Leben und Überleben | Jüdische Allgemeine

Jom Haschoa

Leben und Überleben

Einen Garten Eden inmitten der Hölle» habe seine Mutter aufgebaut, sagte Raphael Sommer Jahre nach der Befreiung. Dieser Mutter, der als «Pianistin von Theresienstadt» bekannt gewordenen Alice Herz-Sommer, widmete die Israelitische Kultusgemeinde München und Oberbayern (IKG) ihre diesjährige Gedenkstunde zum Jom Haschoa, passenderweise in Form eines Konzerts. Gemeinsam mit IKG-Präsidentin Charlotte Knobloch war auch Herzog Franz von Bayern als zweiter Schirmherr des Abends anwesend.

Herz-Sommer, 1903 in Prag als Alice Herz in eine assimilierte jüdische Familie geboren, fiel früh durch ihr herausragendes musikalisches Talent auf. Bereits als Jugendliche studierte sie an der Deutschen Musikakademie in Prag und bestritt bald ihren Lebensunterhalt als Konzertpianistin. Nach dem deutschen Einmarsch im März 1939 erhielt sie Auftrittsverbot, 1942 wurde ihre 72-jährige Mutter deportiert. Als Mittel gegen die einsetzenden Depressionen beschloss Herz-Sommer, Frédéric Chopins 24 Etüden vollständig einzustudieren – die größte Herausforderung für einen Pianisten überhaupt.

Gemeinsam mit dem 1937 geborenen Raphael erlebte sie 1945 die Befreiung

Diese Etüden, die sie nach einem Jahr beherrschte, und viele weitere Stücke spielte Herz-Sommer nach der Deportation in Theresienstadt unzählige Male. Gemeinsam mit dem 1937 geborenen Raphael erlebte sie schließlich 1945 die Befreiung, Letzterer als eines von nur 130 Kindern. Ihr Mann Leopold Sommer wurde dagegen in weitere Lager verschleppt und starb wenige Wochen vor der Befreiung in Dachau an Flecktyphus.

Vor seinem Abtransport hatte er ihr das Versprechen abgenommen, sich niemals freiwillig zu melden; auf diese Weise entging Herz-Sommer mitsamt ihrem Sohn einem nur scheinbar zur Familienzusammenführung gedachten Transport, den etliche Frauen in Theresienstadt aus freien Stücken bestiegen und so in den Tod fuhren. Daneben verdankte Alice Herz-Sommer ihr Überleben aber vor allem der Kraft der Musik – ihrer «eigentlichen Nahrung», wie ihr Enkel Ariel Sommer in einem von Ellen Presser verlesenen Grußwort bemerkte.

Derselben Musik gehörte auch im Hubert-Burda-Saal die Bühne, einmal in einem berührenden Dokumentarfilm von Inga Wolfram, noch mehr aber im virtuosen Spiel von Daniel Seng, der am Konzertflügel die emotionale Intensität von Chopins unsterblichen Meisterwerken spürbar werden ließ. Zuvor hatte der Biologe und Musikliebhaber Reinhard Piechocki in einem sehr persönlichen Bericht an Herz-Sommer erinnert. Als er im Jahr 2003 nach einem Vortrag erfuhr, dass Alice Herz-Sommer noch lebte, war er sofort zu einem Besuch der damals 99-Jährigen nach London aufgebrochen.

Über zehn Jahre lang, bis zu Herz-Sommers Tod 2014 im biblischen Alter von 110 Jahren, entwickelte sich in der Folge eine enge Freundschaft, aus der auch Pie­chockis gemeinsam mit Melissa Müller verfasstes Buch Ein Jahrhundertleben hervorging. Für dieses besondere Werk dankte Ariel Sommer, Sohn von Raphael und Enkel von Alice Herz-Sommer, in seinem Grußwort.

Den bei der Deportation siebenjährigen Raphael hatte sie von den größten Schrecken abgeschirmt.

Den bei der Deportation siebenjährigen Raphael habe seine Mutter erfolgreich von den größten Schrecken von Theresienstadt abgeschirmt. Er habe die Zeit unter dem «Schutzmantel der Obhut meiner Mutter» verbracht, zitierte Ariel Sommer seinen 2001 verstorbenen Vater: «Kein einziges Mal ließ sie mich merken, welche Erniedrigungen und Verletzungen sie erdulden musste. Mit innerer Stärke und unerschöpflichen Reserven an Liebe konzentrierte sie sich darauf, mir, ihrem geliebten Sohn, ein fröhliches und ›normales‹ Umfeld zu schaffen, das mit der Realität, in der wir lebten, wenig zu tun hatte.»

Charlotte Knobloch betonte in ihrer Ansprache, dass im Gedenken an den Holocaust stärker als bislang auch die Überlebenden mitgedacht werden müssten. Knobloch erinnerte in diesem Zusammenhang an den Anfang Mai mit 96 Jahren verstorbenen Natan Grossmann, der wenige Stunden vor Beginn des Jom Haschoa beigesetzt worden war. In einer Welt ohne Menschen wie Grossmann und Herz-Sommer sei aus dem «einst vielstimmigen Chor der Überlebenden» heute «längst ein leises Flüstern geworden», so die IKG-Präsidentin.

«Das Versprechen, dass weiter zu hören sein muss, was sie gesagt haben – und womöglich noch sagen»

Der jüdische Holocaust-Gedenktag stehe deshalb für «das Versprechen, dass dennoch weiter zu hören sein muss, was sie gesagt haben – und womöglich noch sagen». Der Hass und die Blindheit, die einst zum Holocaust geführt hätten, seien heute nicht überwunden, wie Knob­loch unter Verweis auf die weiterhin in Gaza festgehaltenen israelischen Geiseln und den global anwachsenden Judenhass unterstrich.

Den würdevollen und sehr emotionalen Abend im voll besetzten Hubert-Burda-Saal beschloss Gemeinderabbiner Shmuel Aharon Brodman mit dem ergreifend vorgetragenen El Male Rachamim. Dann bat der Rabbiner das Publikum durch den Gang der Erinnerung in die Synagoge «Ohel Jakob». Dort intonierte der Synagogenchor «Schma Kaulenu» unter Leitung von David Rees das zur Hymne von Trauer und Gottvertrauen gewordene, bereits 1945 vertonte Gedicht «Eli Eli», das von der 1944 hingerichteten Widerstandskämpferin Hannah Senesh stammt.

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