Politikwissenschaftler Kraushaar über Uni-Proteste: „Das hat nichts mit Antisemitismus zu tun“
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Politikwissenschaftler Kraushaar über Uni-Proteste: „Das hat nichts mit Antisemitismus zu tun“

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Politikwissenschaftler Wolfgang Kraushaar über die Proteste an Universitäten heute und in den 1960er Jahren und die Folgen von Polizeieinsätzen auf dem Campus.

Herr Kraushaar, viele vergleichen die Studierenden-Proteste an amerikanischen und deutschen Universitäten mit der Zeit der 68er-Bewegung. Erkennen Sie Ähnlichkeiten?

Nun, auf den ersten Blick scheint es tatsächlich viele Parallelen zu dem zu geben, was sich in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre an den US-amerikanischen Universitäten abgespielt hat. Doch auf den zweiten Blick gibt es, meiner Einschätzung nach, auch gravierende Differenzen. Das Gleiche gilt übrigens auch für einen Vergleich zwischen dem, was sich an entsprechenden Protestaktionen an den damaligen und an den heutigen bundesdeutschen Universitäten abgespielt hat. Insgesamt ist es schon sehr erstaunlich, in welchem Maße sich die pro-palästinensischen Demonstrationen und Aktionen von den USA aus auf europäische Universitäten ausgebreitet haben.

Studierenden-Proteste an der Universität Washington.
Studierenden-Proteste an der Universität Washington. © IMAGO/ZUMA Wire

Wie war es denn in den 1960ern in den Vereinigten Staaten?

Als US-Präsident Johnson im Februar 1965 Nordvietnam hatte bombardieren lassen, breitete sich an den US-Universitäten massive Unruhe aus. An der University of Michigan war es kurz darauf zu einer Teach-in-Bewegung gegen den Vietnamkrieg gekommen, an der sich Studierende und Lehrende gleichermaßen beteiligten. Damit wollte man über die Ursachen des Kriegs in Südostasien aufklären. Die Wurzel dieser Antikriegsproteste, die die USA ein Jahrzehnt lang in Atem hielten, lag eindeutig an den Universitäten. Das muss man sehr deutlich herausstreichen. Eine Parallele sehe ich auch darin, dass sich die damaligen Proteste von dort aus um den halben Erdball ausgebreitet haben, auch an der Freien Universität Berlin. Dort gab es von 1965 auf 66 ein sogenanntes Vietnamsemester. Und dann folgten seit 1967 auch immer größere Demonstrationen, die auf die gesamte Bundesrepublik übersprangen. Das kann man als Kernverlauf beschreiben. Doch die Situation, die wir gegenwärtig erleben, ist natürlich von ihren Rahmenbedingungen und ihrer Dynamik her eine ganz andere als am Ende der sechziger und am Anfang der siebziger Jahre.

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Inwiefern?

Der Nahostkonflikt ist entschieden anders strukturiert als der Vietnam-Krieg. Schon allein deshalb, weil es sich im Fall Hamas contra Israel um einen asymmetrischen Krieg handelt, ausgetragen auf einem winzigen, dicht besiedelten Gebiet wie dem Gazastreifen. Und am 7. Oktober haben wir etwas erlebt, was es seit Gründung des Staates Israel zuvor noch nie gegeben hatte – ein Pogrom auf eigenem Boden. Der Hamas war es gelungen, das Sicherheitsversprechen, das der zionistische Staat seinen Bürgern gegeben hatte, auf barbarische Weise zu brechen. Daher war es naheliegend, dass die Antwort des israelischen Militärs darauf auch sehr heftig ausfallen würde. Dennoch gibt es meines Erachtens eine berechtigte, ja notwendige Kritik am Vorgehen der Regierung Netanjahu. Denn es kann nicht angehen, dass es dabei zu Zehntausenden von Opfern unter der palästinensischen Zivilbevölkerung kommt.

Also ähnlich wie im damaligen Vietnam-Krieg?

Auch in Vietnam gab es eine menschenverachtende Kriegsführung durch das US-Militär und mit dem Vietcong eine starke Guerillabewegung, die kaum zu kontrollieren gewesen ist. Auf den ersten Blick sieht es allerdings aus, als wären die Proteste gegen den Vietnamkrieg nicht nur Proteste aus pazifistischen Motiven gewesen. Man wollte ganz offensichtlich den US-Imperialismus als Ganzes treffen und verurteilen. Also nicht nur den Krieg im fernen Südostasien, sondern auch den „american way of life“, also die gesamte auf Leistungsmaximierung und Konsum abgestellte Lebensweise im eigenen Land.

