Vergatterung - Olaf Arndt

Vergatterung

I. Richtig denken

Der aus der Militärsprache entlehnte Begriff Vergatterung bezeichnet dem Wortstamm nach eine ‘Palissadenvermachung’ (Grimms Wörterbuch), einen mit Brettern vernagelten, “mit gattern versehenen raum” zur Schweinehaltung. Vergatterung heisst in der Armee die Unterstellung bestimmter Personen unter andere. Im übertragenden Sinn bedeutet es dann später, dass innerhalb des Gatters niemand die Freiheit hat, sich zu bewegen wie es ihm beliebt oder noch weitergehend: zu denken, zu sagen und zu tun, was oder wie es ihm gefällt. Der Begriff hat zu Anfang der Gerhard-Schröder-Ära als sogenannte Kanzlervergatterung (der Presse) Karriere gemacht. Seither finden – insbesondere seit dem Jahr 2020, das sich mittlerweile rückblickend als das Wendejahr in Sachen Meinungsbildung präsentiert – permanent Vergatterungen statt. Der Begriff ist also aus seinem urprünglichen Bedeutungsfeld der Einzäunung von Tieren tief hineingeraten in das Assoziationsfeld der Steuerung der richtigen Vorstellung von einer Sache.

Kollegen aus der Berliner Kulturszene erzählen uns in diesem Zusammenhang, dass seit dem Entstehen der Idee, öffentlich geäußertes kritisches Denken könne den Staat deligitimieren und damit einen verfassungsrechtlichen Straftatbestand erfüllen, Podiumsdiskussionen zu schlimmen Gratis-Beklemmungen bereits in der Vorbereitungsphase führen, also zu einem Zeitpunkt, zu dem noch niemand auch nur ein Wort gesagt hat. An den Nachmittagen vor den Abendveranstaltungen finden deswegen mittlerweile bei allen fördermittelempfangenden Institutionen (also bei allen) Vergatterungen insbesondere der teilnehmenden Künstler statt, bei denen festgelegt wird, was über die brisanten Themen der Gegenwart (Ukrainekrieg, Gaza etc.) zu denken richtig sei und dass es am besten wäre, wenn diese Themen auf dem Podium ganz ausgespart blieben.
Das ist das Ergebnis einer jahrelangen medialen Umerziehung: nicht mehr “Denken, das an der Zeit ist” (auf der Suche nach der Folgephilosophie nach dem Ende der Aufklärung oder in sloterdijkscher Diktion: “nach der Auflösung eines einheitlichen Vernunftsinns”) – sondern in correctiv-scher Manier “Denken, was richtig ist”.
Wozu also überhaupt noch an Podien als Zuhörer Interesse nehmen? Das Resultat des “Meinungsabtauschs” steht offenkundig schon vorher fest, ebenso wie die Grenzen der Ausuferung.

II. Korrekte Einstellung

Einstellung ist ein Wort, das man – in Überschreitung von Karl Kraus’ Bonmot – dreimal lesen kann.
Zunächst in der Bedeutung von “Überzeugungen” oder “Ansicht(en)” – hierzu zitiert Grimms Wörterbuch folgenden Quellen: “(ansichten) des lebens, der natur, der welt; den dingen eine heitere ansicht abgewinnen. nach meiner ansicht, wie ich die sache ansehe; nach einer verbreiteten ansicht, wie die meisten sie betrachten.”
Eine andere Sorte Einstellung kennen wir vom Justieren von Geräten, bei der Senderwahl im Radio, bei der Festlegung von technischen Parametern, die ein (gewolltes, bevorzugtes) Erleben nach sich ziehen.
Ein dritte interessante Form der Einstellung findet in der Medizin weite Verbreitung: man wird unter den Einfluß von Medikamenten gestellt, an deren Dosierung solange herumgeschraubt wird, bis der Patient die (starke) Wirkung nicht mehr als unangenehm oder körperfremd erlebt. Ein so behandelter Patient ist “gut eingestellt”.

Beeinflussung ist in jedem Fall die Schnittmenge. Man fummelt solange herum, bis der gewünschte Zustand herauskommt. Auf Nebenwirkungen wird keine Rücksicht genommen. Nur das Ergebnis zählt.

Die Veränderung unserer Einstellung führt – ähnlich wie im vorhergehenden Artikel das Wort “Doppelkatastrophe” benutzt wird – zur Unterdrückung unerwünschter Effekte: ob nun durch einen pharmakologischen Cocktail oder durch Potpourri von empfindlichen Strafen für Fehlverhalten – Sei kein Sympathisant, Sympathisanten sind selbst Terroristen. Oder zahmer: Du sollst nicht an Meinungskundgebungen teilnehmen, die sich kritisch zur allgemein akzeptierten Linie verhalten. Die effizienteste Korrektur der Einstellung wird durch direkte Ansprache vorgenommen: eben durch “Vergatterung”. Eine Gleichschaltung steht stets dahinter, wenn abweichendes Verhalten erfolgreich korrigiert ist. Wir meinen dann alle das Gleiche.

