Aus vielen Teilen ein großartiges Ganzes geformt: "Der zerbrochne Krug" im Volkstheater ist einfach klasse | Abendzeitung München
Kritik

Aus vielen Teilen ein großartiges Ganzes geformt: "Der zerbrochne Krug" im Volkstheater ist einfach klasse

So famos ist die True-Crime-Show "Der zerbrochne Krug" aus dem Jahr 1808 im Volkstheater in München.
| Michael Stadler
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Anne Stein spielt die traumatisierte Eve.
Anne Stein spielt die traumatisierte Eve. © Arno Declair

München -  Ein Krug geht kaputt, und damit zerbricht gleichzeitig eine heil geglaubte Welt. So könnte man den Kern von Kleists Lustspiel "Der zerbrochne Krug" zusammenfassen. Nicht nur ein Objekt zersplittert hier, sondern auch der Glaube an eine moralisch intakte Gesellschaft, an eine verlässliche Gerichtsbarkeit.

Klar, das 1808 in Weimar uraufgeführte Stück hat einiges an Patina angesetzt, Kleists Sprache klingt auf der Bühne des Volkstheaters heiter altertümlich. Allein schon visuell schlägt Mathias Spaan in seiner Inszenierung einen Bogen ins Heute. Denn was zunächst im Dunkeln liegt, ist ein Aufnahmestudio, in dem die Protagonisten immer wieder im Stile einer True-Crime-Show vor einer Kamera aussagen werden, ihre Gesichter kinogewaltig auf einem vor die Bühne herabfahrbaren Gaze-Vorhang projiziert.

"Der zerbrochne Krug" im Volkstheater in München: Mit der Drehbühne in den Gerichtssaal

Das von Anna Armann raffiniert eingerichtete Bühnenbild besteht aus drei Teilen, die per Drehbühne jeweils in den Vordergrund geraten können, wobei noch ein vierter Raum sich in diesem Konstrukt verbirgt.

Da ist zum einen das Aufnahmestudio, zum anderen ein modern-nüchtern eingerichteter Gerichtsaal sowie die historisch anmutende Wohnstube des Richters Adam - plus die Außenfassade des Hauses der Familie Rull, in dem eines Nachts ein Tumult losbricht, inklusive Demolierung des Krugs.

Der wilde Genre-Mix von Regisseur Mathias Spaan passt dennoch zu Kleist 

Die Spielenden bewegen sich fließend durch diese Szenarien, wechseln dabei meist ihre Kostüme, sind historisch gekleidet in der Stube des Richters, zeitgemäß-daunenjackig im Aufnahmestudio (Kostüme: Paula de la Haye) und allein schon, dass diese Übergänge nahtlos gelingen, ist ein Kunststück der Regie. Mathias Spaan sprengt den Klassiker zeitlich und räumlich in verschiedene Teile auf, pendelt zwischen Komödie, Krimi und Drama, und ja, dieser wilde Genre-Mix lässt sich durchaus bei Kleist finden.

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Die Regie folgt der Vorlage respektvoll, reichert sie gleichzeitig um einige originelle Ideen an. So führt die versuchte Rekonstruktion der Tatnacht zu einem irrwitzigen Eintauchen in ein Multiversum der möglichen Vergangenheiten. Verschiedene Konstellationen werden ausprobiert, ein aufs andere Mal springen da verschiedene Männer oben aus einem Fenster in der Hausfassade und landen auf einer Matte. Wer von ihnen besuchte des Nachts Marthe Rulls Tochter Eve und musste abrupt fliehen?

Ein #MeToo-Prozess vor über zweihundert Jahren

Dass es Richter Adam war, weiß man auch als Kleist-Novize im Volkstheater sehr bald. Mit teuflischem Klumpfuß und Kratzern im Gesicht versucht Adam vor seinem Schreiber Licht die Fassade zu wahren, und es ist bereits da schon eine Freude, ihm bei seinen spontanen Ausflüchten zuzuschauen. Pascal Fligg holt das Publikum mit seiner körperlichen und sprachlichen Präzision, seiner Lust an eingestreuten Spieldetails auf seine Seite, wobei er den verlogenen Richter bei aller Komödiantik ernst nimmt.

Und diese Geschichte ist ja auch ernst, denn sie dreht sich letztlich um einen Fall sexuellen Missbrauchs, der gegen Ende von Gerichtsrat Walter sprachlich deutlich mit heutigen #MeToo-Zeiten in Verbindung gebracht wird. Den Gerichtsrat gibt Jan Meeno Jürgens gekonnt als perfekt geölten Anzugträger.

Der weltgewandte Profi verfolgt sichtbar belustigt das Gerichtsgebaren auf dem Land, bis er explodiert, weil er irgendwann ahnt, was der Richter für ein Versteckspiel treibt. Ein ähnlich wissender Beobachter ist Schreiber Licht, von Steffen Link als herrlich überkorrekter, verklemmt-aggressiver Bürokrat gespielt.

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"Der zerbrochne Krug"-Regisseur Mathias Spaan war selbst Schauspieler 

Dass Mathias Spaan selbst als Schauspieler gearbeitet hat, merkt man seiner Inszenierung an. Jede Figur ist klar konturiert, fast jeder im Team hat seinen solistischen Moment. Als Eves Mutter Marthe darf Luise Deborah Daberkow mit furioser Energie die Geschichte des Krugs referieren. Ruth Bohsung zeigt ihre Wandelbarkeit in zwei Rollen, als brave Magd und wildhaarige, final entscheidende Zeugin.

Und dann ist da noch Eve. Die erneut souverän spielende Anne Stein ist eine traumatisierte, ruhige Beobachterin, wechselt die grüne Sportjacke nicht für ein historisches Kostüm. Eve ist ein Fremdkörper. Erst als ihrem Geliebten Ruprecht (Max Poerting) das Gefängnis droht, bricht sie ihr Schweigen.

Zuletzt dreht sich nicht mehr das Bühnenkarussell der toxischen Männerwelt, sondern eine Töpferscheibe. Das Publikum soll die übelsten Lücken selbst füllen, die Gedanken sollen über das Ende hinaus rotieren. Vor allem staunt man aber, wie virtuos Mathias Spaan aus vielen Teilen ein großartiges Ganzes geformt hat.


Nächste Vorstellungen im Volkstheater am 21. Mai; 2., 9., 10., 17. und 29. Juni, 19.30 Uhr
Karten: Telefon 523 46 55

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