Wann ist ein Mensch eigentlich gesund? Wir alle spüren, wenn wir krank werden, und leiden mit, wenn andere Menschen erkranken. Aber eine positive Gesundheitsdefinition zu finden, ist gar nicht so einfach. In der alten Welt des industriellen Zeitalters, in den 1960er- und 1970er-Jahren, bestand Gesundheit für die meisten schlicht in der Abwesenheit von Krankheit. Wer krank wurde, suchte eine Ärztin oder einen Arzt auf, bekam in der Regel über Rezept ein Medikament verordnet und beendete die Einnahme des Medikaments, wenn er sich nicht mehr krank fühlte.

FormalPara Wie der Zukunftsmarkt der digitalen Therapien funktioniert

Heute bedeutet Gesundheit für viele von uns viel mehr: Selbstbestimmung im Umgang mit der eigenen Befindlichkeit, Wohlfühlen als ganzheitliches Konzept. Und durch den Megatrend Gesundheit, das wird immer deutlicher, ändern sich auch die Anforderungen für die beteiligten Akteure, Ärzt*innen, Krankenkassen, die medizinische Forschung und die „Kunden-Patient*innen“, denn Gesundheit wird auch immer mehr zum Konsumgegenstand.

Die Weltgesundheitsorganisation WHO hat eine durchaus hilfreiche Definition für Gesundheit vorgelegt: Rund 20 % unserer Gesundheit verdanken wir den Ärzt*innen, Pfleger*innen, den Forschungslaboren und Medikamenten. 20 bis 30 % unserer Gesunderhaltung geht dagegen auf unser eigenes Verhalten zurück: Bewege ich mich genug, was und wie esse ich, habe ich endlich aufgehört zu rauchen, und so weiter. Den ganzen Rest – also 50 % unserer Gesunderhaltung – führen die WHO-Expert*innen auf Umwelteinflüsse, erbliche Prägungen und psychologische Faktoren zurück [1].

Mit anderen Worten, bislang konzentriert sich die Gesundheitswirtschaft, die pro Jahr allein in Deutschland Umsätze/Kosten von 439,6 Mrd. € (Stand: 2022) erzeugt, fast ausschließlich auf die ersten 20 %. Dabei sind die Aussichten, auf Verhaltensänderungen hinzuwirken und auf andere Einflüsse zu achten und dadurch Gesundheit sicherzustellen, deutlich höher.

Seit 20 Jahren ist nachweisbar, dass DTx die Medizin der Zukunft werden könnte. Bereits im Jahr 2002 konnte in einer wissenschaftlichen Studie gezeigt werden, dass eine chronische Erkrankung wie Diabetes tendenziell besser mit verhaltenstherapeutischen Ansätzen (nichts anderes liefern viele digitale Therapien) behandelt werden kann als durch Medikamente. Nichtsdestotrotz fließen laut WHO 80 % der gesamten Aufwendungen für Gesundheit in die Behandlung von Erkrankungen, die genauso gut oder besser durch gezielte Verhaltensänderungen behandelt werden könnten. Deswegen wird in der Gesundheitsbranche in letzter Zeit immer häufiger über digitale Therapien gesprochen. Sie könnten auf bahnbrechende Weise dabei behilflich sein, die horrenden Gesundheitskosten weltweit zu reduzieren.

FormalPara Start-up-Boom in der Gesundheit mit Verdoppelung der Investitionen

Die Investitionen in digitale Gesundheits-Start-ups haben sich laut CB Insights zwischen 2020 und 2021 fast verdoppelt und erreichten im vergangenen Jahr 57 Mrd. US-Dollar [2]. Auf dem erwachenden Markt der digitalen Therapien tummeln sich gerade Big Tech, Big Pharma und unzählige Start-ups. Ein gigantischer, von der Digitalisierung angetriebener Markt entsteht.