Zur Person

Wolfgang Kraushaar , geb. 1948, ist Politologe und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Hamburger Institut für Sozialforschung. Einschläge Arbeiten hat er insbesondere zur 68er-Bewegung, RAF und K-Gruppen vorgelegt. So etwa die Bücher „Die blinden Flecken der 68er Bewegung“.

Die Freie Universität (FU) Berlin prüft rechtliche Schritte gegen die „Bild“. Anlass ist die Berichterstattung der Zeitung über einen Protestbrief von etwa 100 Lehrenden gegen die polizeiliche Räumung einer propalästinensischen Demonstration an der FU. Auch der Historiker Michael Wildt hat eine Beschwerde beim Presserat eingereicht wegen „ böswillige(r) Verleumdung und bewusste(r) Verdrehung von Tatsachen“, heißt es auf seiner Webseite.

Wie stellt es sich heute dar?

Jetzt empört man sich über den angeblichen Postkolonialismus des Staates Israel, und man glaubt, darin eine Verlängerung dessen erkennen zu können, was man früher als Imperialismus angeprangert hat. Aber ich halte vom Kolonialismus-Vorwurf nur sehr bedingt etwas. Man kann natürlich nicht abstreiten, dass ein Teil des Zionismus, etwa der von Wladimir Jabotinski begründete „revisionistische Zionismus“, kolonialistisch geprägt gewesen ist. Dessen letzter Sekretär war übrigens der Vater von Benjamin Netanjahu. Dennoch führt die Berufung auf den Antikolonialismus nicht besonders weit. Das Zweite ist, dass sich mit dem Verlauf des Sechs-Tage-Krieges im Juni 1967 und den anschließenden Gebietsannexionen durch Israel ja etwas ganz Entscheidendes abgespielt hat. Mit dem SDS etwa hatte der eigentliche Motor der 68er-Bewegung eine Art von Hundertachtzig-Grad-Wendung vollzogen.

Was haben Sie da vor Augen?

Zuvor war man sehr pro-israelisch eingestellt gewesen, und zwar schon seit dem Beginn der fünfziger Jahre. Es gab zahlreiche Studierende, insbesondere SDS-Mitglieder, die in Kibbuzim mitgearbeitet hatten und für Frieden mit Israel aufgetreten waren. Dann aber schien es plötzlich so zu sein, als wäre nach dem Sechs-Tage-Krieg aus Israel, dem Land der Opfer, insbesondere der Holocaust-Opfer, ein Land der Sieger und der Täter geworden.

Rudi Dutschke am 6. Juni 1968 in Frankfurt.
Rudi Dutschke am 6. Juni 1968 in Frankfurt. © imago/ZUMA/Keystone

Welche Folgen hatte das?

Das führte dazu, dass im September 1967 in Frankfurt auf der alljährlichen SDS-Bundesdelegiertenkonferenz eine Resolution zum Krieg im Nahen Osten vorgelegt wurde, in der es hauptsächlich darum ging, den Staat Israel als den vorgeschobenen Posten des US-Imperialismus im Nahen Osten zu verurteilen. Die Resolution wurde jedoch aufgrund einer Intervention von Rudi Dutschke nicht verabschiedet. Es gab insofern zumindest von führenden Leuten im SDS auch eine Reservehaltung. Und jemand wie Rudi Dutschke ist in keinerlei Hinsicht verdächtig gewesen, antiisraelisch, antizionistisch oder gar antisemitisch eingestellt zu sein. Das hat er strikt abgelehnt.

Jetzt folgt doch sicher ein „Aber“...

Andererseits hat er aber auch versucht, dieses Thema ins zweite Glied zu verschieben und damit eine offene Auseinandersetzung zu verhindern. Als in der Folge ab 1969 Palästina-Komitees gegründet wurden, war die Solidarisierung mit der Generalunion Palästinensischer Studierender in Deutschland, die von Abdallah Frangi als Vorsitzendem angeführt wurde, sehr hoch. Das führte dann zu folgenden Dingen: Erstens zur Beteiligung verschiedener SDS-Gruppen an einem Internationalen Camp in Jordanien im Sommer 1969. Es dauerte insgesamt sechs Wochen. Und da wurden einige tatsächlich auch an Waffen ausgebildet. Das war schon eine Vorstufe zum Terrorismus und setzte sich fort durch den Besuch der fünfköpfigen Kunzelmann-Gruppe im Spätsommer, zu der auch Georg von Rauch gehörte. Diese Gründungszelle der „Tupamaros West-Berlin“ ließ sich in einem Lager der el-Fatah an Waffen und Sprengstoff ausbilden.

