren Lindners engen Ansatz.

Die öffentlichen Infrastrukturen in Deutschland sind stark investitionsbedürftig. Zwei führende Wirtschaftsforschungsinstitute schätzen den Bedarf auf mehrere hundert Milliarden Euro. Ihre Direktoren plädieren für kreditfinanzierte Investitionen - im Gegensatz zur aktuellen Haltung des Bundesfinanzministers.

Die Bundesrepublik Deutschland hat einen hohen Investitionsbedarf: Das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) und das Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) schätzen den Investitionsbedarf für das nächste Jahrzehnt auf 600 Milliarden Euro. Diese Summe entspreche 1,4 Prozent des jährlichen Bruttoinlandsprodukts (BIP) in Deutschland, was keine allzu astronomische Zahl sei, so IW-Direktor Michael Hüther und IMK-Direktor Sebastian Dullien bei der Vorstellung ihrer gemeinsamen Studie in Berlin.

"Um eine Kreditfinanzierung in dieser Größenordnung zu ermöglichen, ist jedoch eine Reform der Schuldenbremse unabdingbar", so Dullien. "Wir sind beide der Meinung, dass es an der Zeit ist, die ideologischen Barrieren zu beseitigen und nicht nur die Notwendigkeit dieser öffentlichen Investition anzuerkennen, sondern auch ernsthaft über ihre Umsetzung und Finanzierung zu sprechen." Hüther weist darauf hin, dass ihre Investitionsschätzungen konservativ sind.

Stolperstein für Lindner

Hüther und Dullien schlagen entweder einen Deutschlandfonds nach dem Vorbild der Bundeswehr oder die Einführung einer goldenen Schuldenregel vor. Letzteres setzt eine Reform der bestehenden Schuldenbremse voraus, die Investitionen ermöglicht. Für eine solche Reform wäre eine Zweidrittelmehrheit im Parlament erforderlich, ebenso wie für die Einrichtung eines neuen Sondervermögens. SPD und Grüne setzen sich seit langem für eine Reform der Schuldenbremse ein, die FDP ist strikt dagegen. Die CDU/CSU wird der Ampelkoalition vermutlich nicht helfen, diskutiert aber über mögliche Änderungen nach der Bundestagswahl. Die Schuldenbremse sieht vor, dass Bund und Länder ihre Haushalte ohne Neuverschuldung und wenn nötig nur in geringem Umfang aufstellen müssen.

Die Intervention von Hüther und Dullien ist bemerkenswert. Beide sind sehr einflussreiche Wirtschaftswissenschaftler in Deutschland, und während die von Dullien geführte IMK den Gewerkschaften nahesteht, gilt das von Hüther geführte IW als wirtschaftsfreundlich. Hüther befürwortet jedoch seit geraumer Zeit eine höhere Verschuldung des Staates, sofern die Mittel für echte Investitionen verwendet werden. Damit steht er im krassen Gegensatz zum FDP-Vorsitzenden und Finanzminister Christian Lindner und seinem Hauswirtschafter Lars Feld.

Der ermittelte Investitionsbedarf bezieht sich ausschließlich auf die öffentliche Infrastruktur und schließt andere Bedarfe, wie z.B. für den Erhalt bestimmter Industrien in Deutschland oder die zusätzliche Finanzierung der Bundeswehr, aus. Allein die Städte und Gemeinden haben einen kollektiven Investitionsbedarf von 177 Milliarden Euro, zuzüglich 13 Milliarden Euro für die Anpassung an die Folgen des Klimawandels.

Ein Drittel des gesamten Investitionsbedarfs, rund 200 Milliarden Euro, ist für klimaschutzbezogene öffentliche Investitionen vorgesehen. Dazu gehören die energetische Gebäudesanierung als größte Einzelinvestitionskategorie sowie der Ausbau und Erhalt der Netze für die Strom-, Wasserstoff- und Wärmeversorgung.

Die Investitionen in Verkehrswege und den öffentlichen Personennahverkehr belaufen sich auf 127 Milliarden Euro. Davon entfallen 60 Mrd. Euro auf die Modernisierung und den Ausbau des Schienennetzes, 28 Mrd. Euro auf den Ausbau des öffentlichen Personennahverkehrs und 39 Mrd. Euro auf den Erhalt von Fernstraßen einschließlich Brücken.

Laut Hüther und Dullien werden 42 Milliarden Euro für den Ausbau von Ganztagsschulen, 35 Milliarden Euro für die Sanierung von Hochschulen und 37 Milliarden Euro für den sozialen Wohnungsbau benötigt.