Digitale Gesundheit heißt vor allem: Der Patient rückt in den Mittelpunkt. Digitale Gesundheit nimmt Fahrt auf. Gen-Sequenzierung und künstliche Intelligenz eröffnen neue Therapiewege, Wearables machen ein individuelles Gesundheitsmonitoring in Realzeit zur Selbstverständlichkeit, durch Tests von zu Hause aus wird die Selbstdiagnostik zum Kinderspiel und – spätestens seit der Pandemie – verbindet die Telemedizin die Patient*innen direkt mit den Fachärzt*innen. Die Unternehmensberatung Deloitte schätzt, dass im Jahr 2024 insgesamt 440 Mio. Wearables zu Gesundheitszwecken an die Frau und an den Mann gebracht werden [3]. Verhaltensauffälligkeiten, psychisch-neurologische Erkrankungen wie Demenz, gefolgt von Diabetes, Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems sowie- Nerven und Muskel-Skelett-Erkrankungen, das sind die Krankheitsbilder, die künftig immer besser mithilfe von digitalen Therapien behandelt werden können.

Wir sind mittendrin. Die digitale Disruption der Gesundheit hat bereits begonnen.

Weltweit gehen die Gesundheitskosten durch die Decke. Wie sieht der Status quo der Gesundheitsversorgung aus? Nahezu alle Gesundheitssysteme, vor allem diejenigen in den großen Industrieländern, zeichnen sich durch ein Höchstmaß an Ineffizienz aus. In den USA verschlingen die Gesundheitskosten jährlich 17 % des Bruttoinlandsprodukts: 4,1 Billionen US-Dollar! [4] Vor der Pandemie beliefen sich die Gesundheitsausgaben im OECD-Schnitt auf mehr als 4000 US-Dollar pro Kopf und in den USA sogar auf knapp 11.000 US-Dollar [5]. Gesundheit wird immer teurer und die verabreichte Medizin hilft keineswegs immer.

2017 begann der Boom der digitalen Gesundheit. Seit Mitte der 2010er-Jahre befindet sich der Gesundheitssektor, der sich in fast allen Volkswirtschaften auf stark regulierte Märkte stützt, dank der Verbreitung und Umsetzung neuer Technologien in einem beschleunigten Wandel. Eine zunehmend wichtige strategische Rolle spielen dabei die Digitalen Therapien (DTx). Sie werden in der Regel auf zwei Arten eingesetzt: als Alternative oder in Kombination mit einem Medikament. Obwohl medizinische Apps ein pharmakologisches Medikament bislang nur selten vollständig ersetzen können, schreitet die Digitalisierung des Therapieangebots zügig voran. Die ersten behördlichen Genehmigungen wurden 2017 und 2018 in den USA für ReSET und Bluestar erteilt, zwei App-gesteuerte Programme zur Behandlung von Süchten und zur Alltagsbegleitung von Diabetes.

FormalPara Chronische Krankheiten werden „unbezahlbar“ – DTx liefern Alternativen

Derzeit konzentrieren sich die meisten DTx-Anwendungen auf Therapiegebiete, die in Zusammenhang mit chronischen Erkrankungen oder neurologischen Defekten stehen. Diese gehören zu den teuersten und am schwierigsten zu behandelnden Krankheiten, da sie eine kontinuierliche Versorgung und Überwachung erfordern, was für die finanziell überlasteten Gesundheitssysteme kaum noch tragbar ist. Die eigentliche Revolution vieler digitaler Therapien besteht darin, dass sie so konzipiert sind, dass sie sich an den spezifischen Bedürfnissen der Patient*innen orientieren und so eine neue Dimension der personalisierten Medizin eröffnen.

Mittlerweile arbeiten weltweit mehr als 150 Unternehmen an digitalen Therapien, die in der Anfangsphase, zu Beginn der 2010er-Jahre, auch als „digiceuticals“ bezeichnet wurden. Laut dem „Economist“ sind die DTx einer der zurzeit am schnellsten wachsenden Märkte auf dem weiten Feld der vernetzten Gesundheit. Amazon Web Services hat den DTx-Trend längst erkannt und beliefert relevante Anbieter von digitalen Therapien wie Propeller (Asthma) und Omada Health (Diabetes) mit Cloud-Dienstleistungen. Digitale Therapien, das ist wichtig, müssen gegenüber den Aufsichtsbehörden nachweisen, dass sie evidenzbasiert sind, das heißt, es muss der Beweis erbracht werden, dass sie als „digitales Medikament“ nachvollziehbar wirksam sind. DTx haben keine Nebenwirkungen, schaffen keine chemisch-pharmazeutischen Abhängigkeiten und könnten die Gesundheitssysteme überall auf der Welt massiv entlasten.