Was fingen sie damit an?

Das Erste, was sie gemacht haben, bestand darin, ausgerechnet zum 31. Jahrestag der sogenannten „Reichskristallnacht“ einen Bombenanschlag auf das Jüdische Gemeindehaus in der Charlottenburger Fasanenstraße zu verüben. Die Bombe ging zwar nicht hoch, aber da dort 250 Menschen versammelt waren, hätte es zumindest Verletzte, vielleicht sogar Tote geben können. Das war der Auftakt des Kapitels „Bewaffneter Kampf“, dem dann bald darauf die RAF folgen sollte.

Davon dürfte man heute weit entfernt sein.

Wenn wir das auf die Gegenwart und die Aktionen beziehen, die jetzt stattgefunden haben – Hörsaalbesetzungen, Angriffe auf Personen, die pro-israelisch aufgetreten sind – dann kann ich diese Dimension nicht erkennen. So weit ist die Eskalation noch nicht fortgeschritten. Allerdings gab es bereits massive Übergriffe, etwa den eines palästinensischen auf einen deutsch-israelischen Studenten, der mit schweren Gesichtsverletzungen in die Klinik gebracht werden musste. Man darf körperliche Übergriffe bei solchen Auseinandersetzungen einfach nicht tolerieren.

Gab es damals auch Unterstützung von Professoren?

Es gab eine kritische Dozentenschaft, zum Beispiel jemanden wie Oskar Negt, der damals Assistent von Jürgen Habermas war. Wie viele andere auch hatte sich Negt vom Linksfaschismus-Vorwurf seines Professors Dutschke gegenüber distanziert. Insofern gab es damals schon Risse und zum Teil auch Brüche. Dass sich jedoch, wie heute nun an der FU geschehen, Hunderte von Lehrenden in Form eines offenen Briefes hinter die pro-palästinensisch eingestellten Studierenden stellen, das gab es damals nicht. Allerdings gab es im Sommer 1969 eine Serie von Aktionen, mit denen man dem ersten israelischen Botschafter, Asher Ben Natan, seine Abschiedstour vermasseln wollte. Die meisten seiner Auftritte wurden gestört, auch der an der Frankfurter Uni. Wortführer war der ehemalige SDS-Bundesvorsitzende Karl-Dietrich Wolf. Das war offen anti-israelisch, vermutlich auch antizionistisch und weckte zumindest den Verdacht, ob nicht auch Antisemitismus mit im Spiel war.

Jetzt ist es anders?

Nein, ganz im Gegenteil. Manches an den im FU-Statement verwendeten Argumenten finde ich nachvollziehbar, etwa dass man sich zum Gaza-Krieg äußern und den Vormarsch der israelischen Armee auf Rafah in Abrede stellen müsse. Das hat nichts mit Antisemitismus zu tun. Ich selbst hätte die Erklärung allerdings nicht unterzeichnet. Denn darin wird die Universität implizit als rechtsfreier Raum behandelt. Es heißt, dass man Studierende „in keinem Fall“ der Polizeigewalt ausliefern dürfe. Und das geht nicht. Wenn es zu eklatanten Rechtsbrüchen kommt, wie zuletzt etwa bei einem körperlichen Angriff auf die Beteiligte an einer Antisemitismus-Veranstaltung an der Hamburger Uni, dann muss auch die Polizei herbeigerufen werden können. In meinen Augen haben die Unterzeichner immer noch ein Problem damit, das Gewaltmonopol des Staates zu akzeptieren.

Wie soll man mit pro-palästinensischen Protesten umgehen?

In den ersten Wochen nach dem 7. Oktober gab es in Hamburg ein generelles Verbot von Demonstrationen, die pro-palästinensisch eingestellt waren. Und vor zwei Wochen gab es eine Demonstration von Islamisten, die zur Gründung des Kalifats aufriefen. Beides war verkehrt. Die erstgenannten Bekundungen waren vom grundgesetzlich verbrieften Recht auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit gedeckt, im Gegensatz zum überaus gruseligen Aufmarsch der Israel-Hasser, die die Gründung eines Gottesstaates proklamierten. Diese Demonstration hätte man nicht erlauben dürfen. Doch genau das hat die Hamburger Innenbehörde nun am vergangenen Samstag, wenn auch unter Auflagen, ein zweites Mal getan.