III. Schwere Operation

Im vergangenen Spätsommer musste ich mich unerwartet einer schweren Operation unterziehen. Der nachfolgende Lähmungszustand kam vor allem durch eine komplexe pharmakologische Sedierung meiner Organfunktionen zustande. Vorher befand ich mich im Widerspruch zu allem, was um mich herum passierte. Nach der erfolgreich durchgeführter Einstellung war mir alles rundherum egal.
Ich fühle mich nicht in der Lage, meinen schweren Hintern von der Ofenbank hochzukriegen. Das erste Mal in meinem Leben machte ich die Erfahrung, dass man aus der Senke nur rauskommt, wenn man sich mit aller Gewalt überwindet und den Zustand, in dem der Körper einem einflüstert, sich zu schonen, ignoriert. Überwindung gegen jedes eigene Gefühl der Möglichkeit.
Ich erlebte in diesem Zustand der Paralyse den 7. Oktober 2023 in Gaza, die Veröffentlichung der Corona-Protokolle und einiges mehr an politischen Ereignissen, zu denen ich keine aktive Haltung einnehmen konnte.

Doch ganz deutlich spürte ich eine fatale Parallele zwischen der politischen Lage und meinem gesundheitlichen Zustand.

Die Fahrt in den Zellkern von mehreren Milliarden Menschen, der genetische Eingriff in den Körper, diese schwere pharmakologische Operation an der Mehrheit der Weltbevölkerung, deren Nebenwirkungen massiv erst 2023 spürbar wurden, zeitlich überlappend mit der allen humanitären Idealen spottenden, doppelkatastrophischen Vorfällen in Gaza und die Lähmung, die uns alle befiel, obwohl die empörenden Tatsachen auf dem Tisch lagen und ein Handeln – nicht nur theoretisch – erforderten.

Hätten wir auf die aktuellen Kriege genauso reagiert, wenn es den Corona-Vorlauf, die kollektive Vergatterung nicht gegeben hätte? Die Meinung noch nicht so erfolgreich eingeebnet gewesen wäre wie nach der “Operation Pandemie”?

An dieser Stelle möchte ich gern einfügen, dass viele unserer Freunde bis heute große Schwierigkeiten haben, die Verletzung des “contrat social“, den die Pandemieverordnungen und ihre medizinische Umsetzungen kennzeichnen, als solche anzuerkennen und entsprechend sich (dagegen) zu positionieren. Jeder dieser Freunde würde zustimmen, dass man gegen einen Staat, der foltert, köpft, vierteilt oder Leichen zur Abschreckung am Galgen vergammeln lässt, vorgehen muss. Die Verletzung des Grundvertrauens ist ihnen hier so offenkundig, dass es ihre Empörung auslöst.

Der Staat, der auf Millionen Jahre hinaus die eigene Bevölkerung verstrahlt und Millionen von Menschen in den Krebstod schickt, indem er die Frage der generellen Sicherheit von Atomkraft nicht gelöst hat, der Staat, der durch pure Behauptung Atomkraft zur sauberen Energie erklärt und noch darüberhinaus die Konzerne, die damit gut verdienen, Atomkraftwerke zu betreiben, von jeder Verpflichtung freistellt, die Entsorgung alter Brennstäbe nachhaltig zu lösen, dieser Staat geniesst also das Grundvertrauen unserer Freunde. Wie dieser Staat das geschafft hat, wird einem erst klar, wenn man die relativ unverhohlen durchgezogene Gesamt-Bevölkerungs-Vergatterung am Anfang der Pandemie-Zeit sich noch einmal ins Bewusstsein holt: eben jene Kommunikationstechnik der Inversion aller Werte, die jetzt auch in jedem seither folgenden politischen Fall wieder benutzt wird.

Die gesamte kritische Intelligenz der westlichen Welt – und nicht nur diese – kriegt nun den Hintern nicht mehr von der Ofenbank: sie sind meinungsgelähmt. Es sind nicht die Sprechverbote, die natürlich ihren Teil dazu beitragen, dass keine Auseinandersetzung stattfindet. Es ist auch und vor allem die Ratlosigkeit, die uns alle ergriffen hat, wie man mit einem paralysierenden Zustand dieser Dimension umgehen, mit welchem Trick man aus ihm herauskommen soll?