Digitale Therapien, davon ist auszugehen, sind insofern keine vorübergehende Modeerscheinung, sondern weisen beachtliches Zukunftspotenzial auf. Laut einem Bericht von Allied Market Research könnte dieser Markt weltweit in den nächsten fünf Jahren mit einer jährlichen Steigerungsrate von 20,5 % wachsen und einen Wert von 13,8 Mrd. US-Dollar erreichen (2017 waren es 1,75 Mrd. US-Dollar) [6]. Schwer vorstellbar, aber die Gesundheitsversorgung wird schon in einigen Jahren nicht mehr nur auf der Abgabe von Medikamenten beruhen.

ADHD wird spielerisch bekämpft: Große Hoffnungen ruhen aktuell auf digitalen Therapien, vor allem auch bei einer schwer greifbaren Störung wie der Hyperaktivität beziehungsweise dem Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom (ADHD). In den USA fließen jährlich 14 Mrd. US-Dollar in die medikamentöse Behandlung von ADHD. Das junge Unternehmen Akili Interactive (siehe unten) hat 2018 ein Computerspiel entwickelt, das Kindern nachweislich dabei hilft, ihr Aufmerksamkeitsvermögen zu steigern und mehr Kontrolle über das eigene Verhalten zu erlangen.

Deutschland ist ein Vorreiter bei DTx: Als Deutschland im Jahr 2019 das Digitale Versorgungsgesetz (DVG) an den Start brachte, machte es den Weg frei für DTx, die Ärzt*innen auf Rezept verschreiben können. Bis Ende 2021 sind bei der Techniker Krankenkasse insgesamt 19.025 Verordnungen für digitale Therapien eingegangen. Am häufigsten verschrieben wurden Apps gegen Rückenschmerzen, Tinnitus und Migräne. Mit 66,5 % liegt der Anteil der Frauen bei den Nutzern deutlich höher als jener der Männer. Bei alledem ist noch wichtiger, dass durch das DVG den Herstellern von digitalen Therapien seitens der gesetzlichen Krankenkassen alle Kosten der Herstellung erstattet werden, wenn der medizinische Nutzen nachgewiesen werden kann.

Von der Tinnitus-Therapie bis zum intelligenten Pflaster: Die erste App im deutschen DTx-Verzeichnis war Kalmeda der Firma Mynoise mit einer Verhaltenstherapie für Tinnitus-Patient*innen [7]. Die App Esysta nutzen Diabetiker. Sie müssen dabei ihre Messwerte nicht mehr schriftlich festhalten, sondern können das unkompliziert auf digitalem Wege erledigen. Die Ergebnisse landen schneller in der Praxis der behandelnden Ärzt*innen und können zügig ausgewertet werden. Es geht aber auch ganz einfach: Patient*innen mit Herzfehlern und Epilepsie hilft eine Anwendung, deren Potenzial fürs Gesundheitswesen nur wenige erwarten dürften: eine Innovation aus der Klebstoffsparte von Henkel. Das smarte Gesundheitspflaster ermöglicht die Fernkontrolle der Vitalfunktionen wie Atmung, Herzfrequenz und Körpertemperatur. Ein integrierter Sensor sammelt und sendet diese kontaktlos an die Ärzt*innen.

Die folgenden Aspekte werden in den nächsten Jahren den Zukunftsmarkt der DTx weiterentwickeln:

  • Digitale Gesundheit wendet sich direkt an die Bedürfnisse der Kund*innen: Digitalisierung der Gesundheit heißt, dass Gesundheit immer mehr zu einem frei verfügbaren Konsumprodukt wird. Das hat überhaupt nichts Anrüchiges. Durch die Digitalisierung wird es schlicht und einfach möglich, dass gesunde Dienstleistungen direkt an die „Kunden-Patient*innen“ verkauft werden können – via Vernetzung und über Plattformen. Mittels der Plattformen werden wir Gesundheit deshalb immer häufiger und erfolgreicher proaktiv (bevor wir erkranken) sicherstellen. Und das wird unter Umgehung der klassischen Akteure (Ärzt*innen und Apotheker*innen) vonstattengehen. Zukünftig heißt es auch auf den Gesundheitsmärkten: die Kund*innen dort bedienen, wo sie sich aufhalten – im Internet.