Wie war es in den 1960er Jahren mit polizeilichen Räumungen?

Ich habe so etwas selbst miterlebt, zum Teil auch mitgemacht. Zum Beispiel die Besetzung des Soziologischen Seminars im Westend, das dann von der Polizei geräumt wurde. Da Habermas die Besetzer zuvor darauf hingewiesen hatte, konnte man sich noch rechtzeitig aus dem Staub machen. Auch an der New Yorker Columbia University war es 1968 zu Besetzungen und polizeilichen Räumungen gekommen. In der amerikanischen Presse spricht man angesichts der Tatsache, dass nun wieder Columbia der Hotspot ist, von „Bidens 68-Moment“. Das ist also im Gedächtnis haften geblieben. Auch in unserer Vergangenheit gab es Debatten, wie sie jetzt an der Columbia ausgebrochen sind. Etwa die Diskussion darüber, ob die Präsidentin Minouche Shafik weiter in ihrem Amt bleiben dürfe, da sie die Polizei zur Räumung eines Protest-Camps herbeigerufen hatte. Damals waren es Adorno und von Friedeburg gewesen, die im Januar 1969 die Polizei ins Institut für Sozialforschung gerufen hatten. 70 SDS-Mitglieder wurden festgenommen und mit Hans-Jürgen Krahl deren führender Kopf in Untersuchungshaft behalten. Von da an war das Tuch zwischen der Kritischen Theorie und ihren Studierenden für längere Zeit zerschnitten.

Wolfgang Kraushaar.
Wolfgang Kraushaar. © imago/Hoffmann

Es handelt sich bei den Räumungen also um Aktionen, die erhebliche Wirkung haben könnten?

Der Schritt, Polizeikräfte auf den Campus zur Räumung zu rufen, ist immer problematisch. Das Hochschulrecht bildet hier eine gewisse Hürde. An der Columbia gab es ein pro-palästinensisches Zeltlager, an dem übrigens auch jüdische Studierende beteiligt waren, die dort sogar das Pessach-Fest gefeiert haben. Was den Vorwurf des Antisemitismus angeht, wäre ich daher sehr zurückhaltend. Denn er scheint hier nicht zuzutreffen, zumindest nicht pauschal.

Welche Folgen erwarten Sie?

Ich glaube, es wird sich Erhebliches verändern. In Teilen der USA hat man jedenfalls erkannt, dass die Israel-Unterstützung in dieser Form nicht einfach weitergehen kann. Jedenfalls solange Netanjahu noch an der Macht ist. Das gilt auch für die EU. Auch dort hat sich die Einsicht durchgesetzt, dass man solange keine pauschale Solidarisierung mit Israel praktizieren kann, solange man es mit einer illiberalen Regierung zu tun hat, in der Rechtsradikale mit am Kabinettstisch sitzen. Die Bundesregierung versucht sich diesem Problem gegenüber wegzuducken. Bundeskanzler Scholz ist nach dem 7. Oktober sofort Angela Merkel gefolgt und hat sich darauf berufen, dass die Existenzsicherheit Israels Teil der deutschen Staatsräson sei.

Der Begriff ist doch nun rechtlich verbürgt.

Nicht unbedingt. In unserem Grundgesetz kommt der obrigkeitsstaatlich aufgeladene Begriff der Staatsräson bezeichnenderweise nicht vor. Zudem ist es eine offene Frage, ob man die Sicherheit eines anderen Staates überhaupt zum Bestandteil der eigenen Staatsräson machen kann. Und wenn es wirklich Ernst mit der Existenzbedrohung Israels würde, dann müsste das ja eine militärische Beistandspflicht zur Folge haben. Wenn etwa der Iran Israel ernsthaft angreifen würde, dann wäre es wohl die Aufgabe der Bundeswehr Israel militärisch beizustehen. Was das bedeutet, vermag sich hierzulande aber offenbar niemand so recht vorstellen zu wollen, weshalb sich die Politik im Hinblick auf solche Konkretisierungen auch lieber ausschweigt.

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