Gibt es für das aktuelle Geschehen ein Muster? Nur ein einziges Mal in meinem Leben habe ich zuvor eine vergleichbare gesellschaftliche Verformung erlebt: während der gigantischen konzertierten Hetze gegen das sogenannte Sympathisantentum. Dies war in jenen fünfzig Jahre zurückliegenden Zeiten, als die Rote Armee Fraktion ihren bewaffneten Kampf gegen den Kapitalismus führte und die “BRD” den Popanz einer Fundamentalbedrohung durch einige ganz wenige, jedoch wild entschlossene Figuren aufbaute. Wir hockten handlungsunfähig vor dem Fernseher und schauten uns an, wie aufgrund jener völlig frei erfundenen Behauptung, dass zwanzig Personen in der Lage seien, einen der reichsten und bestausgerüsteten Staaten der Welt zu zerstören, das Land umgebaut wurde zum “Sonnenstaat des Herrn Herold”. Jedermann, der über diese Ereignisse sprechen, sich mit ihnen kritisch auseinandersetzen wollte, wurde sofort zum Terroristen gebrandmarkt.
Die Stigmatisierung war ein voller Erfolg. Eine zuvor weithin – insbesondere in universitären Kreisen bestehende – Solidarität wurde massiv abgedrängt. Jede Auseinandersetzung wurde über Jahrzehnte verhindert und jede Form von Verständnis für die Quellen (Faschismus), Gegenstände und Ursachen (Fortbestehen faschistischer Eliten in der Bundesrepublik) des bewaffneten Kampfes erfolgreich abgedrängt.
Damals wie heute schien das Land in Fassungslosigkeit erstarrt. Behaftet mit allen Charakteristika einer komplexen posttraumatischen Belastungsstörung (Dissoziation, begleitet von Freeze-Effekten). Damals wie heute war die Republik von einer schweren Koprolalie befallen: eine Art gesellschaftlicher Infarkt hatte dazu geführt, dass die Mehrheit eine der Vernunft schwer zugängliche, wirre Rede führte. Nichts davon schien seinen Ursprung in der Identität der Bürger zu haben, sondern erweckte den manifesten Eindruck, es sei von außen in sie eingeführt worden. So wie ich mich das ganze Jahr 2023 fühlte.
Medikamentös sediert und postoperativ verstimmt, hatte mich eine depressiv getönte Lähmung erfasst. Sie kam mir wie eine leistungsoptimierte Variante meines Zustandes im März 2020 vor, ein nun persönlich ausgeformtes Lockdownsyndrom, das mich an den Zustand sozialer Vereisung erinnerte, in den wir alle durch eine beklemmende Gegenwart und eine ungewisse Zukunft und eine dazugehörende, den Geist verwirrende Kommunikation geraten waren.

IV. Auflösung

So gesehen zielen die im Text “Überlebensfrage” als Leistung der modernen Soziologie (Heinz Bude) beschriebenen, vorsätzlich ausgelösten Traumata durch “Angstkommunikation”, wie sie das deutsche Inneministerium bei willigen deutschen Wissenschaftlern beauftragt hat, auf Dissoziation, also auf „Auflösung einer geordneten Vorstellungsverbindung oder eines normalerweise vorhandenen Bewusstseinszusammenhangs“.
Dissoziation ist eng verbunden mit Trauma-Erleben, wie es durchaus durch die politisch verfügten Lebensumstände seit 2020 als für die Mehrheit der Weltbevölkerung als gegeben angenommen werden darf.
Der Posttraumatischen Belastungsstörung gehen definitionsgemäß ein oder mehrere belastende Ereignisse von außergewöhnlichem Umfang oder katastrophalem Ausmaß (psychisches Trauma) voran. Dabei muss die Bedrohung nicht unbedingt unmittelbar die eigene Person betreffen, sondern kann auch bei anderen beobachtet und erlebt worden sein (z.  B. als Zeuge eines schweren Unfalls oder einer Gewalttat).
All diesen psychologischen, pharmakologischen und genetischen Prozessen ist eins gemeinsam: dass sie für den Betroffenen im Wesentlichen unmerklich ablaufen mit verschiedenen Graden der Intensität.

Entscheidend für ihre Wirksamkeit und verändernde Kraft ist, ob sie dauerhaft unbemerkt bleiben oder an einem bestimmten Punkt auffällig werden. So auffällig, dass sie in uns Widerstand erzeugen.

Deswegen nimmt derzeit die aktive Beeinflussung der Einstellung eine so zentrale Rolle ein.
Ist die “Einstellung” der Bevölkerung erst einmal erfolgreich gelaufen, sind also Überzeugungen durch gezielte Beeinflussung erst einmal gefestigt, sinkt das kritische Potenzial gegen null.
Ich hoffe, wir wissen, was wir zu tun haben!

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