  • Psychotherapie ist ein wichtiger Türöffner für DTx: Noch vor wenigen Jahren hätte die Vorstellung, psychische Erkrankungen wie Depressionen und Burn-out per Internet zu therapieren, Kopfschütteln ausgelöst. Mittlerweile zeigen fundierte Studien: Online-Therapien sind bei psychischen Erkrankungen ebenso wirkungsvoll wie ambulante oder stationäre Psychotherapien [8]. In Ländern wie Großbritannien, Schweden und den Niederlanden gehören sie bereits zur Regelversorgung Die Pandemie hat in Windeseile auch hierzulande eine Trendwende herbeigeführt. Krisenbedingt hat die Kassenärztliche Bundesvereinigung beschlossen, dass die Psychotherapie während der Corona-Pandemie auch per Videotelefonat möglich ist.

  • DTx ist digitales Beziehungsmanagement und braucht kluge Regularien. Aber wem gehören eigentlich die Kund*innenbeziehungen in der digitalen Medizin? Viele der gerade entstehenden Gesundheitsplattformen versammeln mehrere Akteure, die mitunter konkurrierende Interessen haben. Da tummelt sich der Anbieter einer neu entwickelten digitalen Therapie neben dem Hersteller eines klassischen Medikaments. Auf den Plattformen gilt jedoch Kooperation statt Konkurrenz. Und letztendlich entscheidet der Erfolg beim Klienten. Trotzdem wird in den kommenden Jahren auch der Gesetzgeber Weichenstellungen vornehmen müssen, gerade wenn es um die Frage geht, wer in welcher Form an der digitalen Kund*innenbeziehung verdient und wer auf welche Weise die Daten auf der Plattform nutzen darf.

  • DTx wecken neue Hoffnung und erweitern das Spektrum der behandelbaren Krankheiten: Allein in Deutschland leiden vier Millionen Menschen an einer seltenen Erkrankung. Sie alle sind auf die Behandlung von Spezialisten angewiesen und die sind oft weit entfernt. Mithilfe der Online-Plattform MyaLink.de können Patient*innen krankheitsspezifische Symptome über eine App erfassen, die Verläufe mit ihrem behandelnden Spezialisten teilen und über ein Nachrichtenmodul kontaktieren. Ärzt*innen können die Patient*innen so über einen längeren Zeitraum überwachen und bei Bedarf die Therapie aus der Ferne anpassen.

Die folgenden Unternehmen werden auf dem entstehenden Markt der Digitalen Therapien eine wichtige Rolle spielen:

Mit Livongo sichert sich Teladoc Expertise in DTx: Teladoc ist der weltweit führende Anbieter von virtuellen, digitalen Gesundheitsdienstleistungen. Das Unternehmen hat sich zum Ziel gesetzt, die gesundheitliche Versorgung hin zu mehr Komfort, besseren Ergebnissen und höherem Nutzen zu transformieren. Dazu teilt Teladoc sein Arbeitsfeld in über 450 Symptomkategorien ein, die von nicht dringlichen, wiederkehrenden Beschwerden wie Grippe oder Halsschmerzen bis zu chronischen, komplizierten medizinischen Fällen wie Krebs oder Herzinsuffizienz reichen. Mit dem Kauf von Livongo hat Teladoc einen der Pioniere der digitalen Therapien mit an Bord genommen. Livongo bietet digitale Lösungen vor allem für Patient*innen an, die an chronischen Erkrankungen wie Diabetes, Demenz und Herz-Kreislauf-Syndromen leiden. Im dritten Quartal 2020 konnte Teladoc die Nutzerzahl auf seiner Plattform um ein Viertel steigern.