Aufgestockte Budgets rechtfertigen: Ein Hirngespinst?

Die beiden Ökonomen halten es für "unrealistisch", dass diese Anforderungen allein durch Haushaltssanierung und Sparmaßnahmen erfüllt werden können. Sie zeigen sich besorgt über die sozialen Auswirkungen der verschärften Verteilungskämpfe. Die Regierungskoalition steht vor der Herausforderung, einen Haushalt für das kommende Jahr aufzustellen, in dem 25 Milliarden Euro fehlen, die aus der strikten Einhaltung der Schuldenbremse und ausufernden Ausgaben vor allem bei der Bundeswehr resultieren.

Es gelte, Freiräume für Investitionen zu schaffen, argumentierte Dullien. "Infrastruktur ist nicht nur ein Fundament für die Wirtschaft, sondern auch ein soziales. Sie stärkt die Demokratie und sorgt dafür, dass Deutschland auch in Zukunft ein attraktiver Standort bleibt." Hüther entkräftet auch Lindners Behauptung, die Ampelkoalition investiere bereits im Rahmen der Schuldenbremse. "Es sind zwar beträchtliche Summen im Haushalt veranschlagt, aber diese Zahlen stellen keine nennenswerten Investitionen dar oder wir wissen/erwarten bereits, dass die Mittel nicht abgerufen werden." Kurzum: Die Ampelkoalition bedient sich buchhalterischer Tricks und erweckt den Eindruck, dass mehr investiert wird, als es tatsächlich der Fall ist.

Hüther glaubt nicht, dass mehr Ausgaben ohne Kreditaufnahme durch mehr Wirtschaftswachstum finanziert werden können. Die FDP-Vorschläge zur Entlastung von Arbeitnehmern und Unternehmen, um die Konjunktur anzukurbeln, stellen kurzfristig ein großes Risiko für die Haushalte von Bund und Ländern dar.

Hüther und Dullien widersprechen Lindners Behauptung, die Schuldenbremse sei der Grund für die niedrige und sinkende Schuldenquote in Deutschland. Sie haben die Auswirkungen der 600 Milliarden Euro auf das BIP bei einem aktuellen Zinssatz von 2,5 % für zehnjährige Staatsanleihen geschätzt. Dabei stellten sie fest, dass der Wachstumseffekt auf das BIP groß genug ist, um die Schuldenquote über einen Zeitraum von 15 Jahren sogar bei jährlichen Zinskosten von 15 Milliarden Euro zu senken.

In Bezug auf den vorgeschlagenen Bundesfonds schlagen Hüther und Dullien mögliche Lösungen vor, entweder durch Änderung der Investitionsregeln in der Schuldengrenze oder durch Einrichtung eines solchen Fonds. Hüther schlägt vor, die Ausgaben durch eine Bund-Länder-Kommission überwachen zu lassen. Allerdings räumt er ein, dass die Ampelpartei das Konzept des Sonderfonds beschädigt hat, indem sie einen wesentlichen Teil der 100 Milliarden Euro nicht investiert hat.

Keine unmittelbaren Lösungen in Sicht

Hüther kritisiert FDP und CDU/CSU, ohne sie explizit zu benennen, dass sie trotz offensichtlicher Notwendigkeit nicht über mögliche Lösungen diskutieren wollen. "Diese Verweigerung ist nicht akzeptabel", sagte er. Er stellte auch Lindners Bedenken in Frage, dass eine Lockerung der Schuldengrenze zu unnötigen Ausgaben führen würde. "Allen Akteuren im Parlament zu misstrauen, ist kein guter Präzedenzfall", so Hüther. "Wir können nicht sagen, dass wir künftige Aufgaben ausschließen, weil wir nicht in der Lage sind, die Mittel zu verwalten." Wenn diese Mentalität anhalte, gebe es keine Grundlage für ein finanzpolitisches Konzept.

Weder Hüther noch Dullien rechnen mit einer schnellen Reaktion auf ihren Vorschlag. Sie glauben nicht, dass es in der laufenden Legislaturperiode zu einer Einigung kommen wird. Als Reaktion auf die Studie lehnte Bundeskanzler Olaf Scholtz Lindners Plan für Ausnahmen von der Schuldenbremse ab. "Wir sollten es uns nicht zu leicht machen. Jetzt ist es an der Zeit, hart zu arbeiten." Hüther und Dullien sind der Meinung, dass eine Entscheidung frühestens nach der Bundestagswahl fallen sollte. Hüther fügte hinzu: "Wir müssen jetzt handeln und können nicht fünf Jahre lang verhandeln."

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Quelle: www.ntv.de

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