Roche auf der Suche nach dem digitalen Biomarker: Der Schweizer Pharmariese Roche rangiert mit Forschungsinvestitionen von jährlich 13,7 Mrd. Schweizer Franken weltweit unter den Top-10-Unternehmen. Roche gehört deswegen auch nicht zufällig zu den Pionieren auf dem Gebiet der digitalen Therapien. In der Diabetesforschung hat Roche mit MySugr.com ein digitales Projekt vom Diabetestagebuch zur ganzheitlichen Versorgungsplattform weiterentwickelt. In der Therapiegestaltung für Multiple-Sklerose-Patient*innen bringt Roche gleich drei Apps (Floodlight, Brisa, Emendia) an den Start, die helfen, den sehr individuellen Verlauf einer MS-Erkrankung besser zu bewältigen. Es können kleinste Veränderungen im Krankheitsbild in Realzeit mit Fachärzt*innen geteilt und die Maßnahmen mit Patient*innen und Pfleger*innen abgestimmt werden. Doch die Überlegungen von Roche gehen noch weiter. Zurzeit wird erforscht, ob sich die Daten der Apps als „digitale Biomarker“ (unter Biomarkern versteht man Krankheitsindikatoren in Zellen oder Proteinen) nutzen lassen. Auf diese Weise würde es in absehbarer Zeit möglich, das Vorhandensein einer MS-Erkrankung oder Anzeichen dafür mithilfe eines Smartphones frühzeitig zu erkennen

Johnson & Johnson verknüpfen Digitalisierung mit konsumierbarer Gesundheit:

Johnson & Johnson, der weltweit wertvollste Pharmariese aus den USA (die Bewertung liegt bei 452 Mrd. US-Dollar), zählt digitale Therapien und Medizintechnologien zu den sechs wichtigsten Innovationsfeldern der kommenden Jahre. In der letzten Zeit hat Johnson & Johnson nicht weniger als 50 Unternehmen aufgekauft, um den digitalen Wandel voranzutreiben. Dazu gehören unter anderem auch Start-ups auf den Gebieten 3-D-Bildgebung, künstliche Intelligenz und digitale Chirurgie. Auf seiner C-SATS-Plattform können Ärzt*innen ihre Operationen in der Cloud zugänglich machen und sich in Kooperation mit Forscher*innen zur Not am anderen Ende der Welt beraten. Johnson & Johnson sieht in der Digitalisierung eine einmalige Gelegenheit, der hauseigenen Consumer-Health-Sparte neuen Schwung zu verleihen und Gesundheit als Konsumangebot verfügbar zu machen.

Better Therapeutics hat DTx als Effizienzstrategie im Blick: US-Studien belegen, dass Menschen mit der chronischen Krankheit Diabetes zwei- bis dreimal mehr Gesundheitskosten verursachen als der Bevölkerungsdurchschnitt. Mittlerweile leiden mehr als zehn Prozent der US-Bürger*innen an Diabetes. Doch nur gut die Hälfte der Patient*innen erreicht bei konventioneller Medikamentierung ihre Therapieziele. Hier werden immer häufiger digitale Therapien hinzugezogen. Mithilfe von Monitoringsystemen, Datentrackern und digitalen Hilfestellungen bei der Medikamentierung werden Patient*innen insbesondere bei der Änderung ihres Essverhaltens angeleitet. Das Unternehmen rechnet für 2023 mit der Zulassung der ersten digitalen Medikamente durch die US-Behörden.

Akili bekämpft psycho-neurologische Störungen mit Gaming: Jüngst ist David Baszucki, CEO des Gaming-Portals Roblox, einem Schlüsselunternehmen für das Metaverse, bei Akili Interactive als Investor eingestiegen. Auch im Metaverse könnte es irgendwann eine Nachfrage nach digitalen Therapien geben. Akili könnte hier zu den Pionieren gehören. Das Bostoner Unternehmen hat seit seiner Gründung im Jahr 2011 mehr als 300 Mio. US-Dollar bei Investor*innen eingesammelt. Akili baut auf „Gamification“, das heißt auf therapeutische Anwendungen, die Patient*innen in Form eines Videospiels „verabreicht“ werden. In den USA wurden bereits die ersten Gesundheits-Games als digitale Medikamente zugelassen. Akilis EndeavourRx ist eines der ersten Games, das eine Zulassung durch die FDA erhalten hat, und trainiert speziell die Konzentrationsfähigkeit von Acht- bis Zwölfjährigen. Die therapeutischen Spiele helfen Menschen, sich besser zu konzentrieren, assistieren dabei, neue Dinge zu lernen, das Gedächtnis zu trainieren und bessere Entscheidungen zu treffen. Über visuelle Sinneseindrücke und Spielhandlungen werden Reaktionen und Organisationsmechanismen in den neuronalen Netzwerken „umprogrammiert“. Die heilenden Games durchlaufen dabei bis zu 30 Teststudien. Jedes Spiel lässt sich für die Bedürfnisse der Patient*innen personalisieren; Algorithmen passen den Schwierigkeitsgrad der Aufgaben an.

Novartis experimentiert mit DTx gleich in mehreren Sparten: Das Medikamentenportfolio des Schweizer Pharma- und Medizintechnikkonzerns setzt sich aus Spezialmedikamenten, Generika, Humanimpfstoffen, rezeptfreien Medikamenten zur Selbstmedikation und Produkten für die Tiermedizin zusammen. Novartis beschäftigt sich schon länger mit digitalen Therapien. In den vergangenen Jahren hat der Konzern unter anderem mit Pear Therapeutics, einem Gesundheitsunternehmen, das DTx für chronische Krankheiten zur Verfügung stellt, kooperiert. Der Kauf von Amblyotech, das digitale Therapien und Lösungen für das Schielen (Astigmatismus) entwickelt hat, unterstreicht, dass Novartis digitale Therapien als Zukunftsmarkt sieht. Dabei lässt der Konzern offen, ob die digitalen Therapien eines Tages als Stand-alone-Lösungen für Umsatz sorgen werden oder in Ergänzung zu herkömmlichen pharmazeutischen Therapien („Around the pill“) eingesetzt werden.

Sharecare arbeitet an den Grundlagen für eine komplett digitale Gesundheitsversorgung: Sharecare, der Name sagt es bereits, gehört zu den Unternehmen, die Kompetenzen auf dem Gebiet der Medizin, der Social Media und moderner Technologien fusionieren, um in den kommenden Jahren den Zukunftsmarkt der DTx zu erobern. Sharecare stellt Kommunikationswege (unter anderem Apps), Unterstützungsdienstleistungen und Messinstrumente für die Gesunderhaltung bereit. Herauszuheben ist bei Sharecare, dass diese digitalen Dienste nicht nur für Endverbraucher*innen, sondern auch für Unternehmen und Gesundheitsanbieter entwickelt werden. Künstliche Intelligenz spielt für das 2010 gegründete Unternehmen eine immer größere Rolle. Jüngst wurde deshalb das Start-up doc.ai aufgekauft, mit dessen Hilfe vor allem die Nutzung personalisierter Daten verbessert werden soll.

FormalPara Learnings
  • Bislang wird unser Gesundheitswissen nur unvollkommen genutzt: Im Jahr 1950 dauerte es ein halbes Jahrhundert, bis sich das medizinische Wissen verdoppelte, heute braucht es dafür nur noch knapp 70 Tage. Würden wir diesen einzigartigen Zugewinn an Wissen über Gesundheit konsequenter nutzen – und die Instrumente dafür stehen dank der Digitalisierung bereit –, wäre unser aller Gesundheit und die Funktionstüchtigkeit der Gesundheitssysteme gesichert.

  • Digitale Therapien bieten Vorteile für alle klassischen Stakeholder: Die Mehrzahl der Ärzt*innen ist technologieaffin und immer auf der Suche nach alternativen Heilungsansätzen. Darüber hinaus gehört es zu ihrem Alltag, mit Gesundheitsbudgets sorgfältig umzugehen. Die Krankenkassen und Gesundheitsdienstleister sind ebenfalls daran interessiert, einer großen Zahl von Kund*innen effiziente Gesundheitslösungen zu günstigen Preisen anbieten zu können. Pharmaunternehmen und Medizintechnikhersteller sollten ein Interesse daran haben, Therapien zu verbessern und neue, nachhaltigere Problemlösungswege zu finden (auch wenn dadurch das alte Geschäftsmodell der Standardtherapien zu bröckeln beginnt). Und schließlich profitieren auch die „Kunden-Patient*innen“ vom Zukunftsmarkt der digitalen Therapien, weil sie längst in der digitalen Welt angekommen sind und praktische Unterstützung und transparente Informationen für ihre Gesunderhaltung schätzen.

  • DTx und das Ende der paternalistischen Medizin: Der Markt der digitalen Therapien steht erst am Anfang, könnte sich in den kommenden zehn Jahren aber mit atemberaubender Geschwindigkeit entwickeln. Eines steht jetzt schon fest: Einen Weg zurück in die alte paternalistische Medizin, in der der „Herrgott in Weiß“ uns erklärt hat, was gut für uns ist, gibt es nicht mehr.